Bevölkerungsstudie wegen Corona

Die Folgen des gesellschaftlichen Rückzugs

07:23 Minuten
Fassade eines Restaurants, in dessen Schaufenster der Aufruf "Stay The Fuck At Home" zu sehen ist. Auf der Sitzgelegenheit davor sitzt ein einsamer Mann.
"Stay the Fuck Home" - "verdammt, bleib zuhause" - ist der Slogan der Stunde. Welche Ängste das Erliegen des öffentlichen Lebens auslösen, erforscht jetzt eine Studie. © imago/Seeliger
Von Sven Kästner · 24.03.2020
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In Krisenzeiten steigt die Solidarität der Menschen - zumindest vorerst. Wissenschaftler befassen sich nun mit der Frage, welche Gefühle, Sorgen und Ängste die Coronakrise und die damit einhergehenden Einschränkungen genau auslösen.
Solidarität zwischen den Menschen – diese Berliner Passantinnen und Passanten nehmen sie durchaus in der aktuellen Coronakrise war:
- "Man sieht überall diese Zettel, dass Leute für ältere Leute gerne einkaufen würden. Das finde ich auch total schön."
- "Ich sehe schon da rücksichtsvolles Verhalten. Und aber auch viel Ängstlichkeit, die vielleicht auch dann vor dem zu Hilfe Eilen Leute auch zurückschrecken lässt und verunsichert. Es ist nicht so einfach, solidarisch zu handeln."
- "Heute war ich zum Beispiel beim Laufen. Und irgendwie habe ich das Gefühl, man lacht sich auch gegenseitig so ein bisschen an. So, hey, wir sind gerade zusammen so in dem gleichen Boot quasi. Und dass man sich halt trotzdem miteinander freut, dass man auch alleine noch laufen gehen kann."
- "Wir haben uns zum Beispiel auch mit Nachbarn abgesprochen. Sollte es zu einem Fall kommen, das sich einer von uns ansteckt, dass wir dann uns gegenseitig Einkaufshilfen auf jeden Fall organisieren."

Die Ängste der Bevölkerung

In Katastrophenlagen verhalten sich die meisten Menschen sozialer und ruhiger als sonst. Das ist der – doch etwas beruhigende – Stand der Sozialforschung zum Thema. Genaueres aber ist bisher nicht bekannt.
"Deshalb starten wir eine Studie, die sich genau mit dem Thema beschäftigt: Wie geht es den Menschen eigentlich? Wie erleben die Menschen die Einschränkungen ihres Alltags in Deutschland", erklärt Henning Goersch, Professor für Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement an der Akkon-Hochschule Berlin. "Die Bevölkerung soll vor allen Dingen gefragt werden: Was sind eure größten Probleme, was sind eure Ängste? Was braucht ihr eigentlich? Um diesen Aspekt auch mal in die öffentliche Diskussion einpflegen zu können."
Die Akkon-Hochschule, eine Einrichtung der Johanniter-Unfallhilfe, bildet unter anderem Katastrophenhelfer aus. Professor Henning Goersch will den Verantwortlichen in der Politik Informationen über die Bedürfnisse der Menschen in der Ausnahmesituation zur Verfügung stellen. Dies könne das Krisenmanagement verbessern.
"Dass wir nicht rein aus medizinischen Aspekten das beurteilen, das ist natürlich das Wichtigste im Moment. Aber die Bevölkerung muss auch letztendlich mitmachen. Und sie muss es mit tragen. Und deswegen machen wir eben auch die Befragung."

Ergebnisse sollen rasch vorliegen

Die Studie hat vor wenigen Tagen begonnen – und schon in der kommenden Woche sollen erste Ergebnisse vorliegen. Goersch will regelmäßig und schnell Zwischenstände veröffentlichen, damit Politikerinnen und Politiker die Erkenntnisse schnell berücksichtigen können. Die Untersuchung läuft online: Zum Einen befragt das Forsa-Institut 1.500 repräsentativ ausgewählte Menschen. Zum anderen bietet die Hochschule einen Fragebogen im Internet an.
"Die Menschen können sich registrieren lassen in der Befragung. Und wöchentlich bekommen die einen Aufruf, nochmal an der Befragung teilzunehmen. So dass wir auch sehen können, ob es da eine Entwicklung gibt: Zum Schlechten, zum Guten."

Skepsis gegenüber Ausgangssperren

Flächendeckende und strikte Ausgangssperren würden die Stimmung der Menschen vermutlich beeinflussen. Psychologen warnen davor, dass die leeren Straßen Ängste auslösen könnten. Der Berliner Mikrobiologe Timo Ulrichs hält die bisherigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens für sinnvoll – bis hin zu den vielerorts geltenden Kontaktverboten. Es werde das Virus aber vermutlich kaum bremsen, wenn die Menschen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen dürften.
"Ich bin ziemlich sicher, dass die Ausgangssperren zusätzlich zu den getroffenen Maßnahmen nicht viel mehr bringen als das, was wir jetzt haben, aber sehr wohl verbunden sein würden mit massiven Einschränkungen. Und da wäre ich eher skeptisch, dass dies das Abflachen der Kurve wirklich herbei rufen würde."
Experten schätzen die Ansteckungsgefahr im Freien deutlich geringer ein, als in geschlossenen Räumen – wenn man Menschenansammlungen meidet. Auch Abstandsregeln lassen sich draußen besser einhalten, sagt Ulrichs.
"Und das wäre in der Tat ein Argument dafür, dass man die Leute doch eher ermutigt, nach draußen zu gehen, Spaziergänge zu machen, sich an der frischen Luft aufzuhalten, Sonne zu tanken - ganz wichtig. Und dass man geschlossene Räume eben eher meidet."

Einschränkungen wird es längere Zeit geben

Mediziner und Mikrobiologen gehen davon aus, dass uns das neuartige Coronavirus noch lange beschäftigen wird. Mittlerweile wissen sie, dass alle Infizierten nach der Krankheit zumindest einige Jahre lang immun sind.
"Wenn diese Viruswelle über die ganze Welt geht, dann ist es so, dass wir etwa bei einer Durchseuchung von 60 bis 70 Prozent davon ausgehen können, dass das Virus dann keine Chance mehr hat, sich dauerhaft zu etablieren. Weil wir dann nämlich genug immune Menschen rumlaufen haben, die das nicht weiter tragen können. Man rechnet, dass diese Phase in etwa einem Zeitraum von anderthalb bis zwei Jahren erreicht wird. Das heißt also, wir müssen noch ganz schön langen Atem haben."
So lange kann das öffentliche Leben sicher nicht so weit herunter gefahren bleiben wie derzeit. Aber spürbare Einschränkungen wird es längere Zeit geben. Damit die Bevölkerung diese nachvollziehen kann, muss die Politik aus Sicht von Katastrophenschützer Henning Goersch in ihrer Kommunikation eine klare Perspektive geben:
"Ich glaube, dass das den Menschen wirklich ganz, ganz deutlich gemacht werden muss: Das ist jetzt zum Beispiel erst mal zu dem und dem Datum. Das wird ja auch gemacht. Aber was ist danach? Auch diese Frage muss meiner Meinung nach beantwortet werden. Was ist, wenn das noch mal verlängert wird und noch mal verlängert wird? Irgendwann wird man das möglicherweise nicht mehr aufrecht halten können. Und auch die Grenze: Wohin geht das und was für Einschränkungen sind noch zu erwarten und wo ist eine definitive Grenze?"

"Davor hüten, dass die Krise Alltag wird"

Auf diese Fragen haben Politik und Wissenschaft derzeit selbst noch keine klaren Antworten. Goersch sieht seine Studie als Beitrag dafür, dass kommende Entscheidungen auf breite Akzeptanz treffen. Denn um auch langfristig durch die Krise zu kommen, müssen jetzt Konzepte für die kommenden Monate entworfen werden.
"Diese Solidarität und dieses prosoziale Verhalten, was wir in Katastrophen finden – und das ist eben meine Hypothese – kommt vor allem daher, dass der Alltag in dieser Zeit so stark unterbrochen wird. Wenn aber die Katastrophe zum Alltag wird, dann sehe ich schon durchaus die Gefahr, dass dieses deutlich pro-sozialere Verhalten möglicherweise wieder abnimmt, vielleicht sogar ins Gegenteil umschlägt. Also wir müssen uns ein wenig davor hüten, dass die Krise Alltag wird. Und dafür muss man jetzt Konzepte entwickeln."

Vertrauen in Politik und Wissenschaft

Seit einer Woche ist das öffentliche Leben deutschlandweit mittlerweile stark eingeschränkt – und fast jeder Tag brachte strengere Regeln. Bisher werden sie von vielen akzeptiert – wie auch von diesen Berliner Passantinnen:
- "Ich folge da mal den Politikern und den Wissenschaftlern, die sozusagen da die richtige Entscheidung treffen werden. Die machen das ja ganz gut jetzt."
- "Dadurch, dass es für alle eigentlich eine komplett neue Situation ist, könnte ich jetzt nicht auf Anhieb sagen, dass ich mir irgendwas anders gewünscht hätte."
- "Insgesamt bin ich eigentlich ganz froh, dass es da so eine enge Beziehung gibt zwischen Politik und Wissenschaft. Und das man auf die Wissenschaftler hört, die wirklich wissen, worum es hier geht."
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