Bilanz der Potsdamer Tanztage

Gemeinschaft hält alles zusammen

Eine Szene aus Yasmeen Godders "Common Emotions"
Grauen und Komik liegen in Yasmeen Godders "Common Emotions" eng beieinander © fabrik Potsdam / Foto: M. Korbel
Von Elisabeth Nehring · 05.06.2016
Akrobatische Einlagen, offene Gefühle und starke Bilder: Mit feinem Gespür wurde das Programm der Potsdamer Tanztage kuratiert. Einzig der Schweizer Choreograf Thomas Hauert enttäuscht.
Die riesige Gruppe auf der Bühne hat eine ganz schön heftige Energie – und irgendetwas miteinander auszufechten: dicke, breitschultrige Kerle gehen aufeinander los, als gälte es das Leben; zarte mädchenhafte Frauen raufen um die Wette, ziehen sich dabei an den Haaren oder werden von körperlich haushoch überlegenen Männern strampelnd weggetragen.
Doch plötzlich schwebt eine dieser Frauen durch die Luft – fast schwerelos und gerade wie Strich. Aufgefangen wird sie – wie nebenbei – von zwei dieser bärbeißigen Typen, mit denen sie gerade noch gekämpft hat.
Die akrobatische Einlage kommt unvermittelt und wirkt umso poetischer. Noch viele Male werden die Artisten der französischen Companie XY bekannte Zirkuselemente zeigen – verschiedene Saltovariationen, hohe Menschentürme oder anspruchsvolle Flug- und Sprungkombinationen. Aber vieles ist anders in diesem sogenannten "Neuen Zirkus". Sven Till von der Fabrik Potsdam:
"Dann gibt es die Ebene, dass der Zirkus sich befreit von den Nummernacts und ganze Aufführungen kreiert, ganze abendfüllende Programme gestaltet, dass er anfängt, zu erzählen oder teils auch anfängt, sich mit seinen eigenen Techniken zu beschäftigen. Dass der Zirkusperformer als Persönlichkeit eine Rolle spielt, eine Stimme bekommt. Dass es nicht mehr nur um die Höchstleistung geht oder das Bewältigen einer bestimmten Technik mit Bravour und sich dadurch abzuheben und als Meister einer Technik dazustehen, sondern dass Zirkuselemente, Techniken, benutzt werden, um über Welt zu reflektieren – mal narrativer, mal abstrakter und formal-ästhetischer."

Publikum dankt mit enthusiastischem Zuspruch

Mit dem Neuen Zirkus haben die Potsdamer Tanztage glanzvoll eröffnet – und das Publikum dankte es mit enthusiastischem Zuspruch und ausverkauftem Haus. Neugierde und Offenheit haben viele Zuschauer auch in Yasmeen Godders "Common Emotions" bewiesen, indem sie – aufgefordert von den Tänzern – selbst auf die Bühne kamen.
Sechs Tänzer und Tänzerinnen lassen vor einem großen, aus knallbunten Fetzen lose zusammengenähten Vorhang ihren Gefühlen freien Lauf; vor allem aber bitten sie immer wieder Zuschauer mit ihnen für Reigentänze oder Ritualgesänge hinter den Vorhang zu verschwinden. Das ist nicht durchweg spannend für die, die sich nicht auf die Bühne trauen, dient aber offensichtlich dem Gemeinschaftsgefühl derer, die sich darauf einlassen.
Gemeinsamkeit – das ist ein Thema, das sich durch viele Stücke der Israelin Yasmeen Godder zieht, die – trotz aller Mehrdeutigkeit und Abstraktion – immer auch etwas mit ihrem spezifischen Lebensgefühl in Israel zu tun haben.
"Mir ist Nähe sehr wichtig – sowohl künstlerisch als auch privat. Ich lebe und arbeite in Jaffa in der Nähe Tel Avis. Die Familie, die Nachbarn, das Studio – alles ist nah beieinander und ich versuche, alle Teile des Lebens in dieser Community direkt miteinander zu verbinden. Das hat fast etwas von 'Flucht vor der Realität', denn diese Art, wie wir in Jaffa leben, ist nicht repräsentativ für den Rest des Landes. Aber immerhin ist es ein Teil des Landes und irgendwie erlebe ich an diesem Ort Optimismus."

Grauen und Komik eng beieinander

Optimismus breitet sich auch gegen Ende der Vorstellung aus, wenn Zuschauer und Performer in verstreuten Gruppen auf der Bühne sitzen oder liegen. Sie reden leise, lachen laut oder umarmen sich fest, während das Stück gleichzeitig weiterläuft. Einzelne Tänzer erscheinen immer wieder mit bunt bandagierten Gesichtern oder in Stoffmasken eingezwängten Köpfen und erinnern damit – ganz von Ferne und sehr indirekt – an gewalttätige Bilder von Folter und Misshandlungen.
Auch in "Common Emotions" liegen Grauen und Komik, Lächerlichkeit und Bedrohung, Zartheit und Monstrosität eng beieinander und beweisen, dass die israelische Choreografin auch in so einem ungewöhnlichen Aufführungsformat eine Meisterin der Groteske ist.
Was sie mit ihren ebenfalls bei den Potsdamer Tanztagen präsentierten Choreografenkollegen Lia Rodriguez und Thomas Hauert gemeinsam hat, beobachtet der künstlerischer Leiter der Fabrik Potsdam Sven Till:
"Das sind immer Künstler oder Kollektive, die an einer bestimmten Form von gemeinschaftlichem Erleben, von gemeinschaftlicher künstlerischer Produktion ...vielleicht ähnliche körperliche Ausdrücke auf die Bühne bringen, ähnliche Modelle auf die Bühne bringen, aber das häufig mit ganz anderen thematischen Richtungen und mit ganz anderen Arbeitsweisen unterstreichen."

Nur einer enttäuschte

Unter den zum Thema Gemeinschaft arbeitenden Choreografen enttäuschte einzig der in Brüssel ansässige Schweizer Thomas Hauert mit seiner zu einem großen Tanz-Nichts aufgeblasenen Produktion "Inaudible", einer albernen, aber keineswegs humorvollen Choreografie, in der jeder Takt der Gershwin-Musik in eine illustrative Bewegung umgesetzt wurde:
Ein stupider, aber verzeihlicher Tiefpunkt des ansonsten klug und mit feinem Gespür kuratierten Programms, das die Potsdamer Fabrik ein weiteres Mal zu einer attraktiven Anlaufstelle für ein tanzinteressiertes Publikum macht.
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