Biografie von Paul Maar

"Durch meine Frau bin ich Künstler geworden"

13:22 Minuten
30.05.2018, Rheinland-Pfalz, Speyer: Kinderbuchautor Paul Maar nimmt im Historischen Museum der Pfalz in der Ausstellung "Das Sams und die Helden der Kinderbücher" an einer Pressekonferenz teil.
Der Vater war Malermeister im fränkischen Schweinfurt: Das Schreiben wurde dem Kinderbuchautor Paul Maar nicht in die Wiege gelegt. © dpa / Uwe Anspach
Paul Maar im Gespräch mit Andrea Gerk · 14.09.2020
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"Wie alles kam" heißt die Biografie des Sams-Erfinders Paul Maar. Der nunmehr 82-jährige Autor und Zeichner erzählt darin von den schmerzlichen frühen Jahren, einer schwierigen Vater-Beziehung und davon, wie er die Welt der Kunst kennenlernte.
Andrea Gerk: Innerhalb von zwei Monaten sind gleich drei neue Bücher von Paul Maar erschienen: Der zehnte Band seiner Sams-Serie, ein Bilderbuch und die Geschichte seiner Kindheit. "Wie alles kam" heißt die Autobiografie des bekannten, vielfach ausgezeichneten Schriftstellers. Herr Maar, es ist ja kein Geheimnis, Sie sind 82 Jahre, wenn ich richtig gesehen habe, werden Sie im Dezember 83. Was treibt Sie denn da an, so produktiv zu sein?
Paul Maar: Ach, vielleicht ist es sogar ein bisschen die Angst vor dem Alter und vielleicht sogar die Angst, irgendwann dement zu werden. Und ich schreibe so ungefähr gegen das Vergessen an und versuche, meinen Geist fit zu halten. Das ist der eine Grund. Außerdem drängt es mich natürlich dazu, Geschichten zu erzählen.

"Schreiben Sie mal bitteschön Ihre Biografie!"

Gerk: Sie haben gerade gesagt, Sie haben Angst, dement zu werden. Da greife ich mal vor, denn in Ihrem Buch, da schauen Sie nicht nur in die Kindheit, sondern erzählen auch aus Ihrer Gegenwart, aus Ihrem Alltag. Ihr Frau Nele ist an Alzheimer erkrankt, und das sind sehr persönliche, rührende Geschichten, die Sie da erzählen, wie sie sich abends die Hand halten und sich gegenseitig stützen.
Hat Sie diese Erfahrung mit Ihrer Frau, die den Bezug zur Welt verliert, dazu gebracht, sich noch mal so ins eigene Leben zu vertiefen?
Maar: Das war der eine Grund. Den anderen kann ich Ihnen erzählen: Ich hatte vor ziemlich genau einem Jahr eine Herzoperation, ich bekam eine neue Herzklappe. Und ich war dann anschließend drei Wochen in einer Reha-Klinik. Dort hat mich in der ersten Woche unser Sohn, der in Berlin wohnt, besucht und hat seinen Literaturagenten mitgebracht.
Und dieser Agent sagte: Herr Maar, wenn ich Ihr Agent wäre, ich wüsste, was ich als Nächstes Ihnen raten würde. Ich würde sagen: ‚Schreiben Sie jetzt mal nicht ein neues Kinderbuch, das können Sie vielleicht in einem Jahr machen. Jetzt schreiben Sie mal bitteschön Ihre Biografie! Erzählen Sie den vielen Menschen, die Sie als Sams-Autor kennen, wer ist dieser Mensch ist, der das erfunden hat. Die wollen alle gerne wissen, gibt es in seiner Kindheit etwas, was ihn dazu getrieben hat, das Sams zu erfinden?‘
Ich fand das so überzeugend, dass ich noch in den 14 Tagen, die ich noch in der Reha war, schon die ersten 80 Seiten geschrieben hatte.
28.11.2019, Bayern, Bamberg: Die Kinderpflegerin Angela Göppner hält ein Plakat in den Händen, auf das der Kinderbuchautor Paul Maar ein Sams zeichnet. Die Installation einer Sams-Ampel wurde zusammen mit dem Kinderbuchautor Maar eingeweiht. 
Paul Maar verlor früh die Mutter und litt unter einem vom Krieg traumatisierten Vater. Mit der Geschichte vom Sams aber hat er Millionen Kinder zum Lachen gebracht.© dpa / Nicolas Armer
Gerk: Und das sind ja manchmal so ganz verträumte Episoden, es ist nicht ganz chronologisch erzählt. Sie schreiben auch, dass Erinnerungen für Sie kein großer Fluss sind, sondern mehr so kleine Pfützen wie nach einem starken Regen.
Wie haben Sie sich da auf diese Zeitreise begeben? Was hat Ihnen geholfen, zum Beispiel noch mal den Geruch der Gaststätte vom Opa Schorsch in die Nase zu bekommen?
Maar: Ich bin ein Mensch, der sehr viel durch die Nase aufnimmt. Ich sage es mal so: Gerüche sind für mich wichtig und mit Erinnerung verbunden. Und ich konnte natürlich diese Gerüche nicht in der Reha erzeugen, aber ich konnte die Erinnerung an diese Gerüche erzeugen.
Und dann kam sofort die Gaststube meiner Großeltern, in der ich meine Kindheit verbracht habe. Der Geruch nach kaltem Rauch, weil dort die Schafkopf-Kartenspieler am Sonntagabend den ganzen Raum gefüllt haben mit ihrem Zigarrenrauch. Die Oma hat zwar die Fenster aufgerissen und alle Asche entsorgt, aber der Geruch blieb, der haftete in den Vorhängen. Und schon war dieses Gasthaus und die Gaststube und die Werkstatt meines Großvaters, die daneben war, wieder in meinem Kopf und in meinem Gedächtnis.

Der Großvater gab den Anstoß

Gerk: Wir müssen vielleicht auch mal erklären, das spielt ja in einem ganz kleinen Ort, in Obertheres bei Haßfurt, das wiederum ist bei Schweinfurt. Ich kenne die Gegend sehr gut, weil man Vater auch daher kommt. Und das ist ja schon so eine ganz besondere, ja, Szenerie, die Sie da beschreiben.
Sie selbst sind 1937 in Schweinfurt zur Welt gekommen. Und Sie hatten es nicht so leicht als Kind. Ihre Mutter starb wenige Wochen nach Ihrer Geburt, Ihr Vater war im Krieg. Sie zogen dann mit der Stiefmutter und der Oma Retel eben zu diesen Eltern Ihrer Mutter in die Wirtschaft. Der Opa, der hat ja auch gerne Geschichten erzählt, und Sie haben zugehört, hat Sie das auch zum Geschichtenerzählen animiert, was denken Sie?
Maar: Ich denke schon, das war sicher so ein Anstoß. Mein Großvater war ein runder Mensch und zwar in jeder Beziehung, sowohl vom Charakter her, er war immer fröhlich, immer gut aufgelegt, auch von seinem Leibesumfang her.
Und er arbeitete neben dem Gasthaus in einem Anbau in seiner Werkstatt. Er machte Fässer, er war Böttcher. Und ich saß immer auf einem großen Haufen Hobelspähne, das duftete schön nach frischem Holz und Harz. Und während er dort hobelte oder manchmal auch dasaß und wartete, bis der Leim zwischen zwei Brettern endlich getrocknet war, hat er mir meistens Geschichten erzählt und hat mich auch angeregt, selber kleine Geschichten zu erfinden. Und er hat die dann sehr gelobt, obwohl sie damals wahrscheinlich ziemlich primitiv und einfach waren. Also, er war ein bisschen ein Anstoß.

Schwieriges Verhältnis zum Vater

Gerk: Ihr Buch ist aber ja nicht zuletzt auch ein Buch über Ihren Vater und über das ja durchaus sehr schwierige Verhältnis zu ihm. Ihr Vater war im Krieg, er ist dann quasi als Fremder wieder in die Familie zurückgekommen. Wie war das für Sie? Ist diese Fremdheit geblieben?
Maar: Das war ein schwieriges Verhältnis. Und es gibt eigentlich zwei Vaterbilder: Der Vater, der mich in meiner frühen Kindheit begleitet hat, das war ein liebenswerter Vater, der mit mir schwimmen und baden gegangen ist, der sich an dem kleinen Jungen gefreut hat – das heißt, nicht so sehr an dem kleinen Jungen, eigentlich hat er sich ein Mädchen gewünscht. Und er hat aus mir, wenn man so will, ein Mädchen gemacht.
Er hat meine Haare lang wachsen lassen, ich hatte schulterlange blonde Haare. Und wenn wir da auf der Wiese saßen, kamen oft Frauen vorbei und haben das kleine Engelchen bewundert, dass es so ein hübsches Mädchen sei.
Gerk: Das hat ihm dann ja auch nicht gefallen, da hat er dann auch mal die Hose runtergezogen.
Maar: Ja, um zu beweisen, dass es kein Mädchen ist. Das war der liebevolle Vater. Dann war er sechs, sieben Jahre weg, und ich hatte ihn völlig vergessen, weil irgendwann, wenn man mit vier Jahren zuletzt den Vater sieht und dann in einer ganz anderen Umgebung groß wird... Dann kam plötzlich ein Mann, stand vor der Tür, und ich frage meine Mutter, meine Stiefmutter: Wer ist das denn? 'Ja, das ist doch dein Papa, gib ihm doch einen Kuss!'

Kein Gedächtnis an die verstorbene Mutter

Und, ja, ich habe ein bisschen Schuld daran, dass unser Verhältnis nicht von Anfang an ideal und harmonisch war, denn ich hatte so ein enges Verhältnis zu meiner Mutter. Ich habe sie nie als Stiefmutter betrachtet. Ich habe sie fast als Säugling zum ersten Mal gesehen und ich hatte kein Gedächtnis an meine echte, verstorbene Mutter. Ich hatte ein inniges Verhältnis zu meiner Mutter, wir haben im gleichen Zimmer, zwar nicht im Doppelbett, aber im gleichen Zimmer geschlafen, uns abends lange unterhalten. Ich konnte ihr alles erzählen, und sie hat auch ein bisschen aus ihrer Kindheit erzählt.
Und nun kommt plötzlich dieser Mann, schiebt die beiden Betten zusammen, macht da wieder ein Doppelbett. Und ich werde in so eine Art Rumpelkammer ausgemustert, könnte man fast sagen, wo die Fahnen des Turnvereins aufbewahrt waren und alte Bierkästen, das hat man weggeräumt, noch ein Bett reingestellt. Und ich war sauer auf diesen Mann, der mich von meiner Mutter getrennt hat, der plötzlich kam und unsere Idylle gestört hat!
Ich habe ihm die kalte Schulter gezeigt, ich habe nicht mal mit ihm gesprochen. Und er hat diese Ablehnung gespürt. Und eigentlich hat er sich so auf seinen Sohn gefreut, weil er ihn in Erinnerung hatte, wie er ihn damals vor sechs Jahren verlassen hat. Und das hat ihn so gekränkt, außerdem ist er sowieso ziemlich verstört und traumatisiert aus der Gefangenschaft zurückgekommen, dass unser Verhältnis ab da eigentlich sehr, sehr, sehr schwierig war.

Die Familie der Frau – eine andere Welt

Gerk: Das ist ja ein Drama, was eigentlich Ihre ganze Generation oder sehr viele aus dieser Generation erlebt haben mit den entweder gar nicht zurückkehrenden Vätern oder eben vollkommen veränderten Vätern. Ist das Buch auch, ich hatte am Schluss das Gefühl, schon auch eine Möglichkeit gewesen, sich damit zu versöhnen?
Maar: Ja. Wobei ich sagen muss, ich gebe mir ein bisschen die Schuld, dass … Ich fange mal anders an: Als ich dann so quasi der berühmte Sohn war, der in allen Zeitungen stand durch meine Bücher, da versuchte er wieder so eine Annäherung. Und ich habe die eigentlich nicht so richtig zugelassen, weil ich ihm nicht verzeihen konnte, dass er mich als Kind derart gedemütigt und geschlagen hat.
Es wäre an mir gewesen, zu sagen: 'Also Papa, wir haben ein schlechtes Verhältnis, aber weißt du, das liegt halt daran, dass du mich als Kind immer so gehauen hast.' Und dann hätte er wahrscheinlich gesagt: 'Na ja, das haben doch alle Väter gemacht damals, das war doch üblich.' Dann wären wir ins Gespräch gekommen, und die Annäherung hätte stattgefunden. Das mache ich mir zum Vorwurf, dass ich dieses Gespräch nicht gesucht habe.
Gerk: Sie erzählen dann auch, wie Sie als 18-jähriger Gymnasiast Ihre Frau Nele kennengelernt haben und da in eine vollkommen andere Welt hineingekommen sind. Ihre Frau stammt aus einer Theaterfamilie, auch dort aus dieser Gegend. Was hat das bei Ihnen ausgelöst?
Maar: Ich habe übrigens meine Frau vorher gefragt, ob ich von ihrer Erkrankung erzählen darf. Und als sie noch ein bisschen besser drauf war, hat sie gesagt: 'Ja, du darfst.' Das Buch heißt "Wie alles kam" und es erzählt auch, wie es kam, dass ich durch meine Frau eigentlich Autor, wenn man so will, Künstler geworden bin. Denn wenn meine Frau nicht gewesen wäre, wäre aus mir vielleicht der Nachfolger meines Vaters, ein Malermeister im fränkischen Schweinfurt, geworden, der dadurch bekannt ist, dass er die Hausfassaden besonders schön verziert und ab und zu Kunst am Bau machen kann.
Durch die Bekanntschaft, durch die Freundschaft und die Liebe zu meiner Frau kam ich in ein anderes Milieu. Ich merkte plötzlich, als ich mit den Schauspielern zusammensaß, mit dem Regisseur oder dem Bühnenbildner am Nachmittag Tee trank, und die erzählten von Büchern, von denen ich noch nicht mal gehört hatte, und von Malern, die ich nur entfernt kannte – ich interessierte mich schon immer für Malerei –, da merkte ich plötzlich, das ist meine Welt, da will ich hin. Ich möchte schreiben, ich möchte ein Bühnenbild machen. Mein zukünftiger Schwiegervater hat mich auch sehr unterstützt, und ich durfte schon ein erstes Bühnenbild machen, und es wurde sehr gelobt, und ich war sehr stolz.

Die Trauer des Vaters verstanden

Gerk: Ich stelle mir vor, wenn man eine Geschichte wie das Sams erfindet, dann entfernt man sich eher von sich selbst. Und mit dem Buch sind Sie ja quasi in Ihr Inneres hineingestiegen. Wie war das, wie hat das auch noch mal Ihren Blick darauf verändert?
Maar: Es war zum Teil sehr schmerzhaft, muss ich sagen, und ich musste innere Widerstände überwinden, um mich auf bestimmte Erinnerungen einzulassen. Zum Beispiel haben ich zum ersten Mal begriffen und versucht, die Trauer und die Wut meines Vaters nachzuempfinden, als er seine junge Frau, die er noch ein Jahr vorher geheiratet hat, also eine junge Ehe mit ihr geführt hat, die ihm seinen ersten Sohn geschenkt hat, die er dann verloren hat, kaum dass das Kind auf der Welt war. Wie groß muss seine Trauer gewesen sein, das konnte ich plötzlich nachempfinden. Also, ich hatte ein anderes Verhältnis zu meinem Vater durch die Erinnerung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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