Bezirksbürgermeister Kressmanns neue Ostpolitik

Willy Brandt hat ihn gehasst

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Der Bezirksbürgermeister Willy Kressmann im Neubau der Marheineke-Markthalle in Berlin-Kreuzberg (Foto um1956).
Willy Kressmann beim Wursteinkauf in der neu aufgebauten Marheineke-Markthalle in Berlin-Kreuzberg. © picture alliance / dpa / akg-images
Von Jan Draeger und Michael Link · 25.09.2019
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1969 gewann Willy Brandt die Bundestagswahl und startete die neue Ostpolitik. In West-Berlin gab es aber noch einen anderen Willy, der vor ihm eine neue Ostpolitik gefordert hatte: den Kreuzberger Bürgermeister Willy Kressmann. Warum ist er gescheitert?
New York, die Bühne der Welt. Am 5. Juni 1962 betritt er die Bühne der Welt: Willy. "Mayor Willy Kressmann of the West-Berlin borough of Kreuzberg."
Nicht der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, sondern Willy Kressmann, der Bezirksbürgermeister von Kreuzberg. In West-Berlin leiden sie alle unter dem Mauerbau von 1961. Willy Brandt im Rathaus Schöneberg, dem Rathaus des Regierenden Bürgermeisters, genauso wie Willy Kressmann im Bezirksamt Kreuzberg. Willy Brandt ist noch ganz Kalter Krieger, nur im stillen Kämmerlein denken Brandt und sein Berater Egon Bahr über so etwas wie eine neue Ostpolitik nach.
Der andere Willy, Kressmann, ist da schon viel weiter. Am 5. Juni 1962, zehn Monate nach dem Mauerbau in Berlin, spricht er in New York vor geladenen Gästen über seine Heimatstadt: über die Mauer, über die erstarrten Blöcke im Kalten Krieg, über das Verhältnis zur DDR und eine Wiedervereinigung.
Willy Kressmann will die Welt wachrütteln und die Blöcke aus ihrer Erstarrung lösen. Am späten Nachmittag beginnt in den Räumen der PR-Firma Roy Bernard seine Pressekonferenz. Die große amerikanische Presseagentur UPI meldet unerhörte Töne von einem westlichen Politiker aus der Frontstadt des Kalten Krieges:
Amerikaner, Sowjets, Briten und Franzosen sollen sich in Berlin wieder an einen Tisch setzen, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern, sagt Kressmann nach einer Meldung der Nachrichtenagentur UPI.
Er kritisiert die West-Berliner Polizei. Zwei Wochen zuvor hatten West-Berliner Polizisten bei der Flucht eines 14-jährigen Schülers das Feuer von der östlichen Seite erwidert. Dabei war ein Ost-Berliner Grenzwächter gestorben. UPI meldet, Kressmann bedaure, dass die West-Berliner Polizei zurückgeschossen habe. An der Mauer gebe es einen Dschungelkrieg. Der Zwischenfall stehe einer Versöhnung mit dem Osten entgegen.
Die Ostdeutschen, sagt Kressmann der Presse in New York, fliehen nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen in den Westen. Wirtschaftshilfe für die Ostdeutschen sei nötig.

Kressmann bricht ein Tabu: Wirtschaftshilfe für die DDR

Einen solchen Tabubruch hat noch kein westdeutscher oder West-Berliner Politiker gewagt. Statt den Osten für den Mauerbau anzuklagen, kritisiert er die Polizei des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt und fordert Wirtschaftshilfen für das Land, das im Westen nur als "Zone" bezeichnet wird.
Ein Jahr später, 1963, wird sich der andere Willy, Brandt, ebenfalls in gedankliches Neuland vorwagen, aber ganz vorsichtig, unter Egon Bahrs Stichwort "Wandel durch Annäherung", in der Evangelischen Akademie Tutzing, weit weg von der großen Bühne der Weltpolitik. Im Verhältnis zu Kressmann ist Brandt ein Zauderer und Spätzünder.
Kressmann bricht gegenüber seinen SPD-Genossen furchtlos die großen Tabus: Die Mauer, sagt er, sei das Ergebnis der Politik des Ostens und des Westens nach 1945.
"Solange ich verantwortlich bin für einen Teil von immerhin 200.000 Menschen, so darf ich mich auch da zum Sprecher machen für politische Fragen. Wenn Sie nur einen kommunalpolitischen Beamten haben wollen, dann bitte nicht mit mir".
Schilderkrieg an der Sektorengrenze
An der Grenze des West-Berliner Bezirks Kreuzberg zum Sowjetsektor Berlins lässt Bezirksbürgermeister Willy Kressmann 1956 ein Schild aufstellen, das sich gegen die Teilung Berlins wendet.© dpa / Günter Bratke
Das ist das politische Selbstverständnis des Kreuzberger Bürgermeisters Willy Kressmann. In einem Interview mit dem "Süddeutschen Rundfunk" spricht er im Januar 1958 über die Motive seiner Politik.
Reporter: "Herr Bürgermeister Kressmann, wenn man mit Ihnen ein Interview hat, dann hat man es eigentlich mit Berlin. Mit dem Berlin an der Grenze, denn Sie haben den Bezirk Kreuzberg ja direkt an der Sektorengrenze, und Ihr Name wird nun immer und immer wieder genannt, wenn man von Berlin spricht."
Kressmann: "Wer Berlin kennt, der weiß, dass der Bezirk-Kreuzberg am Potsdamer Platz beginnt, über den Spittelmarkt bis nach Treptow. Das bedeutet, dass Kreuzberg ein Innenstadtbezirk ist und durch die unglückliche Spaltung der Stadt und über die Hälfte eben eine Sektorgrenze hat. Daraus ergeben sich viele Aufgaben und viele Schwierigkeiten, aber auch viele Möglichkeiten, den Kontakt mit Ost und West wieder auszubauen."
Reporter : "Und dieser Kontakt wird ja nun immer wieder von Ihnen aufgenommen."
Kressmann: "Wenn ich auch der Auffassung bin, dass die Briten, Amerikaner, Franzosen und die Sowjets, gleich wie immer groß unsere Schuld bis 1945 war, Deutschland geteilt und gespalten haben, kann es nicht nur die Aufgabe der großen Vier sein, das Deutschland wieder zusammenzuführen, sondern auch wir müssen einiges dafür tun. Dazu gehört erst einmal, den menschlichen Kontakt wieder auszubauen. Ich möchte meinen, der Zeitpunkt wird bald kommen, dass auch wir Deutsche von uns aus mit dem anderen Teil Deutschlands uns finden müssen, unterhalten müssen, Vorbereitungen zu treffen haben, denn Ost-West-Kontakte sind nicht nur eine Angelegenheit auf der hohen diplomatischen internationalen Ebene, sondern die Städte, die heute in Mitteldeutschland sind und in der Bundesrepublik, sollten von Stadt zu Stadt den Kontakt aufnehmen."

Kressmanns neue Ostpolitik

Was Kressmann hier 1958 sagt, drei Jahre vor dem Mauerbau, atmet schon den Geist der neuen Ostpolitik, die später mit den Namen Brandt und Bahr verbunden sein wird. Dieser Willy Kressmann macht Kreuzberg zu seiner großen Bühne. Er lädt drei Ost-Berliner Bürgermeister zur Klärung von Problemen an der Sektorengrenze ein. Er holt Künstler aus der Tschechoslowakei in sein Kreuzberger Rathaus. Unkritisch gegenüber der Situation im Osten ist er aber nicht. 1956 reisen sowjetische Gäste durch die Bundesrepublik. Kressmann ist sich im Klaren, dass er es mit linientreuen Kadern zu tun hat, empfängt sie aber in seinem Rathaus und erklärt ihnen die Lage:
"Ich habe hier mal eine Karte aufgezeichnet – und zwar die Karte Moskau. Und könnte mir so vorstellen, wie Sie als Moskauer empfinden würden, wenn mitten durch die Stadt nun ein Trennungsstrich gezogen wird, indem man sagt, einmal Ost-Moskau und einmal West-Moskau. Dann stellen Sie sich bitte vor, in Ihrer Heimat ist ein Teil, in dem Moskau eine Herrschaft übernommen hat, mit der Sie gar nicht zufrieden sind. Ich darf, und das ist nur ein persönliches Wort von mir, so geht es uns mit Ulbricht auch. Den wollen wir auch nicht."
"Little Willy" heißt ein Hit der britischen Popgruppe "The Sweet". "He's the king around town", singt sie – er ist der König in der Stadt. Wie Willy Kressmann, der 1949 sein Amt antrat und sich gleich als zupackender Bürgermeister erweist, gegen die Teilung Berlins.
"Wenn Sperren sperren, werden Sperren eben weggesperrt. Einige der unter dem Schutz der Volkspolizei am Mittwoch errichteten Schutzsperren an verschiedenen Punkten der Sektorengrenze wurden gestern Nacht durch Steinquader ersetzt. Sie stammen vom abgerissenen Berliner Schloss. Unter Leitung vom Bürgermeister des Bezirks Kreuzberg, Willy Kressmann, räumten heute Vormittag freiwillige Arbeitskolonnen diese sperrigen Güter beiseite."
Kressmann: "Und wir sind nicht gewillt, auch für die Zukunft, zu dulden, dass in Berlin neue Sektorengrenzen oder eine neue Blockade in dieser Form errichtet wird."

Willy gegen Willy

Kressmann hilft auch, wenn die Leute aus dem Osten Not leiden. So lässt er Obst und Gemüse an Ost-Berliner zu Ostpreisen in seinem Bezirk verkaufen. Nach dem Aufstand von 1953 organisiert er Nachbarschaftshilfe für geflüchtete Aufständische. Kressmann wird bekannt. Der "Spiegel" widmet ihm in den Fünfzigerjahren eine Titelgeschichte, sogar die "New York Times" berichtet über ihn. Manche sehen ihn schon als neuen Regierenden Bürgermeister, als Herausforderer von Willy Brandt.
Walter Momper, Regierender Bürgermeister beim Mauerfall 1989, sagt über die Rivalität der beiden: "Dass Willy das Zeug dazu hatte, Regierender Bürgermeister der Stadt zu werden und ein führender Staatsmann zu werden, das war schon ziemlich offenkundig, Willy Brandt. Und der eigentliche Gegner, das war Kressmann. Auf der Linken gab es weit und breit niemanden, der das zu bieten hatte. Also, so ein Schlag an Internationalität, auch an überörtlicher Politik, bisschen über den Tellerrand denken. Der Willy Brandt hat den ja gehasst wie nichts. Der merkte natürlich, wer ihm am ehesten das Wasser reichen konnte. Die anderen konnten das doch alle nicht."
Am 2. März 1959 schreibt Franz Amrehn, Willy Brandts Stellvertreter, einen Brief an Willy Kressmann: "Sehr geehrter Herr Kollege! Ich bin in letzter Zeit mehrfach darauf angesprochen worden, ob mir bekannt sei, dass das Bezirksamt Kreuzberg unmittelbare Verhandlungen mit sowjetischen oder mit Stellen der Ost-Berliner Verwaltung oder der Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone geführt hat. Um den Sachverhalt aufklären zu können, bitte ich im Wege der Dienstaufsicht um Mitteilung…"
Vier Tage später schreibt Willy Brandt persönlich: "Ich muss daher meinem Befremden darüber Ausdruck geben, dass Sie persönlich eine Dienststelle im Ostsektor aufgesucht haben, ohne dass Sie vorher meine Zustimmung eingeholt haben. Ihr Verzicht auf diesen sich von selbst verstehenden Weg und auch auf jede dienstliche Meldung an mich macht es leider notwendig, Sie dringend darum zu bitten, Kontakte mit östlichen Behörden den dafür zuständigen Stellen zu überlassen."
Mehrfach schreibt Willy Brandt solche Briefe an Willy Kressmann. Zehn Jahre später wird Brandt Bundeskanzler. Er wird die neue Ostpolitik einleiten. Nicht Kressmann, über den Walter Momper sagt:
"Er hatte eben einen Schlag mehr Weitsicht und Überblick und wollte in der großen Politik mitmischen, weil er natürlich sah, dass diese kleinen Kreuzberger Grenzverhältnisse ihre Ursache in der großen Politik hatten und nicht irgendwo hier, weil der Ostkommandant etwas nicht wollte. Das war die Größe von Kressmann."

Ideen zur falschen Zeit

Nils Diederich, Jahrgang 1934, ist Politikwissenschaftler und war jahrelang Abgeordneter der SPD im Bundestag. Er erinnert sich an Kressmann: "In meinem Umfeld und bei meinen Eltern war das so, dass man mit denen, die sich für den Osten entschieden hatten, nichts mehr zu tun haben wollte. Aber für Kressmann waren das noch alte sozialdemokratische Genossen, mit denen man eine alte politische Solidarität hatte, wenn man auch inzwischen in einem anderen politischen Lager stand. Wenn man so will, hat Kressmann etwas vorweggenommen in einer Zeit zu einem falschen Zeitpunkt, was später Willy Brandt ja dann realisiert hat mit seinen Worten: Man muss mit der anderen Seite sprechen."
Wie Willy Brandt kam auch Willy Kressmann aus einfachen Verhältnissen: "Ich bin der Sohn eines Werkzeugmachers, erlernte das Buchdruckerhandwerk, wurde dann Werkstudent und studierte an der Hochschule für Politik und an einer Universität."
1907 in Berlin geboren. Mit 15 Jahren tritt er in die SPD ein. Gegen Ende der Weimarer Republik legt er sich erstmals mit den Genossen an: Er kritisiert das versteinerte Funktionärswesen: Seine Partei trete den Nationalsozialisten nicht entschlossen genug gegenüber. In der linkssozialistischen SAP findet er eine neue politische Heimat. Die Nationalsozialisten kommen an die Macht, Kressmann soll verhaftet werden.
"Ich musste Deutschland verlassen, wanderte dreizehneinhalb Jahre um Europa herum und wartete auf den Tag, in die Heimat zurückzukehren."
In Prag tritt er wieder in die SPD im Exil ein. In Österreich nimmt er 1934 am Februaraufstand gegen das autoritäre Dollfuß-Regime teil. In der Schweiz betreut er behinderte Kinder. Über Polen und Skandinavien führt ihn schließlich seine Flucht nach England. Einiges an diesem Lebensweg ähnelt dem des jungen Willy Brandt. Der Politikwissenschaftler und Historiker Siegfried Heimann hat sich mit dem Leben der beiden Willys beschäftigt.
"Kressmann war am Ende der Weimarer Republik auch wie viele andere nach links außen aus der SPD ausgeschieden beziehungsweise ausgeschlossen worden und war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei geworden; der Partei, der auch Willy Brandt angehörte. Es gab von daher aus dieser Zeit eine Bekanntschaft mit Willy Brandt. Ich würde nicht sagen Freundschaft. Im Exil sind sie sich dann allerdings nicht begegnet. "
Bezirksbürgermeister Willy Kressmann bei der Einweihung der Synagoge Fränkelufer in Berlin-Kreuzberg 1959.
Willy Kressmann bei der Einweihung der Synagoge am Fränkelufer in Berlin-Kreuzberg 1959.© picture alliance / dpa / akg
1947 spielt Hans Albers in dem Kinofilm "...und über uns der Himmel" einen Kriegsheimkehrer. Die Bilder zeigen die Situation im zerstörten Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Menschen hausen in Ruinen. Das Essen ist knapp. Überall blüht der Schwarzmarkt. Im echten Leben spüren die Berliner noch etwas anderes: die Spaltung der Stadt in Ost und West. Im letzten gemeinsamen Magistrat für ganz Berlin stellt zwar die SPD den Oberbürgermeister. Aber die SED und die Sowjets streben eine Einparteienherrschaft nach russischem Vorbild an. In dieser Situation kehrt Willy Kressmann in seine Heimatstadt zurück.
Kressmann: "…kam nach Berlin wieder zurück, wurde leitender Magistratsdirektor zu einer Zeit, in dem wir noch ein einheitliches Berlin hatten, war verantwortlich für die Berliner Wirtschaft, für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Kleidung und anderer Dinge."
Heimann: "Als er wieder zurück nach Berlin gekommen war, wurde er sehr schnell wieder in der Sozialdemokratie aktiv. Aber er blieb auch der eigenständige Kopf, als der er 1933 in die Emigration gegangen war. Er begann in der Wirtschaftsabteilung des Magistrats, sein Vorgesetzter war Gustav Klingelhöfer, aber Kressmann wollte sich nicht unterordnen. Er hatte eigene Vorstellungen, wie das alles laufen sollte. Klingelhöfer war schließlich sehr dankbar, als Kressmann auf den Bürgermeisterposten in Kreuzberg gehoben wurde – und dort in Kreuzberg war er bald auch der kleine König."
Auszüge aus Briefen des Kummerkastens:
"Sehr geehrter Herr Bürgermeister, da ich sehr gern fotografiere und eine große Pferdeliebhaberin bin, möchte ich Sie fragen, ob Sie es mir ermöglichen können, dass ich als Amateur bei einer Probe der Hofreitschule aus Wien dabei sein könnte."
"Sehr geehrter Herr Bürgermeister, in meiner großen Sorge um meine alten Eltern möchte ich Sie aber ebenso herzlich wie höflich und dringend bitten, mir recht bald eine persönliche Unterredung mit Ihnen zu gewähren".
Das sind Auszüge aus Briefen, die im Kummerkasten landen. Den hat Willy Kressmann kurz nach seinem Amtsantritt 1949 am Rathaus Kreuzberg installieren lassen. Er achtet darauf, dass alle Briefe beantwortet werden.
Kressmann: "Dieser Kummerkasten hat dazu beigetragen, dass die Verbindung des Bürgers zur Verwaltung und umgekehrt ein gutes geworden ist, dass man also auch von meinem Rathaus nicht mehr von dem Rathaus spricht, sondern von dem Haus der offenen Tür. Und ich hab mir immer vorgenommen und das ist mein Prinzip bis zum heutigen Tag geblieben: Bleib so ein kleiner Bonze wie nur möglich".

Ein Bezirksbürgermeister, der sich um alle kümmert

Es kommt auch vor, dass Kressmann persönlich vor der Tür steht. Das hat der Schüler Lothar Friedemann erlebt.
"1952 ist er in unsere Schule gekommen. Weil ich geschrieben habe, unsere Fenster müssten mal geputzt werden in der Schule. Und habe unseren Rektor nicht unterrichtet, sondern als Leiter der Schülermitverwaltung habe ich das gemacht. Daraufhin kam der Bürgermeister persönlich in unsere Schule, während des Unterrichts, im Beisein des Rektors, den hat er mitgenommen. Er hat gefragt: Wer ist Lothar Friedemann? Ach du, erzähl mal, was ist denn so in der Schule los. Dann habe ich erzählt: Der Schulhof ist mistig, da sind noch Trümmer. Wir müssen immer im Kreis rumlaufen wie im Zuchthaus. Da war natürlich der Rektor maßlos verstimmt. Dann ist er mit mir durch mehrere Klassen gegangen, Kressmann, im Beisein des Rektors. Der Rektor hat mich dann natürlich zur Sau gemacht: Wehe, du schreibst noch mal, ohne dass ich weiß, was los ist. Die Fenster wurden dann geputzt innerhalb von ein paar Tagen."
Lothar Friedemann wird später den Bürgermeister noch öfter sehen. Denn er beginnt nach der Schule eine Ausbildung im Rathaus. Vermittelt hat das Willy Kressmann. Der kümmert sich sogar um die Erziehung des Jungen. Dass er rechtzeitig in Bett kommt.
Friedemann: "Wir hatten ja eine Zweizimmerwohnung. Ich musste im Wohnzimmer mit meinem Bruder immer zusammen schlafen. Und im Wohnzimmer hat Vater immer Skat gespielt, sehr oft. Eines Abends, es war 22 Uhr, wir konnten nicht schlafen gehen, weil die Männer da gespielt hatten, sagte mein Vater: Jetzt hol mal noch einen Siphon Bier. Nebenan war ein Lokal. Ich musste mich also anziehen und ging runter Bier bestellen. Und da saß der Bürgermeister mit dem Stadtrat für Soziales Richard Weiß, sieht mich und sagt: Was machst du jetzt in der Kneipe um diese Zeit? – Ich soll für meinen Vater Bier holen. — Das ist doch unmöglich. Um diese Zeit hast du im Bett zu sein. Du musst im Dienst ausgeschlafen sein. – Er ist mit mir nach oben gegangen. Klingelte. Vater macht auf, sieht den Bürgermeister. Er wurde richtiggehend blass. – Herr Bürgermeister, was ist passiert? – Wenn Sie noch einmal Ihren Sohn in die Kneipe um diese Zeit schicken, dann kriegen Sie schweren Ärger mit mir. Haben Sie mich verstanden, Herr Friedemann?"
So zupackend und volksnah wie Kressmann ist kein zweiter SPD-Politiker in Westberlin. Die eigene Familie aber lässt er im Stich.
Sabine Roth leitet heute ein Ballettstudio in Kreuzberg. Wer ihr in die Augen schaut, erkennt Willy Kressmann: die gleiche Form, die gleichen Brauen. Sie ist sein einziges Kind. Und doch hat sie ihn erst spät kennengelernt.
"Kennen? Kennen tue ich ihn nicht. Ich habe nichts in meiner Entwicklung von ihm mitbekommen. Ich habe ihn mit 25, als erwachsene Frau, kennengelernt."

Die Liebschaften des Bezirksbürgermeisters

Ihre Mutter ist eine Zeit lang die Geliebte Willy Kressmanns. Die Tochter wird im Unglauben gelassen, wer ihr wirklicher Vater ist. Dann Anfang der Achtzigerjahre – die Begegnung:
"Mein Mann hat mich zu einer Ausstellung mitgenommen und da kommt ein Ehepaar auf uns zu. Wir stehen uns gegenüber – und ich sage zu meinem Mann: Das ist mein Vater. Ich wusste nichts vorher, vielleicht nebulös, immer Geschichten, dass irgend etwas mit meinem Vater war. Aber ich hatte nie ein Foto gesehen und ich wusste nichts. Da hat mein Mann gesagt: Das ist Willy Kressmann. Ich sagte: Weiß ich nicht, aber das ist mein Vater. Und inzwischen standen wir uns gegenüber und dieser Mann, mein Vater, guckt mich an und sagt zu mir: Ihre Mutter ist eine geborene Landmann. Ich sagte: Ja, das ist richtig, meine Mutter ist eine geborene Landmann. Und dann der zweite Satz: Die einzige Frau in meinem Leben, die ich wirklich geliebt habe, war Ihre Mutter. Und dann ging er und hat mich stehengelassen."
Erst am Ende seines Lebens wird sie ihn kennenlernen. Die letzten Stunden vor seinem Tod 1986 wird sie an seiner Seite sein. Es ist eine Art Versöhnung für sie.
Als Sabine Roth 1955 zur Welt kommt, wird Kreuzberg schon Kressmansdorf genannt. Der Genosse Kressmann tritt nun auch gerne im weißen Anzug und mit Cowboyhut vors Volk. Den hat er Anfang der Fünfzigerjahre auf seiner ersten Amerikareise geschenkt bekommen. Er ist Ehrenbürger der texanischen Stadt San Antonio. In Berlin nennt man ihn jetzt auch "Texas-Willy". Kressmann sieht die USA als Vorbild für Europa.
"Das, was ich in den Vereinigten Staaten von Amerika erlebt habe, hat weit mehr alles übertroffen, was man in seinem Leben bisher gesehen, erlebt und gehört hat. Ich wünschte nur eines, wir Deutsche, und wenn ich das sage, so meine ich damit auch, wir Europäer, wir sollten endlich begreifen, dass diese große Freiheit, die ich drüben erlebt habe, den Menschen wie auch ihres wirtschaftlichen und kulturellen Lebens ein Beispiel sein kann, wie man ein neues Europa gestalten könnte."
Das Herz des amerikabegeisterten Kreuzberger Cowboys erobert schließlich eine 22 Jahre jüngere Frau. Sigrid Zschach ist Architektin. Ehrgeizig, eloquent und erfolgreich. 1960 heiratet sie Willy Kressmann, seinen Namen stellt sie ihrem voran. Das zieht. Die Berliner Historikerin Regina Stürickow hat sich mit dieser Beziehung intensiver befasst.
"Diese Ehe war von Kressmanns Seite vielleicht eine Liebesheirat, aber auf jeden Fall nicht von Sigrid. Sie war eine begabte Architektin, sie hatte schon ein Büro und sie wollte einfach Karriere machen und sie wusste auch genau, worauf es ankommt. Es kam darauf an, Kontakte zu knüpfen, Leute aus der Politik kennen zu lernen. Und die Kontakte hat sie halt durch Kressmann gefunden. Sigrid Kressmann-Zschach entwickelte sich ganz schnell zur größten Bauunternehmerin Berlins. Die Bauwirtschaft war ja von Männern beherrscht und sie hat diese Männerwelt aufgemischt. Was ihr natürlich auch viele Feinde eingebracht hat. Sie hat das Kudamm-Karree gebaut, sie hat sehr viele Privathäuser und auch Schulen gebaut. Und natürlich auch das heute noch berühmt-berüchtigte Haus Steglitzer Kreisel. Damit hat sie leider pleite gemacht. Ja, sie hat sich verspekuliert."

Die Parteigenossen sind entsetzt

1962, als Willy Kressmann mit kühnen Gedanken zu einer neuen Ostpolitik vorprescht, ist sie noch die Frau an seiner Seite. Noch! Kressmann ist zu dem Zeitpunkt 54 Jahre alt. Willy Brandt ist ein Jahr zuvor erstmals als Kanzlerkandidat der SPD gegen Konrad Adenauer angetreten. Willy Kressmann bleibt nur sein Kreuzberg. Obwohl er weit über Berlin hinaus Sympathien genießt.
Oft genug düpiert er seine Genossen, stößt sie mit eigenwilligen Entscheidungen vor den Kopf. Da bricht er zu seiner Reise in die USA auf. New York – eine Weltbühne für einen großen Politiker und große Gedanken. Er will politische Akteure treffen. Seine Frau Sigrid soll ihn begleiten. Aber sie kommt nicht mit. Kressmann schickt ihr rührende, verliebte Briefe aus dem Waldorf Astoria in New York. In einem seiner Briefe klingen seine politischen Ambitionen an.
"Ich habe viele Gespräche und Begegnungen gehabt, die gut für Berlin, vielleicht auch für uns zum Vorteil sind. Wir werden wohl eine neue Reise vorbereiten müssen."
"He said many of the East-Germans who fled to West-Berlin did so for economic not political reasons. He recommended economic help to the east-germans." – Was die Nachrichtenagentur UPI über ihn berichtet, ist verhängnisvoll für einen Westberliner Politiker ein Jahr nach dem Mauerbau. Die Ostdeutschen fliehen aus wirtschaftlichen Gründen? Der Westen solle dem Osten wirtschaftliche Hilfe geben? Und dann noch seine Kritik an der West-Berliner Polizei: Ob er recht hat oder nicht, spielt keine Rolle. Willy Kressmann entsetzt seine Parteigenossen.
Die Berliner SPD schließt Kressmann für ein Jahr von Parteiämtern aus – die er allerdings nie innehatte. Und die linken Genossen in Kreuzberg wollen ihren eigensinnigen Bürgermeister auch auf Druck von oben nun loswerden: Kurz vor Weihnachten 1962 wählen ihn die 45 Kreuzberger Bezirksverordneten einstimmig ab. Kressmann verspielt in diesem Jahr alles. Er verliert sein Amt, seine Parteikarriere und seine Frau. Im Oktober lässt sich das Paar scheiden. Kressmann selbst war von der heftigen Reaktion seiner Berliner Genossen auf seine Aussagen in New York überrascht und verteidigt sie:
"Das, was mir zum Vorwurf gemacht wird, jawohl, ich stehe dazu. Wenn ich also keine zwei Teile Deutschlands oder drei Teile Deutschlands haben will, dann muss ich mich dazu bekennen, so sehr ich de jure diese Zone ablehne, de facto ist die DDR da. Diese Mauer kann nur beseitigt werden, wenn es keinen neuen Flüchtlingsstrom gibt."
Der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew (l) und Bundeskanzler Willy Brandt im Gespräch 
Treffen mit dem sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew (l) 1973: Willy Brandt realisierte als Bundeskanzler die neue Ostpolitik.© picture alliance / dpa
So ähnlich denken bald auch Willy Brandt und Egon Bahr. Aber sie werden die Öffentlichkeit ganz vorsichtig auf den Paradigmenwechsel des ostpolitischen Denkens vorbereiten, mit dem fein gesponnenen Konzept "Wandel durch Annäherung".
"Gucken Sie sich das doch an, wie groß der Hass nachher gegen Willy Brandts neue Ostpolitik bei den Alt-Sozialdemokraten hier war. Die hatten doch überhaupt kein Verständnis dafür", erinnert sich Walter Momper.
Kressmann zieht nach seiner Abwahl an den Tegernsee, heiratet dort erneut und tritt 1963 verbittert aus der SPD aus. Politisch wird er nie wieder groß auffallen. Er stirbt 1986 in Berlin.

Willy Kressmann und Türkiyemspor

Es gibt noch einen Ort, der an den illustren Berliner Bezirkspolitiker erinnert: das Kreuzberger Fußballstadion, in dem der multikulturelle Sechstligist Türkiyemspor seine Heimspiele austrägt. Seit 2010 trägt es den Namen "Willy-Kressmann-Stadion".
"Dass der in Amerika so populär sich in Szene zu setzen verstand, das spricht schon für ihn. Der war keine kleine Nummer, aber die ganz große Nummer, da ist er nie hingekommen."

Es sprachen: Winnie Böwe, Alexander Radszun, Errol Trotmann
Ton: Christiane Neumann
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Winfried Sträter

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