Bildung

Die weniger einfachen Fragen der Ökonomie

Von Andre Zantow · 06.02.2014
Ein paar Studenten in Berlin wollen sich nicht mit ökonomischem Halbwissen abfinden. Sie halten die gängige Lehre in BWL und VWL für zu eindimensional. Deshalb organisieren sie seit mehr als einem Jahr selbst Lehrveranstaltungen an ihrer Uni, laden Redner ein und diskutieren über die Frage: "Was ist Ökonomie?". Denn trotz Finanzkrise geht es an deutschen Hochschulen oft weiter wie zuvor.
Lisa ist auf dem Weg zum Raum 22. Der Flur der sonst so geschäftigen Humboldt-Uni ist fast leer, die meisten sind schon zuhause. Auch Lisa sollte am eigenen Schreibtisch über ihrer Abschlussarbeit in Volkswirtschaftslehre brüten, aber sie macht heute Abend eine Ausnahme. Es lockt eine Diskussionsrunde zum sperrigen Thema "Marxistischer Feminismus". Kein reguläres Uni-Seminar, sondern eine Lehrveranstaltung, die Lisa mit anderen Studierenden jede Woche an selbst organisiert.
Lisa: "Also letzte Woche waren 70 da, diese Woche wohl eher 15, weil letzte Woche hatten wir einen Vortrag."
Der gut besuchte Vortrag in der Vorwoche drehte sich um die Frage "Was ist Neoliberalismus", ergänzt Lisa und schließt die Tür auf.
Der Raum hier war voll, sagt sie, weil sich der Bundespräsident zur selben Zeit über "Neoliberalismus" sehr positiv geäußert hatte. Eine Steilvorlage für die alternativen Lehrveranstaltungen mit der Überschrift "Was ist Ökonomie?" Jede Woche sprechen die Studenten über Inhalte, die sie an ihrer Hochschule vermissen.
Lisa: "Ein Beispiel was mir dazu einfällt, war ein Beitrag von einer Kulturwissenschaftlerin. Da ging es um Schulden und bei den Ökonomen bei uns im Raum stand fest, Schulden existieren, sind etwas ganz Reales und müssen also unbedingt zurückgezahlt werden. Und sie hat sehr schön mit ihren kulturwissenschaftlichen Methoden aufgezeigt: Es gibt Umstände in der Geschichte, wo es gar nicht natürlich ist, dass Schulden zurückgezahlt werden mussten."
Die 26-Jährige mit den kurzen dunklen Haaren zieht ihre Jacke aus und schiebt Tische zu einem Viereck zusammen. Es ist 18 Uhr. Die ersten Teilnehmer trudeln ein: Lucia - 25 - kommt gerade vom Portugiesisch-Kurs. Sie studiert Romanistik und bedauert es, dass Wirtschaft oft isoliert betrachtet wird. Auch Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler sind ihrer Meinung nach hilfreich, um ökonomische Zusammenhänge zu verstehen.
Lucia: "Das Schöne ist, dass man Sachen auch verbinden kann, dass man über einzelne Studienfächer hinaus Sachen denken kann und diskutieren kann und hier funktioniert das ganz wunderbar."
VWL-Student Julian - mit dicker schwarzer Brille und rotem Pulli - ergreift das Wort. Zur Einleitung für das heutige Thema "Marxistischer Feminismus" trägt er die Thesen der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Kathi Weeks vor. Sie sieht im Kapitalismus die Ursache für die Ungleichbehandlung von Frauen und setzt sich für andere Arbeitsformen ein.
Julian: "Diese Befreiung der Arbeit passiert - und das sind die beiden politischen Forderungen, die sie stellt - einmal durch weniger Arbeitszeit und dann durch bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Einzelnen."
Diese Stichwörter sorgen schnell für eine hitzige Diskussion und rote Köpfe unter den 20 Anwesenden. Macht ein Grundeinkommen die Menschen glücklicher oder einfach nur fauler?
Aus dem Off: "Es gibt zum Beispiel Studien, dass das, was Menschen am unglücklichsten macht, Arbeitslosigkeit sei."
Ohne Arbeit ist der Mensch unglücklich? Sebastian widerspricht dieser These: Vieles sei Erziehung, damit sich die Menschen ohne Lohnbeschäftigung wertlos vorkommen.
Tobias: "Wenn man Menschen dazu erzieht, dass sie nur Funktionen übernehmen sollen und sie nicht dazu ausbildet sich selbst eine Wertschätzung beikommen zu lassen außerhalb dieses Arbeitsraumes, dann werden wir da keinen Weg rausfinden. Ich sehe jetzt selbst auch nur den Ansatz, dass über das Bildungssystem zu verändern."
Pädagogik, Soziologie - auch darauf sollte die Ökonomie schauen. In diesem Punkt herrscht Konsens unter den Diskutanten an der Humboldt Universität. Wirtschaft ist für sie mehr als Statistiken über Geschäftsklima und Warenexport.
Nach 90 Minuten löst sich die alternative Lehrveranstaltung auf. Viele haben sich Notizen gemacht, nächstes Mal sollen Texte von Hannah Arendt oder dem linken Anarchisten Bob Black diskutiert werden.
Beim Rausgehen erzählt Lisa noch, warum ihr der interdisziplinäre Austausch so wichtig ist. Die Finanzkrise hat sie nach ihrem Bachelor-Studium stark beschäftigt. Sie will damals mehr wissen und sucht eine Stelle als studentische Hilfskraft im Bundestag.
Lisa: "Das war genau zur Griechenlandkrise, bei einer Abgeordneten im Finanzausschuss. Dort habe ich sehr stark den politischen Prozess miterlebt. Ich habe gemerkt, ich verstehe viel zu wenig, was hier eigentlich passiert, und ich möchte es gern verstehen. Und dann hab ich gedacht: 'Das sinnvollste in dieser Situation ist VWL zu studieren im Masterstudiengang und hab mich hier beworben, wurde genommen, saß dann eben oft da ... und das wurde nicht behandelt oder ich habe es durch das, was hier gelehrt wird, nicht verstanden."
Was der Volkswirtschafts-Lehrplan nicht bietet, organisieren sich Lisa und andere Kommilitonen einfach selbst dazu. Aus ihrem studentischen Kolloquium "Was ist Ökonomie?" könnte nach dem Abschluss sogar noch mehr entstehen.
Lisa: "Felix was macht man danach, nach dem Studium?"
Felix: "Danach? Irgendeine andere Form von über Wirtschaft denken, vielleicht auch institutionell weiter verankern in irgendeiner Form. Wir versuchen ja so eine Sommerakademie zu machen. Schreiben da Anträge, um das einfach weiterzuführen. Ich glaube das könnte funktionieren."
Mehr zum Thema