Bewusst gewählte Einöde

Von Sigried Wesener · 05.08.2005
Der Romancier, Essayist und Herausgeber Günter de Bruyn erkundet in seinem neuen Buch "Abseits" die Mark Brandenburg, jene Landschaft östlich von Berlin, die für den Schriftsteller zum Lebenszentrum geworden ist. Unaufgeregt und voller Respekt beschreibt er das Leben der Menschen in diesem kargen Landstrich.
Günter de Bruyn hat seinen Rückzugsort nahe Görsdorf, die Einsiedelei am Blabbergraben, zu einem Literaturort gemacht. Nach seinen Erkundungen in der Märkischen Landschaft und in der preußischen Geschichte wendet er sich dem Naheliegenden zu, seinem Haus, das längst zu einem Zuhause geworden ist.

Die Abgeschiedenheit, auf die auch der Titel "Abseits" hinweist, war, als de Bruyn jenen Flecken für sich Ende der 60er Jahre entdeckte, eine Abkehr von der Aufgeregtheit der Großstadt, vom politischen Zentrum, als ein Teil Berlins noch DDR-Hauptstadt war .

" In gewisser Weise ist das auch meine Position als Schriftsteller immer gewesen, dass ich mich, um genauer beobachten zu können, gerne im Abseits bewege."

De Bruyn hat – wie er schreibt - "in seiner Ecke geschwiegen", sich das Etikett eines "politisch Unbedarften" anhängen lassen, war von Kulturpolitikern beargwöhnt, aber in Ruhe gelassen, obwohl er den Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 mit unterschrieben hatte.

Sein – wie er sagt - "persönlicher Kompromiss" führte ihn in die bewusst gewählte Einöde, die seinen Blick auf den Landstrich und seine Bewohner nicht getrübt hat. Er misstraute den Tageslosungen und schaute genau hin und unter die Oberfläche:

"Ja, historisches Denken zu fördern, nicht damit zufrieden zu geben, was heute ist, sondern es irgendwie in einen historischen Rahmen zu stellen."

Auch für sein neues Buch hat er Kirchenbücher studiert, alte Flurkarten aufgestöbert, Chroniken, Kriegsberichte gelesen, Inschriften auf Grabsteinen notiert und mit Leuten gesprochen.

De Bruyn wollte wissen, in welchem Maße die große Politik das Leben beeinflusste. Er entdeckte beispielsweise im Protokollbuch der Gemeindevertretung Notizen über das Wahlverhalten der Görsdorfer in den 30er Jahren.

"Über Endmoränen und slawische Scherben weiß man mehr", schreibt er, "als über die Hitler- und die DDR-Jahre". Er zitiert die tagebuchartige Beschreibung des Kriegsendes durch den Lehrer und Kantor Schrobback, als im April 1944 die Beeskower Gegend kurzzeitig Rückzugsgebiet für deutsche Truppen wurde. Die Aufzeichnungen dokumentieren den Übergang vom Krieg in die Besatzungszeit.

"Diese Vereinfachung, die z.B. in der nun fast amtlich gewordenen Bezeichnung "Tag der Befreiung" liegt. Das ist so eine Art von Einseitigkeit der Betrachtung, wenn ich sehe, in welchem Wahn die Deutschen durch Hitler befallen waren. Die sind doch nicht durch die Befreiung aufgewacht, sondern die sind dadurch aufgewacht, dass sie den Krieg verloren haben. das Elend des Kriegsendes war es, was die Deutschen auch zum Nachdenken, zum Umdenken gebracht hat."

Der Autor beschreibt die Auswirkungen der Bodenreform, sieht, wie mit der Kollektivierung die Beziehung der Bauern zum eigenen Boden verloren ging. Und er sieht auch heutige Monokulturen, die durch EU-Subventionen gefördert werden. Unwiederbringliche Eingriffe, die dennoch die Mentalitäten kaum geändert haben:

"Das mich erstaunt hat, wie wenig z.B. die ganze ideologische Beeinflussung der Leute, die ja doch in den letzten zwei Generationen sehr stark war durch die Nazi-Zeit und die Kommunisten. Man hat das Gefühl, davon ist eigentlich nichts übrig geblieben. Da ist der Stolz auf die Arbeit, die sie geleistet haben und Trauer über alles, was so passiert ist, aber überhaupt nichts von der politischen Beeinflussung."

Hier zeigt sich die ureigene Intention des Autors, unaufgeregt die tatsächlichen Dinge und Verhältnisse zu sehen, keine Folie mit Absichten und behaupteten Zuständen über das Märkische Land und seine Bewohner auszubreiten. De Bruyn nähert sich behutsam und mit Respekt vor dem gelebten Leben, erzählt mit großer Eindringlichkeit.

Wenn man sein schriftstellerisches Werk betrachtet, wird deutlich, dass Günter de Bruyn in den zurückliegenden Jahren vorrangig dokumentarische Prosa geschrieben hat: über Preußens Luise, über die Finkensteins, über Berlins Prachtstraße "Unter den Linden" und in seinen autobiografischen Notizen.

"Auf jeden Fall reizt mich heutzutage mehr als das Fiktionale das Dokumentarische und der Idealfall ist, indem ich das Dokumentarische erzählerisch aufbereiten kann. Das ist, was mir so vorschwebt."

De Bruyn zeigt in seinem Buch, wie man eine Landschaft sehen kann. Er schreibt es nicht vor. Fragend tastet der gebürtige Berliner die Umgebung ab, sieht verfallene Mauern, aufgegebene Wege, Windkrafträder.
Er reibt sich an seinem großen "Vorgänger" Fontane, der sich in der Beeskower Gegend mit dem Besuch von zwei Adelssitzen begnügte, an Tieck und Kleist, die die Umgebung "trostlos und langweilig" nennen. Nach dem Umherschweifen kehrt er schließlich ein in das ehemalige Anwesen der Familie Bahr, einst Obdach für die Ärmsten der Armen, das nun den Autor und seine Bibliothek aufgenommen hat.

" Ja, wenn ich durch Berlin gehe, da interessiert mich immer daran, wer ist da vor 100 Jahren mal gegangen oder, was ist hier passiert, dass ich mich dafür interessiere, was für Leute das waren, die vor mir mal in diesen Mauern gewohnt haben, das ist mir selbstverständlich. Und da ich das Glück hatte, dass ich noch schriftliche Überbleibsel finden konnte, da hat sich in mir so ein Bild gebildet, dass ich so ’n bisschen wie mit Verwandten mitlebe."

Vertrautheit klingt da an, der 78-jährige Autor hat – so scheint es beim Lesen – in dem Bahrschen Sohn Rudi, der den Krieg nicht überlebt hat, einen älteren Bruder dazu gewonnen. Vor dem Verschwinden der letzen Lebenszeugnisse hat Günter de Bruyn das Schicksal der Familie Bahr dokumentiert und seine Leser erneut berührt.