Bilanz nach der Revolte

Von Robert B. Fishman · 09.03.2010
Am Sonntag sind Regionalwahlen in Frankreich und die Umfragen lassen für Präsident Sarkozy nichts Gutes ahnen. Trotz der angekündigten Sozialprogramme für die Jugendlichen in den Vorstädten bekommt Paris die Brennpunkte nicht in den Griff. Die Benachteiligung ist geblieben.
Im neuen Jugendzentrum von Clichy-sous-Bois rund 20 Kilometer nördlich von Paris nehmen drei Jungs im Tonstudio ihren neuesten Rap auf. Mit dem Sprechgesang im rauen oft gewaltlastigen Vorstadtslang drücken die Jugendlichen aus, was sie in gesprochenen Worten nicht formulieren können. Canon, ein baumlanger Schwarzer in Jeans und Kapuzenjacke, der mit seinem Kopf fast an die Decke des Tonstudios stößt, beschreibt es so:

"Es gibt Leute, mit denen kannst du nicht reden. Wenn wir denen erklären, woher unser Hass kommt, der ganze Ärger mit der Polizei, das ist denen völlig egal. Aber wenn wir das in der Musik sagen, hören sie zu. Und dann reden auf einmal alle drüber."

Vor viereinhalb Jahren schaute ganz Frankreich auf Clichy-sous-Bois und die anderen die sogenannten banlieues difficiles, die "schwierigen Vorstädte" am Nord- und Ostrand von Paris.

Nachrichtensprecher: "Paris: Die französische Regierung hat über 25 Bezirke des Landes den Ausnahmezustand verhängt. Seit Tagen liefern sich Jugendliche in Pariser Vororten Straßenschlachten mit der Polizei. Die Ausschreitungen begannen, nachdem zwei Jugendliche am 27. Oktober auf der Flucht vor der Polizei tödlich verunglückt waren. In einem Trafohäuschen traf die beiden vermutlich ein tödlicher Stromschlag."

Nachrichten aus dem Herbst 2005. Das Unglück in Clichy-sous-Bois löste die heute nur noch "émeute", Aufruhr, genannten landesweiten Jugendproteste aus. Bilanz: 4 Tote, 217 teilweise schwer verletzte Polizisten, fast 5000 Festnahmen, mehr als 10.000 verbrannte Autos und rund 500 beschädigte öffentliche Gebäude. Danach versprach die Regierung Hilfe: Sozialprogramme, Geld, Investitionen und Bildung. Die sogenannten Problemvororte heißen jetzt ZEP, Zônes d'Education Prioritaire, so etwas wie "Gebiete mit besonderem Bildungsbedarf". Bei den Jugendlichen ist von alledem nicht viel angekommen.

Canon: "Nein, hier hat sich nichts geändert. Es ist schlimmer als vorher. Wenn ich sage, es ist schlimmer geworden, dann heißt das, dass sich nichts verbessert hat, es ist wie vorher."

Amateur-Rapper Canon steht mit seinem Mikro etwas verloren vor dem Mischpult im neuen Jugendzentrum von Clichy. Er klingt resigniert. Wünsche hat er trotzdem, an die Politik, an die Stadt:

"Wir würden uns wünschen, dass sie was Sinnvolles machen: ein Kino, einen Bahnhof, aber was machen sie hier? Sie bauen nur neue Gebäude und dann bauen sie eine Polizeiwache. Und dann glauben sie, dass das die Jugendlichen beruhigen wird, im Gegenteil, das macht alles noch schlimmer. Wenn sie wollen, dass weniger Leute auf der Straße rumhängen, sollen sie doch ein Kino bauen oder ein Einkaufszentrum, dann können die Leute ausgehen, können sich amüsieren."

Zwischen heruntergekommenen, betongrauen Wohnblocks aus den 70er-Jahren entsteht in Clichy eine neue Polizeiwache, Symbol der Staatsmacht. Nach den Unruhen 2005 wollte Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, nach seinen eigenen Worten "das Gesindel mit dem Dampfstrahler" aus den Vorstädten jagen. Inzwischen ist Sarkozy Staatspräsident. Am kommenden Sonntag beginnen in Frankreich die Wahlen zu den Regionalparlamenten. Der Präsident verspricht der Nation vor allem eines: Sicherheit.

Die Unruhen 2005 haben viele Jugendliche in den Vorstädten politisiert. In Clichy und anderen Vororten des Pariser Nordens und Ostens sind viele von ihnen erstmals wählen gegangen. Der Sieg des konservativen Nicolas Sarkozy hat die meisten von ihnen sehr enttäuscht.

Canon: "Es ist schlimmer geworden, noch schlimmer. Jetzt haben sie noch mehr Polizisten geholt. Das sind keine Polizisten, mit denen man reden kann. Sie kommen herein und schlagen sofort zu."

Erzählt der 17-jährige Rapper Canon. Auf dem Weg zum Tonstudio ist er gerade mit seinen beiden gleichaltrigen Freunden, einem zweiten Schwarzen und einem hellhäutigen Blonden mit verspiegelter Sonnenbrille auf der Nase und Basecap auf dem Kopf, in eine Polizeikontrolle geraten.

"Die haben ihm gesagt, er solle seine Socken ausziehen. Nur so, er hat nichts gemacht. Sie haben einfach gesagt: 'Zieh deine Socken aus!' Dann hat er sie ausgezogen, musste er ja, (lachen). Dann haben sie uns in Ruhe gelassen."

Die meisten Jugendlichen hier wollen ganz normal sein. Schule, Beruf, Anerkennung und Respekt statt Vorurteile. In manchen Stadtteilen von Clichy-sous-Bois sind vier von zehn jungen Menschen arbeitslos. Faktisch sind es noch mehr, weil sich viele gar nicht beim Arbeitsamt melden. Clichy ist arm. 9000 Euro beträgt das jährliche Durchschnittseinkommen der Bewohner, weniger als ein Drittel des französischen Durchschnitts. Und Clichy ist jung: Die Hälfte der Einwohner ist unter 25. Jeder Dritte ist Ausländer, obwohl die in Frankreich geborenen Kinder der Immigranten automatisch Franzosen sind – zumindest auf dem Papier. Faktisch bleiben sie "die Araber" oder "noirs", Schwarze. Den Widerspruch zwischen ihrem mühsamen Alltag und ihrer Sehnsucht nach Normalität bringt die 17-jährige Oberschülerin Ipek Özdemir auf den Punkt:

"Mit persönlich fehlt hier nichts, nur die Vorurteile stören mich und die schlechte Verkehrsanbindung. Ich möchte aber nicht, dass meine Kinder einmal hier aufwachsen mit dem Stigma des Vorstadtkinds. Wenn man zum Beispiel auf eine Bewerbung die Absenderadresse Clichy-sous-Bois schreibt, hat man damit automatisch einen Nachteil. Ich möchte, dass meine Kinder später studieren, so wie ich und dann möchte ich, dass sie auf ihre Bewerbungen zum Beispiel Paris als Adresse schreiben können. Dann haben sie es leichter."

Wie die meisten Jugendlichen in den Banlieues ärgert sich Ipek über die Vorurteile, die den Kindern der Vorstädte überall in Frankreich entgegenschlagen: Die Medien, klagt sie, berichten nur über Kriminalität und Randale. Dann verschwinden die Journalisten wieder. Nach der Revolte 2005 hat sich die Nation schnell wieder anderen Themen zugewandt. Ipek weiß, was sie will: Sie möchte Journalistin werden, um es einmal besser zu machen. Am Collège Alfred Nobel in Clichy, gleich gegenüber der neuen Polizeiwache, macht die selbstbewusste junge Frau, deren Eltern aus der Türkei nach Frankreich gekommen sind, demnächst ihr Bac, eine Art Abitur. Ein fast drei Meter hoher Gitterzaun trennt das Schulgelände von der Straße. Ein Wachmann kontrolliert, wer durch das schmale, offene Tor das Schulgelände betritt. Mit dem Zaun schütze sich die Schule vor Jugendlichen aus dem Viertel, die im Gebäude ihre Kämpfe austragen wollen. Das sagt die Direktorin. Unter den Schülern gebe es kaum Gewalt. Julia Selge unterrichtet Deutsch am Collège Alfred Nobel:

"Vorher sagte die Rektorin, dass die Gewalt vor den Toren der Schule aufhört, das empfinde ich nicht so. Für mich ist die moralische, die psychologische Gewalt, die ausgeht von den Schülern doch relativ stark, das heißt ich werde natürlich nicht angegriffen, aber es ist mir schon passiert, dass man mich angespuckt hat, und es passiert sogar oft, dass Schüler meine Tür aufstoßen und mit dem Fuß in die Tür reintreten oder so was."

Auch wenn Direktorin, Lehrer und Schüler Normalität beschwören, ist Schule in Clichy anders:

"Im Alltag für mich im Unterricht ist anders, (...) dass ich einfach davon ausgehen muss, dass meine Schüler zu Hause nichts machen oder nur sehr wenig, weil sie auf ihre kleinen Geschwister aufpassen müssen und kochen und was weiß ich einkaufen und alle möglichen alltäglichen Sachen erledigen müssen und für die Schule keine Zeit und auch keinen Raum haben."

Die Schule ist auch abends geöffnet. Hier können die Kinder und Jugendlichen in Ruhe lernen und ihre Hausaufgaben machen. Julia Selge mag ihre angeblich so schwierigen Schülerinnen und Schüler. Die große, blonde Mittdreißigerin fällt auf zwischen ihren überwiegend dunkelhäutigen Schülern. Die meisten sind Einwandererkinder der zweiten, dritten oder auch vierten Generation. Ihrer Eltern oder Großeltern hat man als billige Arbeitskräfte ins Land geholt. Jetzt gibt es die einfachen Jobs nicht mehr. Die Industrie lässt in Fernost fertigen.

Julia Selge: "Also sie sind, eben gerade weil sie ein so relativ reduziertes Privatleben haben, keine Reisen machen mit ihren Eltern und nicht ins Kino gehen, nicht ins Theater gehen und keine anderen, (...) Kulturangebote haben, sind sie doch sehr froh, wenn man ihnen was anbietet und machen eigentlich alle mit. Also, sobald man ein Projekt vorschlägt, sind eigentlich alle begeistert."

Wenige Meter entfernt: ein Seitenflügel des Schulgebäudes: In der Lehrwerkstatt der Schule schneiden junge Männer in blauen Overalls Bauteile zu und schrauben Steckdosen an Trockenbauwände. Andere brüten über technischen Zeichnungen. Sie planen den Verlauf der Stromleitungen, die ihre Klassenkameraden in Schauräumen aus Messebauwänden verlegen. Das Collège bildet auch Jugendliche zu Elektrikern aus. Der Meister, ein kleiner stämmiger Mann um die 50, sieht trotz aller Mühen den Sinn in seiner Arbeit.

Werkstattmeister: "Am Anfang des Schuljahres sagen mir die Schüler 'hier lerne ich eh nichts, ich werde nie eine Arbeit finden'. Mit der Zeit ändert sich das dann. Der Schüler lernt und lernt dabei sich selbst kennen. Schließlich bekommt er das Gefühl, ich bin etwas wert, ich kann etwas, ich weiß, wie man zum Beispiel einen Motor zum Laufen bringt. Das sind Dinge, die er hier lernt und die er zu Hause einbringen kann. Da geht eine Steckdose kaputt. Dann sagt er, Mama, ich kann das reparieren. So sieht er, dass er in der Schule nützliche Dinge lernt. Hier habe ich das Gefühl, dass ich den Schülern wirklich etwas geben kann."

Gebaut wird auch draußen vor dem frisch renovierten Collège Alfred Nobel: Rund um die Schule sprießen die ersten neuen Sozialwohnungsbauten aus dem Boden: Kleiner, übersichtlicher, freundlicher, solider. Rostrote, zwei-, drei- und viergeschossige Flachbauten mit unterschiedlichen Fassaden Balkonen und Terrassen ersetzen nach und nach die verwitterten Betonklötze aus den 60er und 70er-Jahren. Der Staat hat ein milliardenschweres Umbauprogramm aufgelegt. Auch in den neuen, besseren Wohnungen bleibt das Hauptproblem der jungen Leute von Clichy: Die Arbeitslosigkeit. Wer sich mit einer Adresse aus den sogenannten Problem-Vororten bewirbt, hat schlechte Karten. Mit einem ausländischen Familiennamen sieht es noch schlechter aus.

Paris, 10. Arrondissement: Der erfahrene Manager Hugues Vanderhague hat viele Jahre Niederlassungen des französischen Energiekonzerns Suez geleitet. Jetzt hat er sich für ein Jahr eine Auszeit genommen, um Jugendliche aus benachteiligten Vierteln als Pate ehrenamtlich auf ihrem schwierigen Weg ins Berufsleben zu begleiten.

Hugues Vanderhague: "In den Personalabteilungen der Unternehmen gibt es wirklich viele Vorurteile gegen junge Leute, die aus den benachteiligten Stadtteilen oder aus anderen Kulturen kommen. Meiner Meinung nach sind sie aber genauso qualifiziert und kompetent wie Bewerber aus besser gestellten Kreisen."

Beim Verein "mozaik" bietet der groß gewachsene, ruhige Vanderhague mit zwei anderen Personalverantwortlichen aus Unternehmen Bewerbungstrainings für Jugendliche an. In einer Runde sitzen acht junge Hochschulabsolventen dicht gedrängt in einem winzigen Seminarraum. Je drei Minuten haben die jungen Leute in simulierten Vorstellungsgesprächen Zeit, sich zu präsentieren. Hugue Vanderhague und seine Kollegen beobachten die Jugendlichen genau. Dann gibt es ausführliche Rückmeldungen.

Insgesamt ist die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich mit 19 Prozent rund doppelt so hoch wie in Deutschland. Die wirtschaftlich abgehängten Vororte nördlich und östlich von Paris kommen auf über 40 Prozent. Die Kinder der sogenannten schwierigen Vorstädte haben wie die 22-jährige Hochschulabsolventin Linda Mandy trotz guter Abschlüsse kaum eine Chance:

"Ich habe schon den Eindruck, dass Jugendliche aus den Vorstädten, vor allem aus denen im Norden, benachteiligt werden. Wir haben ein schlechtes Image. Viele halten uns für Straftäter. Dabei sind meine ganzen Freunde und Bekannte ganz normale junge Leute, die studieren, ernsthafte Leute die wie ich Praktika suchen, um Arbeit zu finden."

Um der Diskriminierung bei der Stellenvergabe entgegenzuwirken, dürfen sich Arbeitsuchende nach französischem Recht inzwischen anonym bewerben – ohne Foto, ohne Namen, ohne Adresse. Theoretisch sind die Unternehmen verpflichtet, diese Bewerbungen genauso zu berücksichtigen wie andere. Said, ein kräftiger, selbstbewusster junger Mann um die 30 mit modernem Kurzhaarschnitt ist einer von denen, die es geschafft haben. Aufgewachsen in der Vorstadt Bondy östlich von Paris, wie Clichy in Frankreichs ärmstem Bezirk Seine-Saint-Denis, Sohn marokkanischer Einwanderer, hat er den Verein Mozaik aufgebaut.

Said: "Ich bin keine Ausnahme, nichts besonderes. Ich habe studiert. Jedes Jahr verlassen 15.000 junge Leute die Universitäten mit Diplomen allein in Seine-Saint-Denis. Hochgerechnet auf ganz Frankreich ergibt das ungefähr 150.000. Ich bin also wirklich nicht der Einzige. Ich habe mich schon früh für das Personalwesen interessiert. Und habe mich dann sehr schnell darauf konzentriert. Dann hat mich sehr schnell die Frage der Diskriminierung interessiert, der wir alle ausgesetzt sind."

Nur sehr langsam ändern die Personalverantwortlichen in den Unternehmen ihre Einstellung. Noch mehr als in Deutschland brauchen Jobsuchende in Frankreich die richtigen Beziehungen. Die fehlen vor allem den Jugendlichen aus den wirtschaftlich abgehängten Vororten. Auch die Politik bewegt sich im Schneckentempo. Im April 2009 hat Staatspräsident Sarkozy ein 1,3 Milliarden schweres Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit angekündigt. In Clichy-sous-Bois warten die Jugendlichen noch immer darauf.