Binationale Herkunft wird in Deutschland "nicht als Gewinn angesehen"

Alice Bota im Gespräch mit Susanne Führer · 02.10.2012
Wut über einen Integrationsdiskurs, "der über unsere Köpfe hinweg geführt wird", empfindet Alice Bota. Die in Polen geborene Journalistin und ihre Ko-Autorinnen beklagen in einem Manifest der "neuen Deutschen" die fortdauernde Herabsetzung von Migrantenkindern.
Susanne Führer: Alice Bota ist Redakteurin der "Zeit", sie hat gerade gemeinsam mit zwei Kolleginnen, mit Özlem Topçu und Khuê Pham das Buch geschrieben "Wir neuen Deutschen". Alice Bota nennt sich eine neue Deutsche, weil sie mit acht Jahren aus Polen nach Deutschland kam. Guten Tag, Frau Bota!

Alice Bota: Hallo, ich grüße Sie!

Führer: Sie alle drei stehen doch – wie kaum jemand sonst – für die positive Seite der deutschen Zuwanderungsgesellschaft: drei studierte Frauen, Redakteurinnen bei einer sehr angesehenen Zeitung. Aber der Auslöser für das Buch war ein Gefühl der Wut, lese ich dort. Wut worauf, auf wen?

Bota: Wut auf einen Diskurs, der über unsere Köpfe hinweg geführt wird – so haben wir das zumindest empfunden –, und Wut darüber, was für Erfahrungen wir in dieser Zeit, als wir nach Deutschland gekommen sind oder eben hier aufgewachsen sind, gemacht haben. Wir haben also alle drei sehr unterschiedliche Hintergründe, wir kommen aus sehr unterschiedlichen Familien. Die eine von uns ist ein Kind von Arbeitern, die andere kommt aus einer Bildungsbürgerfamilie, meine Eltern wiederum sind Akademiker, die hier in Deutschland noch mal ganz von vorne anfangen mussten.

Und wir haben gemerkt, dass wir in unserem Leben immer wieder Herabsetzungen erlebt haben. Sei es, weil unsere Eltern gemeint waren – die sind da sehr viel toleranter gegenüber gewesen, wenn sie mit gebrochenem Deutsch angesprochen worden sind, wenn man sie einfach so geduzt hat, wenn man sie beschimpft hat. Aber wir, die uns als Deutsche fühlen, wir schnappten eben all diese kleinen Demütigungen auf und merkten sie uns und wurden dann eben wütend, als wir feststellten, wie der politische Diskurs über Integration und Migranten in Deutschland geführt wird.

Führer: Nämlich?

Bota: Ich finde, es fehlt ein Wort der Anerkennung darüber, in was für einer Situation migrantische Familien sich oft befinden. In meinem eigenen Leben war es so, dass meine Eltern 1988, also ein Jahr bevor die Mauer fiel, illegal ausgereist sind. Sie haben zwei Koffer gepackt, uns Kindern nichts gesagt, und fingen dann in Deutschland ganz neu an, im Alter von 37, 38 Jahren. Und es war ein gewaltiger Schock für die ganze Familie, und es hat eine ungeheuerliche Wucht, dieser Neuanfang, der Aufbruch, die Angst: Wird man das schaffen oder nicht? Keiner von uns sprach Deutsch. Wie funktioniert das mit den Behördengängen, wo melde ich die Kinder an, wo kriege ich einen Sprachkurs her, was ist, wenn wir die Miete nicht bezahlen können? All diese Fragen, die uns existenziell auch bedroht haben.

Und ich glaube, in diesem Diskurs macht man sich nie darüber Gedanken, was es eigentlich bedeutet, wenn sich jemand entscheidet zu gehen. Und dann fiel uns eben auf, dass sich dieser Diskurs immer entlang von Negativbeispielen verhält: Wer ist gescheitert, wer hat es nicht geschafft? Und sobald diese Beispiele widerlegt werden durch positive, heißt es, ja, aber ihr seid nicht gemeint, also um euch geht es doch nicht. Und ich kann nur sagen: Doch, wir sind eben auch mit gemeint.

Führer: Ihre Familie hat ja unglaubliche Anstrengungen unternommen, das zu tun, was ja heute immer gefordert wird, nämlich sich zu integrieren. Ihre Eltern, obwohl Sie sagten, bis heute sprechen sie kein perfektes Deutsch, sprechen Deutsch untereinander, haben mit Ihnen Deutsch gesprochen zu Hause. Was bedeutet es eigentlich, wie würden Sie das beschreiben, Frau Bota, was heißt es, Integration, was bedeutet es, sich zu integrieren?

Bota: Ich glaube, das ist eine Frage, die sich nicht klar beantworten lässt. Ich frage mich auch, ist eigentlich jemand integriert, der beispielsweise gebrochen deutsch spricht, ein türkischer Vater, aber seinen Kindern eine gute Ausbildung ermöglicht? Oder ist jemand integriert, der erfolgreich ist und schließlich beschließt, seinen Namen aufzugeben, wie das bei mir ja auch der Fall war?

Führer: Das müssen Sie kurz erläutern mit dem Namen.

Bota: Meine Familie kam 1988 hierher, und alle unsere Namen sind eingedeutscht worden. Ich krieg bis heute nicht ganz auseinander, ob das der Wunsch der Behörden war oder auch die Hilflosigkeit meiner Eltern, aber aus meinem Namen Alicia wurde eben Alice und der Namen meines Vaters Jiri wurde zu Georg, und das ist sozusagen so gesehen die perfekte Integration. Ich empfinde es aber …

Führer: Es ist ja fast schon Assimilation.

Bota: Genau. Und die Grenzen sind eben fließend. Und ich hab den Eindruck, dass in Deutschland Integration eigentlich immer noch als Assimilation verstanden wird. Dieser Anspruch wird ja auch oft formuliert – das hat Herr Sarrazin in seinem Buch ganz klar so benannt, das hat Herr Schily, damals noch Innenminister, ganz klar so benannt. Man soll also wirklich so wenig wie möglich auffallen, und das ist eigentlich ein zutiefst verstörender Vorgang, weil man ja eigentlich dann denjenigen, der sich assimilieren will, weil er wirklich dazugehören will, dazu auffordert, einen Teil seines Lebens in seiner Familiengeschichte zu negieren, zu verleugnen. Und das kann eben nicht der Weg sein.

Führer: Ich spreche im Deutschlandradio Kultur mit der "Zeit"-Journalistin Alice Bota. Sie haben gerade gesagt, Frau Bota, man sollte nicht auffallen. Mir ist bei der Lektüre Ihres Buches aufgefallen wiederum, wie sehr sich Ihr Verhältnis zu Ihrer polnischen Herkunft über die Jahre verändert hat, also geradezu rasant. Erst haben Sie sie quasi vollkommen verleugnet, zu Hause wurde, wie gesagt, nur Deutsch gesprochen, dann waren Sie als junge Erwachsene, haben Sie sich doch wieder hingewendet zu Polen, haben Seminare belegt, es studiert, auch zur Sprache. Und ganz am Ende, so habe ich es zumindest verstanden, früher war das für Sie immer so ein Makel – ich habe polnische Eltern, ich bin in Polen geboren –, und ganz am Ende haben Sie diesen Makel als ein Mehr angesehen und zum Beispiel bei Bewerbungsgesprächen dann ganz gezielt eingesetzt, gesagt, übrigens, ich spreche Polnisch. Das klingt für mich so wie eine Versöhnung mit der eigenen Geschichte.

Bota: Ja, ich glaube auch, dass dieses Buch ein Stück weit Versöhnung bedeutet hat. Ich hab auch viel mit meinen Eltern gesprochen für dieses Buch, und es waren auch sehr lustige, aber auch sehr schmerzhafte und traurige Gespräche darüber, was wir eigentlich erlebt haben. Und es war das erste Mal, dass wir uns zusammengesetzt haben und darüber gesprochen haben, was ihnen eigentlich widerfahren ist und wie wir Kinder auch diese Jahre erlebt haben. Also es war erst über 20 Jahre später möglich, darüber zu reden. Und für mich war das ein, ja, ein schleichender Prozess, der sich aus vielen Erfahrungen speiste.

Ich war für ein Jahr in den USA mit 16 und machte die Erfahrung, dass man dort auf meine Herkunft ganz anders blickt. Ich merkte auch, dass es in Deutschland Förderungen gibt für Menschen wie mich und die das ganz beachtlich fanden, dass da ein achtjähriges Kind ist und Deutsch lernt und die deutsche Literatur zu lieben beginnt. Ich hab ja auch Neuere Deutsche Literatur studiert. Und ich merkte, hey, das kann gar nicht so schlecht sein, was ich da mitbringe. Und ich glaube, begleitet ist es aber eben auch von einem Imagewechsel des Landes selbst, und das beweist für mich eben, wie willkürlich die Kategorien Fremdsein oder Nicht-Fremdsein sind. Als ich in den 80er-Jahren, Ende der 80er-Jahre, in den 90er-Jahren hierherkam, da hatten die Polen einen katastrophalen Ruf. Und ich kenne sehr viele, die den gleichen Weg …

Führer: "Kaum gestohlen, schon in Polen".

Bota: Genau. Und ganze Sendungen, die damit gefüllt worden sind. Ich kenne sehr viele, die so einen Weg gewählt haben wie ich, und dieses Image hat sich komplett gewandelt in den letzten zehn Jahren. Heute ist Polen eben ein erfolgreiches Land, und ich merke, dass man Polen in Deutschland auch ganz anders begegnet, also auf Augenhöhe.

Führer: Also es kommt schon auch darauf an, wo man herkommt. Ich hab mich bei der Lektüre des Buches auch gefragt, ob zum Beispiel Franzosen oder Amerikaner, die jetzt hier nach Deutschland gezogen sind, dieselben Probleme hätten, sowohl von außen gesehen als auch von innen. Wahrscheinlich nicht.

Bota: Ich glaube auch nicht. Also ich möchte jetzt niemandem Schwierigkeiten hier absprechen, aber es gibt ja schon diesen Kurs eigentlich: Je fremder man ist, desto schlechter die Währung.

Führer: Oder je ärmer man ist, wahrscheinlich eher.

Bota: Das geht miteinander einher, ja. Und zu Frankreich und den USA schaut man eher auf, zu Schweden auch, zu Polen, Russen, Rumänen, Bulgaren schon weniger. Aber mein Vorteil, das klingt jetzt makaber, aber mein Vorteil war, dass ich abtauchen konnte in der Masse.

Führer: Dass man Ihnen das nicht ansah?

Bota: Genau, man hört es mir …

Führer: Anders als Ihren Kolleginnen Khuê Pham und Özlem Topçu.

Bota: Ja, und das ist irgendwie auch das Absurde, die haben ja eigentlich nichts Fremdes. Sie kommen aus Familien, die vietnamesisch sind und türkisch, aber sie sind hier geboren, und ich bin als Einzige von uns dreien wirklich woanders aufgewachsen, und trotzdem habe ich das Gefühl, dass das Fremdsein an mich viel weniger herangetragen wird, weil meine Haut hell ist, weil meine Augen blau sind und weil mein Name nicht so fremd klingt, also praktisch, als ob ich aus England komme, aber nicht als ob ich aus Polen, Russland oder sonst woher komme.

Das ist bei den anderen beiden anders, und es betrifft, glaube ich, eine ganz, ganz große Gruppe, die Namen haben, die anders klingen, die anders aussehen, als man vermeintlich meint, dass Deutsche aussehen, und die damit konfrontiert werden: Wo kommst du eigentlich her, du sprichst doch aber sehr gut Deutsch dafür, dass … Dabei sind die ebenfalls in Deutschland geboren und fühlen sich womöglich als Deutsche. Und so entsteht, glaube ich, auch dieses Gefühl der Entfremdung.

Führer: Also für Sie ist nicht Integration eine Utopie, sondern eben eine Gesellschaft, und das Vorkommen, wo man darüber gar nicht mehr spricht, wo kommst du her. Hab ich Sie richtig verstanden? Das steht zumindest am Ende so: Sie wollen ein Deutschland, dem das Wort Migrationshintergrund aus dem Wortschatz gestrichen wird und niemand auf die Idee käme, die Menschen, die Statistik nach der Nationalität der Eltern aufzudröseln.

Bota: Ja, das ist richtig. Ich glaube aber auch, also aus meiner Sicht kann ich auch sagen, dass es für mich sehr wichtig ist, diesen Teil meiner Familiengeschichte zu haben.

Führer: Eben, da wollte ich fragen, man könnte doch auch stolz darauf sein, warum soll man es verschweigen? "Leute, ich hab zwei Kulturen in mir". Ich beneide Sie.

Bota: Aber das eine ist eben, ob ich zwei Kulturen in mir habe und ich das Gefühl habe, es ist gesellschaftlich akzeptiert oder sogar förderlich, und das andere ist eben, ob Statistiken, insbesondere Statistiken über Straftäter, danach aufgedröselt werden, ob jemand einen Migrationshintergrund hat oder nicht. Das geht sogar soweit, dass ein Oberstaatsanwalt in Bayern eine Statistik über Intensivtäter so weit aufgedröselt hat danach, ob jemand ausländische Eltern hat oder nicht, und sei es nur ein Elternteil, dass am Ende eben das Resultat hatte, das er wollte, nämlich, alle Intensivtäter haben einen Migrationshintergrund, und deshalb ist das ein Problem. Und darum geht es mir eben.

Migrationshintergrund ist ein Wort, das vieles kaschiert, nämlich dass eine binationale Herkunft oder eine andere Kultur, die man hier ebenfalls leben möchte, nicht als ein Gewinn gesehen wird, sondern eher noch als ein Makel und als etwas, dem man sehr misstrauisch begegnet. Und ich hoffe eben oder das ist nun meine konkrete Utopie, ich hoffe wirklich sehr, dass das wahr wird, und bin aber auch optimistisch, was das angeht, dass sich das eben ändert, also dass jemand eine andere Person kennengelernt, die türkische Eltern hat, und es geht nicht damit einher, Mensch, du sprichst aber gut Deutsch, oder dass man eben geduzt wird oder in gebrochenem Deutsch angesprochen wird oder bei der ersten Auseinandersetzung, wo es heißt, die sollen zurückgehen, wo sie herkommen.

Führer: Frau Bota, wir sind beide hoffnungsvoll, dass sich das ändert. Ich danke Ihnen für das Gespräch. Alice Bota ist Redakteurin der "Zeit" und eine der Autorinnen des Buches "Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen". Und morgen hören Sie in dieser Reihe nach den 11-Uhr-Nachrichten zum Thema Integration hier im "Radiofeuilleton" die Brüder Sadinam, Autoren des Buchs "Unerwünscht. Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre Geschichte".

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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