"Bevölkerungsschutz muss sich anpassen"

Moderation: Matthias Hanselmann · 02.08.2013
Der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Christoph Unger, räumt ein, dass die Evakuierung einer mittleren Großstadt "ein riesiges Problem" sei, sollte so ein Fall wie Fukushima in Deutschland auftreten. Gegen die Folgen des Klimawandel wie Hochwasser schützt sich Deutschland besser.
Matthias Hanselmann: "In 15 Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm" – so packte Udo Lindenberg einst eine der großen Ängste der Deutschen in eine Songzeile. Es wurde ein Hit, und dieses Songzeile besprach die Angst vor einem dritten Weltkrieg, ein Szenario, das uns erspart geblieben ist, das aber tatsächlich vor 30 Jahren in England erarbeitet wurde. Das britische Nationalarchiv hat jetzt Akten veröffentlicht, die 30 Jahre unter Verschluss waren und jetzt freigegeben wurden.

Dieses Weltkriegsszenario wurde genauestens ausgearbeitet, auf über 300 Seiten hat man simuliert, wie er verlaufen könnte und wie man in England reagieren sollte. Diese Unterlagen wurden gerade veröffentlicht, dazu Protokolle von Gesprächen der damaligen Premierministerin Margret Thatcher mit anderen Staatschefs, zum Beispiel Bundeskanzler Kohl. Wir sprechen mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Christoph Unger. Guten Tag, Herr Unger!

Christoph Unger: Guten Tag!

Hanselmann: Ich nehme mal an, die Veröffentlichung dieses Dritte-Weltkriegs-Szenarios aus England hat Sie nicht sonderlich überrascht, oder?

Unger: Nein, denn bis 1989 haben wir ja eh und in gleicher Weise derartige Szenarien als Hintergrund unserer Planung gehabt. Wir haben 1989 zum Beispiel im Rahmen der letzten sogenannten WINTEX-Übung ja genau dieses Szenario – Angriff des Warschauer Paktes auf Westeuropa – geübt.

Hanselmann: Was war damals vorgesehen?

Unger: In der Tat, wir gingen davon aus, dass es einen Angriff der sowjetischen und der damaligen DDR-Truppen geben würde unter Einsatz von nuklearen Einsatzmitteln. Bis 1989 wurden ja im Rahmen dieser Übungen auch beispielsweise im Regierungsbunker, der hier in der Nähe von Bonn ja noch heute als Museum zu besichtigen ist, wurden damals von da aus geübt. Das Szenario wurde von da aus sozusagen versucht zu bewältigen, aber es war schon eine klare Annahme eines Atomkrieges.

Hanselmann: Wie genau wurden denn eigentlich solche Szenarien erarbeitet. Wir haben eben die Zahl von 33 Millionen Toten in England gehört. Wurde man so konkret auch bei uns in Deutschland?

Unger: Also die Folgen eines solchen Angriffes kannte man natürlich schon. Es gab Überlegungen in welchem Umfang, in welchen Regionen es zum Einsatz von nuklearen Sprengköpfen kommen würde, gerade hier in diesem Bereich von Bonn, alter Regierungssitz, dass es zu millionenfachem Tod und Verderben gekommen wäre, das war schon klar.

Hanselmann: Wie ist das eigentlich, gab es früher eher Kriegsnotfallpläne, oder gab es auch Pläne für Naturkatastrophen, wie wir sie gerade erst wieder erlebt haben?

Unger: Naja, es gab beides. Auf der Bundesebene - und das ist unsere verfassungsrechtliche Zuständigkeitsregelung - haben wir den Verteidigungsfall geübt, haben uns darauf vorbereitet. Es gab Warnsysteme, es gab Schutzräume, es gab diese sogenannten WINTEX-Übungen. Das war Sache des Bundes, der sich darauf vorbereiten musste. Und parallel dazu gab es natürlich in den Ländern, in den Kommunen die Vorbereitung auf sogenannte Friedensmäßige Katastrophen, also das, was wir jetzt an der Elbe und an der Donau auch wieder erlebt haben. Das gab es ja früher auch, schwere Verkehrsunfälle – Eschede als Beispiel.

Also das gab es und gibt es natürlich heute auch noch, wobei in den letzten 20 Jahren der Fokus schon stärker auf die Bewältigung friedensmäßiger Katastrophen gelegt worden ist, zumal da auch neue Herausforderungen ja anstehen. Das Thema Cyber ist angesprochen worden, Folgen von Klimawandel. Also wir müssen uns eben auch auf neue Risiken einstellen.

Hanselmann: Das wollte ich gerade fragen: Wie hat sich denn die Angst vor Katastrophen in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt? Wir haben ja gehört, vor 30 Jahren war es noch der Atomkrieg.

Unger: In Deutschland hat es Ende der 80er-, Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre ja die Hochwasser an der Oder und der Elbe gegeben, wo wir gesehen haben, dass unser System nicht optimal funktioniert hat. Das hat dazu geführt, dass wir uns intensiver wieder mit dieser Thematik befassen. Aber klar ist eben auch, ich habe es angesprochen, dass es eben auch neue Risiken gibt. Die Folgen von Klimawandel sind beispielsweise die Zunahme extremer Wetterereignisse.

Das heißt, auch das müssen wir im Blick haben, es ist nicht statisch, sondern Katastrophenschutz, Bevölkerungsschutz, wie wir es heute bezeichnen, muss sich anpassen, man muss immer daran arbeiten an der Thematik. Man kann sich nicht zurücklehnen. Jahrhunderthochwasser haben wir 2002 gehabt, jetzt schon wieder. Es gibt also Veränderungen, die wir sehen müssen, denen wir uns auch stellen müssen.

Hanselmann: Wie schaut es eigentlich historisch aus, also in welcher Tradition steht die Katastrophenhilfe, wie man ja heute sagt, und der Bevölkerungsschutz? Aus einer militärischen Tradition heraus geboren?

Unger: Nein, das sind parallele Aufgabenstellungen. Noch mal, in unserem deutschen System gibt es auch eine klare Aufgabenverteilung: der Bund, die Bundesregierung auch meine Behörde, auch das technische Hilfswerk, sind eigentlich zuständig für den Schutz der Bevölkerung im Verteidigungsfall. Die nutzen aber natürlich auch die Ressourcen, die in den Kommunen, in den Ländern vorhanden sind, zum Beispiel die Feuerwehren, die damit mehrere Aufgabenstellungen haben.

Also die Feuerwehr macht den Brandschutz, hilft in der Katastrophe, würde aber auch im Verteidigungsfall natürlich eine ganz bestimmte Rolle spielen. Also das ist nicht ein Entweder Oder, sondern im Deutschland sprechen wir von einem einheitlichen Hilfeleistungssystem, bei dem man eben auch durchaus Schwerpunkte mal verändern muss, neu setzen muss, angepasst an die neuen Gefahren und Bedrohungslagen.

Hanselmann: Gibt es auch heute noch geheime Notfallpläne?

Unger: Es gibt natürlich auch geheime Pläne, klar.

Hanselmann: Warum sind die geheim?

Unger: Es liegt nicht alles auf dem Tisch. Es ist ja auch immer noch so, dass Mitarbeiter meiner Behörde in einer Einrichtung der Luftverteidigung sitzen und auf die Radarschirme der Kollegen von der NATO und der Luftwaffe schauen, ob es eine Bedrohung aus der Luft in Gestalt von Raketen beispielsweise gibt. Also diese Systeme werden vorgehalten, sind auch noch notwendig. Insofern bedarf es natürlich auch Planungen für derartige Ereignisse.

Hanselmann: Nun kann man sich ja bestimmt nicht auf jeden denkbaren Fall vorbereiten. An welchen Punkten würde denn Bevölkerungsschutz oder Katastrophenhilfe an ihre Grenzen stoßen?

Unger: Also wir verfolgen einen sogenannten – das ist ein englischer Begriff – einen All Hazard, einen Allgefahrenansatz. Wir konzentrieren uns nicht auf bestimmte Gefahren, weil wir sehen, es kommt doch dann vielleicht anders, als man geplant, gedacht hat. 9/11 hatte auch niemand auf der Agenda. Das heißt, wir versuchen, so aufgestellt zu sein, dass wir eigentlich mit jeder Bedrohung grundsätzlich klarkommen.

Natürlich hängt es dann auch von der Dimension ab eines solchen Schadensereignisses, und bestimmte Dinge wie zum Beispiel einen Vulkanausbruch in der Eifel, darauf würden wir uns nicht mehr vorbereiten. Aber ansonsten versuchen wir, eben vom Verteidigungsfall bis hin zu großen Naturkatastrophen oder eben auch der Cyberattacke dem Grunde nach die Gefahren einigermaßen jedenfalls nach einer gewissen Zeit beherrschen zu können.

Hanselmann: Konkret wäre das Evakuieren einer mittleren Großstadt beim Atomunfall oder Ähnlichem möglich?

Unger: Das ist ein riesengroßes Problem. Wir haben das nach Fukushima gezeigt. Unsere Planungen hatten ein anderes Szenario als Planungsvoraussetzung. Wir sind davon ausgegangen, dass es, sagen wir mal, in einem Teilbereich zur Evakuierungen kommen muss. Wenn wie in Fukushima ein größerer Bereich um eine Großstadt zu evakuieren wäre, würde unser System auch aus unterschiedlichen Gründen an Grenzen stoßen.

Das haben wir erkannt, und wir arbeiten daran zusammen mit der Strahlenschutzkommission, mit anderen Gremien überdenken wir unsere Planungen, wie wir ein solches Ereignis einigermaßen, muss ich sagen, bewältigen können. Dass das dann nicht sofort funktioniert, ist auch klar, aber gerade Evakuierungsplanungen kann man im Vorfeld, glaube ich, sehr gut machen.

Hanselmann: Vielen Dank, Christoph Unger, der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, danke schön nach Bonn!

Unger: Vielen Dank fürs Interview!


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