Biografie einer unbeugsamen Frau

30.04.2012
Als junge Ärztin und Mitglied der deutschen Beobachtermission während der Nürnberger Prozesse dokumentierte Alice Ricciardi-von Platen die Massenmorde an Psychatriepatienten und behinderten Menschen. Bis ins hohe Alter mischte sie sich kritisch in aktuelle medizin-ethische Debatten ein. Reinhard Schlüter hat ihr bewegtes Leben nun aufgeschrieben.
Unter der Tarnbezeichnung "E-Aktion" wurden in den Jahren 1940 und 1941 mehr als 70.000 Psychiatriepatienten und behinderte Menschen in Tötungsanstalten verfrachtet. Dort hat man sie mit Kohlenmonoxid vergiftet und verbrannt - nicht ohne ihnen vorher die Goldzähne herausgebrochen zu haben, die von der Firma Degussa zu Feingold umgeschmolzen wurden. Später gingen die Morde dezentral weiter, mit insgesamt 300.000 Opfern.

Die erste Dokumentation über diesen Massenmord erschien bereits 1948. Die Autorin, eine junge Ärztin, war Mitglied der deutschen Beobachterkommission der Nürnberger Prozesse gegen NS-Ärzte und -Pflegepersonal. Die Lebensgeschichte der Alice von Platen-Hallermund wird nun in dem Buch "Leben für eine humane Medizin" nachgezeichnet. Es ist die Biografie einer mutigen Frau, die unbestechlich bis ins hohe Alter dafür eintrat, dass allein Heilung und Pflege des einzelnen Menschen Leitlinie ärztlichen Handelns sein könne. Auf dieser ethischen Grundlage positionierte sie sich später auch kritisch in den Debatten um eine moderne gentechnische Optimierung des Menschen oder ärztlich assistierte Sterbehilfe.

Die vielen Stationen in dem an persönlichen Wechselfällen reichen Leben seiner Protagonistin arbeitet Reinhard Schlüter solide recherchiert Punkt für Punkt ab. Zu größerer Form läuft er allerdings erst beim Thema Nürnberger Prozesse auf. Mit großer Klarheit, so erzählt der Autor, begreift die Ärztin schon kurz nach Beginn der Gerichtsverhandlungen, dass der Mord an behinderten Menschen in den Hintergrund zu rücken drohte im Vergleich zu anderen Verbrechen der NS-Ärzte. Ihre Empörung darüber bewegte sie zu der eigenen Dokumentation; zumal der Leiter der Beobachterkommission, Alexander Mitscherlich, ihren Namen - offenbar aus männlicher Überheblichkeit - in dem offiziellen Prozessbericht "Das Diktat der Menschenverachtung" schlicht unterschlägt.

Das Schicksal beider Werke verlief ähnlich, wie Reinhard Schlüter beklemmend schildert: Sie verschwanden in den Aktenschränken der Ärztevertreter der Nachkriegszeit, ohne an die Kollegen weitergereicht zu werden. Von den dreitausend gedruckten Exemplaren des Buches von Alice von Platen-Hallermund gelangten gerade einmal zwanzig Stück in Umlauf. Die Zunft wollte von ihren vielfältigen Verstrickungen nichts mehr wissen. Dass die vielen hundert Mittäter der ärztlichen Grausamkeiten gerichtlich nie belangt wurden - auch das hat Alice von Platen-Hallermund zeitlebens erzürnt, berichtet ihr Biograf.

Noch hoch betagt leitete die Ärztin, nun als Alice Ricciardi- von Platen, Gruppenanalysen, eine psychoanalytische Sparte, die sie mit begründet hat. Am Ende fielen ihr bei den Sitzungen gerne mal die Augen zu, oft schlief sie auch ein - soll jedoch, wie ihre Analysanden augenzwinkernd kolportierten, stets mit der perfekten Deutung auf den Lippen wieder aufgewacht sein. Im Februar 2008 starb sie im Alter von 97 Jahren - nach einem aufrechten Leben, über das zu lesen sich lohnt.

Besprochen von Susanne Billig

Reinhard Schlüter, Leben für eine humane Medizin: Alice Ricciardi-von Platen - Psychoanalytikerin und Protokollantin des Nürnberger Ärzteprozesses
Campus Verlag, Frankfurt/M., 261 Seiten, gebunden, 29,90 Euro