Bevor es zu spät ist

Von Barbara Roth · 18.03.2008
Fälle von vernachlässigten und misshandelten Kindern soll es in der bayerischen Landeshauptstadt künftig zumindest weniger geben. 2,4 Millionen Euro jährlich werden bis 2010 dem Münchner "Modell der frühen Hilfen" zugeführt.
Dieses zusätzliche Frühwarnsystem basiert auf dem bereits bestehenden Hausbesuchsdienst von Kinderkrankenschwestern und Bezirkssozialarbeitern. Damit soll eine systematische Früherkennung von Vernachlässigungsrisiken gesichert werden. Mit Geld und Personal. München ist entschlossen, beides zur Verfügung zu stellen.

Kinderaugen leuchten, wenn Heike Zobeley kommt. Besuch am späten Nachmittag bei einer aus Griechenland stammenden Familie im Münchner Stadtteil Sendling. Am Küchentisch sitzen, lebhaft plappernd, Virginia zweieinhalb und Georgia sechs Jahre alt sowie der stille Aristidis elf. Heike Zobeley kramt in einer großen Kiste: Holt Farben und Pinsel für die Kleinste heraus; Schere, Klebestoff und buntes Papier für das große Mädchen; Holz und eine Säge für den Buben.

Die Mutter gesellt sich dazu. Eine zierliche Frau mit lauter Stimme. Viel Spaß am Basteln hat Tulla heute nicht. Denn seit Wochen streicht sie Wände und tapeziert. Sie ist müde und ungeduldig. Nicht die Kinder, sondern ihre Mama verliert schnell die Lust.

Eine Bastelstunde mit Hintergrund. Heike Zobeley ist Kinderkrankenschwester und Sozialpädagogin bei der Ambulanten Kinderkrankenpflege "Münchner Kindl". Die 39-Jährige besucht die Familie zwei Mal in der Woche zuhause. Sie schaut in der Wohnung nach dem Rechten, spielt mit den drei Kindern und spricht mit den Eltern. Über die Organisation des Alttags, die Entwicklung der Kinder und die Probleme von Mutter Tulla.

"Ich bin heroinabhängig. Ich habe mit sechzehneinhalb angefangen. Mir hat das Heroin viel Kraft gegeben und dann habe ich weitergemacht. Immer wieder habe ich clean - Phasen gehabt, schon zwei Jahre oder ein paar Monate. Aber ich bin immer auf das Gleiche wieder reingefallen. Ich war in einer Therapie, neun Monate. Bin rausgekommen, die ganze Stresssituation wieder zuhause sein, drei Kinder und alles, der Alttag – dann habe ich einen Rückfall gemacht. Und jetzt bin ich wieder seit acht Monaten clean."
Um den Neuanfang auch nach außen zu dokumentieren, renoviert sie ihre Wohnung. Die heute 32-Jährige spricht offen über ihre Drogensucht. Darüber, dass sie in Stresssituationen, wenn sie mit den Kindern nicht klarkam oder sie sich ungeliebt fühlte, schnell zur Spritze griff. Sogar einen Tag vor der Geburt ihrer Kleinsten dröhnte sie sich mit Heroin zu. Virginia kam vor 29 Monaten mit Entzugserscheinungen zur Welt. Seitdem steht Tulla unter besonderer Beobachtung. Das Bezirkssozialamt schickte Heike Zobeley in die Familie.
"Am Anfang war es öfters, da war ich auch drei Mal die Woche phasenweise da, als noch mehr Bedarf bei den Kindern war. Und mittlerweile komm ich ein Mal, um mit den Kindern zu basteln. Jetzt nicht in der Form, dass die Kinder beschäftigt sind, sondern dass die ganze Familie am Tisch sitzt und was macht. Das war am Anfang auch nicht so. Sondern da ist die Mutter aufgestanden, hat mich mit den Kindern alleine gelassen und hat es gar nicht ausgehalten, wenn die Georgia oder der Aristidis was falsch gemacht haben oder was kaputt gemacht haben. Da kam halt so ihr eigener Perfektionismus durch und das hat sich langsam im Laufe der Zeit geändert und jetzt machen sie was zusammen."

Virginia, Georgia und Aristidis genießen es, mit ihre Mama zu spielen. Etwas später kommt auch der Vater hinzu; ein stiller Mann, der mit Drogen nichts am Hut hat. Die Familienidylle scheint perfekt. Dass der Elfjährige im Verhalten auffällig, in der Schule überfordert ist, er seine Eltern oft belogen und beklaut hat, dass auch die Sechsjährige in ihrer Entwicklung zurückgeblieben ist – wollte Tulla lange nicht wahrhaben. Sie verdrängte, dass die Defizite ihrer Kinder mit ihrer Sucht zu tun haben.

"Man hat ihr dann nahegelegt, wenn sie nicht Fördermaßnahmen bei ihren Kindern machen lässt, dann werden ihr die Kinder weggenommen. Und dann ist ihr erst mal so bewusst geworden, es geht ja nicht nur um die Kleine, die man ihr wegnehmen kann, sondern um die beiden Großen auch. Und das war ihr anscheinend nie so klar. Da kamen dann Gefühle hoch, diese Muttergefühle, das sind meine Kinder, die will ich mir nicht wegnehmen lassen und die sind mir ganz wichtig. Und das hat so einen Klack bei ihr gemacht und seitdem hat sich auch noch was verändert. Also die Kinder kommen jetzt weg von der griechischen Schule, die kommen jetzt in eine Förderschule; sie kriegen ihre Spieltherapie, Logopädie, was auch immer sie brauchen."

Ergebnis einer 29-monatigen intensiven Betreuung, bei der es einzig um die Kinder geht. Kein Einzelfall in München. Allein das Team KIB – die Abkürzung für "Kind im Blick" – hat im vergangenen Jahr 58 Kinder begleitet, deren Kindeswohl akut gefährdet ist. Ursprünglich wurde die Ambulante Krankenpflege "Münchner Kindl" gegründet, um Angehörige bei der Pflege ihrer behinderten oder kranken Kinder zu unterstützen. Inzwischen nimmt die Betreuung von Familien in instabilen Lebenslagen immer mehr zu, weiß Teamleiterin Doris Niemann.

"Das kann ein Suchthintergrund sein, Alkohol, Drogen, es können psychische Erkrankungen sein, wenn eine Klinik gemeldet hat, es ist ein Drogenentzugsbaby oder ein Alkoholentzugsbaby, oder es gab Gewalt in der Familie, die Mutter ist mit einem blauen Auge aufgetaucht, es können Meldungen gewesen sein an die Bezirkssozialarbeit durch Familienangehörige, durch Kindergärten, dass da irgendwas nicht gut läuft oder das Kind auffällig ist. – Dann werden wir mit einem hohen Stundenkontingent reingenetzt."

Im Auftrag des zuständigen Sozialamtes schauen sich ihre Mitarbeiterinnen die Familien dann genau an. Sie gehen nicht nur ein Mal, sondern mehrmals pro Woche in die Wohnung. Monatelang. In Krisensituationen sogar täglich. Die Frauen vom Team KIB sind nicht nur ausgebildete Kinderkrankenschwestern, alle haben eine Zusatzqualifizierung als Heil- oder Sozialpädagogin. Und deshalb einen Blick für die Situation in einer Familie.

"Es wird natürlich erst mal das häusliche Umfeld angeschaut: Wie geht es der Mutter? Gibt es einen Partner? Gibt es irgendwelche Straftaten? Wie ist der Umgang mit dem Kind? Dass das Kind vielleicht irgendwelche Flaschen durch die Gegend schmeißt, ein aggressives Verhalten zeigt, die Mutter aber schlecht im Kontakt ist mit dem Kind. Das sind Beobachtungen, die wir erst mal machen. Dann kommt relativ schnell, es sind ja fast immer Hartz-IV-Empfänger die Frage, ob wir helfen können beim Erziehungsgeldantrag, beim Kindergeldantrag, das nehmen die supergerne an. Es ist erst mal eine Vertrauensbasis, die man aufbauen muss."

Vertrauen ist für Doris Niemann das A und O. Ohne Vertrauen keine Mitarbeit der Mutter oder der Eltern. Ohne deren Mitarbeit keine Verbesserung für das Kind; stellt sich beispielsweise die Mutter quer, bockt oft auch der Nachwuchs. Wer dem Kind helfen will, muss immer auch den Eltern, vor allem der Mutter helfen; egal wie kriminell ihre Vergangenheit war.

"Wir sind immer eine Kontrolle. Und das wissen auch die Eltern. Sie wissen aber auch, dass sie viel Hilfe von uns erhalten können. Die sind erst immer im Widerstand. Und viele haben es auch als Auflage. Das muss man ganz klar so sehen, dass sie es als Auflage vom Gericht haben, diese Hilfe anzunehmen, dass ansonsten das Kind raus kommt. Hinzu kommt, glaube ich, wir müssen immer so arbeiten, dass wir die Eltern annehmen mit ihren Schwierigkeiten, ohne denen Vorwürfe zu machen. Und wenn ich das erst meine und authentisch bin, kommt das auch rüber und die Hilfe wird angenommen."

Ortswechsel. Das Jugendamt der Stadt München. Hier wurde zu Papier gebracht, was sich "Münchner Modell der Frühen Hilfe" nennt. Jugendamtsleiterin Marie Kurz-Adam nennt als Grund: den Tod des kleinen Kevin in Bremen.

"Das ist, denke ich, das Kevin-Trauma, das wir alle haben. Nämlich, dass es ganz lange Phasen gab in der Zuständigkeit für den Vater mit Kevin damals in Bremen, in denen niemand wusste, wo das Kind ist. Diese Lücken in den Übergaben zu schließen und zumindest sichtbar zu machen, wo ist das Kind gerade, das ist die Anforderung. Wir hatten in München einen zweiten Fall Kevin, in dem zwar vom Fallmanagement viele Dinge gut gelaufen sind, nichtsdestotrotz ist das Kind auch sehr zu Schaden gekommen. Und da war die Frage, was können wir daraus lernen und an welchen Stellen können wir nachjustieren."

In der Analyse war man sich schnell einig: Mit dem jetzigen Personal erreicht man niemals alle null- bis dreijährigen Kinder, bei denen das Risiko einer Gefährdung gegeben sein könnte. Zwar haben die zwölf Kinderkrankenschwestern im Auftrag des städtischen Gesundheitsreferats 2006 ungefähr 3000 Säuglinge und Kleinkinder bis zum dritten Lebensjahr besucht. Doch es bleiben Lücken, weiß die Jugendamtleiterin, die die Anzahl der sogenannten Risikofamilien in München auf gut 4000 schätzt.

"Risikoadressen heißt: enger Wohnraum, hohe Arbeitslosigkeit, Alleinerziehende usw. Die haben dann psychosoziale Probleme. In 2008 werden wir versuchen, die Risikoadressen alle zu besuchen. Und wenn die Kinderkrankenschwester in ihrer Einschätzung dazu kommt, dass diese Familie Unterstützungsbedarf hat, weil sonst das neugeborene Kind mittel-, kurz- und langfristig gefährdet ist, dann wäre das ein Fall zur Weitergabe an die frühen Hilfen."

Denn von sich aus würden diese Familien nie um Hilfe bitten, fürchtet Frau Kurz-Adam wohl zu Recht. Die Idee ist es nun, bis 2010 systematisch ein Frühwarnsystem aufzubauen. Das Kreisverwaltungsreferat liefert die Adressen von so genannten Risikofamilien zu, die die Geburtskliniken und die Bezirkssozialämter ergänzen. In einem zweiten Schritt sollen auch Ärzte und Hebammen sensibilisiert werden, den Behörden auffällige Mütter schon vor der Geburt zu melden. Den städtischen Kinderkrankenschwestern - zwölf weitere werden eingestellt – kommt dann eine Schlüsselfunktion zu: Sie suchen die Neugeborenen mindestens drei Mal auf, müssen Vernachlässigungsrisiken erkennen, wofür sie zusätzlich qualifiziert werden und das zuständige Sozialbürgerhaus informieren.

"Das Sozialbürgerhaus übernimmt eine Weitervermittlung - und ein Monitoriumsfunktion. Das kann die Vermittlung in die Spielgruppe sein, das kann die Vermittlung einer Haushaltshilfe sein, es kann aber auch die Vermittlung einer Familientherapie sein. Und sie müssen dann mit der Familie schnell und gut zusammenarbeiten. Das heißt, sie haben einen Versorgungsauftrag."

Wo auch immer die Familie angedockt wird, der jeweilige Schwerpunkträger muss das Sozialbürgerhaus ständig auf dem Laufenden halten und Verantwortung für das Kind übernehmen. Diese Lehre aus dem Fall Kevin will die Jugendamtsleiterin Marie Kurz-Adam gezogen wissen. Überhaupt sei man viel sensibler geworden. In München sind im ersten Halbjahr 2007 24 Kinder unter Drei in staatliche Obhut genommen worden; mehr als im gesamten Jahr zuvor.

"Wir haben im Moment eine eklatante Zunahme an in Obhutnahmen von null- bis dreijährigen Kindern aufgrund von Gefahr in Verzug. Und die Hypothese ist, dass diese eklatante Zunahme viel damit zu tun hat, dass von der Angebotsseite her Unterstützungsleistungen fehlen. Aber dann rutschen halt Kinder durchs Netz. Den Kollegen in den Sozialbürgerhäusern kann es oft nicht reichen, dass gerade bei so Risikofamilien mit Drogen, Alkohol und psychisch kranken Eltern zu sagen, na ja, das Kind ist mal in einer Beratungsstelle, sondern sie brauchen die Sicherheit, dass in der Beratungsstelle, auch Haushaltshilfen eine gewisse Verbindlichkeit und Beobachtung da ist."

Das fordert auch der Münchner Stadtrat ein, der die Kosten – 2,4 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr vor allem für Personal – bereits genehmigt hat. In seltener Einstimmigkeit winkte die Stadtpolitiker Anfang Dezember das Konzept der frühen Hilfe durch, ohne um einen einzigen Cent zu feilschen. Obwohl sich Frage geradezu aufdrängen würde, ob es nicht billiger wäre, die Kinder einfach aus der Familie zu nehmen.

"Wir wissen, dass die Herrausnahme eines Kindes Bindungen beeinträchtigen kann, vor allem langfristig. Bis sie das Kind wieder zurückbringen, ist vielleicht schon in der Bindung eine Aufregung oder eine Unsicherheit entstanden, wo sie Jahre brauchen, um das zu bewältigen. Deswegen ist das nicht eine Frage von billig und teuer, sondern von richtig und falsch."


Strahlende Kinderaugen in der griechischen Familie geben ihr Recht. Voller Stolz präsentiert die Kleinste eine Maus; die Sechsjährige eine pink farbig bemalte Meerjungfrau. Der Junge hat Teile einer Ritterburg ausgesägt, er muss die Holzwände nur noch verleimen. Ihre Mama überschüttet sie mit Lob. Und Heike Zobeley packt die Bastelutensilien wieder in die große Kiste. Sie ist zufrieden.

"Sie will wirklich was verändern, sie ist auch irgendwie angekommen bei ihrer Familie. Sie will nicht mehr entfliehen, sie will es nicht anders haben. Sondern sie ist jetzt eher zufrieden, so wie es ist, auch von ihrer Wohnsituation her. Und sie sieht auch, dass sie trotzdem was machen kann in ihrem Leben. Und werde ich sie noch begleiten. In die Schule, wenn sie wechseln, wie geht die Mutter damit um, wie gehen die Kinder damit um. Und dann sehe ich eigentlich meine Aufgabe als beendet."

Seit 29 Monaten ist die Kinderkrankenschwester in der Familie. Heute kann sie sagen: Ihre Arbeit hat sich gelohnt, die Familie ist wieder stabilisiert. Und Heike Zobeley ist davon überzeugt: ist die Mutter zufrieden, sind auch die Kinder glücklich. Ihre Drogensucht hat die 32-Jährige derzeit im Griff. Tulla ist dankbar für die Hilfe, sie bemüht sich um ihre Kinder.

"Die Heike, die habe ich richtig ins Herz geschlossen. Ich kann mit ihr reden wie mit einer Freundin. Ich habe mich geändert und ich sehe die Veränderung an meinen Kindern auch: Mein Sohn hat geklaut früher, sehr viel Geld von uns. Oder gelogen hat er. Er hat keine Wärme gezeigt, er war zu, er hat keine Gefühle gegenüber mir oder seinem Vater gezeigt. Was jetzt anders ist. Und ich bin jetzt seit acht Monaten clean, mache weiter und habe viele Ziele vor mir."

Natürlich werden Drogenberatung und Bezirkssozialarbeit an der Familie dran bleiben. Für den Fall der Fälle, dass Tulla doch rückfällig wird und - wie zuletzt vor gut acht Monaten – wieder Heroin spritzt.

"Ich denke, sie hat einen Punkt erreicht, wo sie relativ offen und schnell es ansprechen würde. Das macht sie ja jetzt auch schon, wenn sie Suchtdruck hat, sie spricht es an, da kann man sie auffangen, diesen Schritt nicht zu gehen. Aber – und das habe ich ihr auch schon gesagt: Wenn es hart auf hart kommt und sie jetzt völlig abdriften würde, sie könnte machen, was sie will, dagegen könnte ich auch nichts machen, aber ihre Kinder, die würde ich mitnehmen. Da würde ich dafür einstehen, dass sie nicht bei ihr bleiben."