Biografie

Schuldbewusster Sündiger

Von Ralph Gerstenberg · 26.01.2014
Dem Historiker Johannes Fried ist eine überzeugende Biografie Karls des Großen gelungen. Anschaulich beschreibt er die Lebensbedingungen des Mittelalters und stellt uns eine Version des Karls vor. Denn, so Fried, jede Biografie müsse Fiktion sein.
An den Anfang seines Buches über Karl den Großen stellt Johannes Fried ein Erinnerungsbild, das zirka zehn Jahre nach Karls Tod am Hof seines einzigen ihn überlebenden Sohnes und Thronfolgers, Ludwig dem Frommen, kolportiert wurde: Ein Mann steht im strömenden Regen, der ihn nicht reinzuwaschen vermag, während ein Untier sein Geschlecht zernagt, das immerfort nachwächst, um erneut zerfressen zu werden. Das Bild eines sündigen Büßers, das niemand anderen darstellt als den mächtigsten Herrscher des Mittelalters: Karl den Großen.
"Der sündige Karl, der tatsächlich sein Leben lang nicht gerade keusch gelebt hat mit zehn Frauen, fünf Ehefrauen, fünf anderen, vielleicht sogar noch mehr, das wissen wir nicht, aber zehn Frauen sind nachgewiesen durch seinen Biografen. Es ist ein munteres Leben gewesen. Auf der einen Seite denkt er an die Religion und will der Religion gemäß leben, aber auf der anderen Seite bricht er ständig ihre Gebote. Zum Beispiel auch im Blick auf seine Ehen. Das Eherecht ist ja kirchlich bestimmt und schreibt zum Beispiel vor, dass zu Lebzeiten einer früheren Gemahlin keine neue Ehe eingegangen werden darf. Karl der Große hatte zwei frühere Gemahlinnen, die er im Stich gelassen hat, um die dritte zu ehelichen."
Die Angst vor dem Jüngsten Gericht war durchaus eine Triebfeder für Karl den Großen. So kann man bei Johannes Fried nachlesen, wie der für seine Polygamie ebenso wie für seine Gewaltbereitschaft bekannte Herrscher in dem Wissen, dass ihm nicht nur das eigene Sündenregister, sondern auch die Untaten seiner Untertanen angelastet würden, in seinen letzten Lebensjahren alles daran setzte, die Tugendhaftigkeit seines Strebens zu betonen. In der Sorge, dass in schlechtem Latein vorgebrachte Gebete im Jenseits niemanden erreichten, startete er eine für die damalige Zeit einzigartige Bildungsoffensive, mit der er das kulturelle Erbe der Antike wiederzubeleben versuchte.
"Deswegen verlangt er von seinen Klerikern ordentliches Latein, sehr gutes Latein. Und er lässt sie schulen in der ciceronianischen Rhetorik und lässt sie schulen in der aristotelischen Dialektik. Und selbstverständlich lernen sie auch Grammatik, sie vervollkommnen sich in der Sprache. Aber der Hauptgrund für diese Qualitätssteigerung ist religiös."
Einflussreicher Biograf Einhard
Einer der Gelehrten, die Karl der Große im Zuge seiner Bildungsreform an seinen Hof holte, war der fränkische Klosterschüler Einhard, der später die erste Biografie des Kaisers schreiben sollte, die „Vita Karoli Magni“. Jeder nachfolgende Biograf orientierte sich an dieser Schrift Einhards, dem wiederum die Kaiserbiografien des römischen Schriftstellers Sueton aus dem 2. Jahrhundert als Inspirationsquelle dienten.
"Die geht so weit, dass man fast jeden Satz bei Einhard irgendwo in den Kaiserbiografien des Sueton vorgeformt findet, nicht unbedingt wortwörtlich, aber inhaltlich. Ich bin einmal dieser einen Variante ausführlicher nachgegangen, der Variante nämlich, dass es in der Augustus-Vita heißt: 'Augustus war beim Essen maßvoll, er hat nur dreimal am Tag Speisen zu sich genommen.' Und bei Karl dem Großen heißt es wiederum: 'Karl war beim Essen maßvoll, er hat nur viermal am Tag gespeist.'“
"Historiker müssen wie Literaten imaginieren"
Natürlich ist Johannes Fried, der sich seit vierzig Jahren mit der karolingischen Ära beschäftigt, klar, dass eine solche Schrift, die zur Idealisierung der Taten eines Herrschers geschaffen wurde, als historische Quelle durchaus problematisch ist. Überhaupt gebe es viel zu wenig konkrete Hinweise zur Person Karls, auf die sich ein heutiger Biograf stützen könne, um daraus ein vollständiges Bild zu entwerfen, meint Fried. Die Kindheit des Karolingers liege vollständig im Dunkeln, nicht einmal sein Geburtsdatum sei bekannt. Konsequent weist Johannes Fried den Leser gleich mit dem ersten Satz darauf hin, dass es sich bei seiner Biografie über Karl den Großen um eine Fiktion handele.
"Wir können nicht anders! Wir Historiker müssen ähnlich wie Literaten imaginieren. Wir holen unsere Imagination aufgrund von splitterhaften Informationen aus der Vergangenheit und versuchen sie zu einem Ganzen zu ergänzen, zu einem Leben, zu einer Lebensführung, zu einer Lebenslinie zu ergänzen. Das trägt immer fiktionale Züge. Auch wenn wir eine Realität im Sinn haben, aber wir kommen an die fremde Realität gar nicht mehr heran. Ich kann keinen Karl erfassen. Ich erfasse immer nur Splitter. Und aus diesen Splittern versucht man als Historiker ein ganzes Bild, ein Lebensbild, ein Menschenbild, ein Zeitpanorama zu entwickeln."
Das Bild, das Johannes Fried auf gut 700 Seiten entwirft, ist ein Epochengemälde im Breitwandformat. Der Historiker beschreibt nicht nur die historischen Ereignisse, die Feldzüge, die Machtkämpfe, die Kaiserkrönung etc., sondern vor allem auch die Umstände und Lebensbedingungen, unter denen diese stattfanden. Wer sein Buch liest, bekommt beispielsweise ein Gefühl dafür, was es unter damaligen Verhältnissen bedeutete zu reisen, unterwegs zu sein in einem Reich, das sich von der Elbe bis hinter die Pyrenäen erstreckte, von Friesland bis nach Rom.
"Wir heute ärgern uns schon, wenn die Straßen ein paar Schlaglöcher im Frühjahr bekommen haben und die nicht schnell genug geflickt und Asphaltdecken drüber gelegt werden. Im Mittelalter, in der Zeit Karls des Großen, gab es nur ungepflasterte Wege. Und die paar Römerstraßen, die noch in Funktion waren, verrotten langsam. Die meisten Wege sind im Frühjahr, im Herbst, wenn es viel geregnet hat, Schlammwüsten. Und man muss schauen, wie man durchkommt. Am besten reist man im Winter, wenn der Boden gefroren ist."
Überzeugende Darstellung
Auch in der Darstellung politischer Entscheidungen und Handlungsstrategien Karls des Großen gelingt Johannes Fried eine überzeugende, nachvollziehbare und in ihrer Kompliziertheit begreifbare Veranschaulichung von Zusammenhängen. „Gewalt und Glaube“ untertitelt er seine Biografie und weist damit auf die beiden beherrschenden Elemente in der Politik Karls des Großen hin. In der heutigen Zeit wird der Herrscher des Frankenreiches vor allem als Gründer des abendländischen Europas gefeiert. So prägte der Zeitgeist jeder Epoche das Bild, das man sich von dem in Aachen beigesetzten Kaiser machte. Johannes Fried geht noch einen Schritt weiter. Kein Karl der Große gleiche dem anderen, heißt es in seiner Biografie, jedes Bild, das man sich von ihm mache, könne nur eine Annäherung sein.

Johannes Fried: Karl der Große - Gewalt und Glaube. Eine Biografie.
C.H. Beck Verlag
736 Seiten, 29,95 €