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Neue Inszenierung von Nurkan Erpulat
Liebe die Türkei – oder verlasse sie

Der türkische Regisseur Nurkan Erpulat blickt in seiner neuen Inszenierung auf seine alte Heimat. Im Fokus stehen dabei nicht die aktuellen politischen Geschehnisse, sondern die tieferliegenden Gründe für die Entwicklungen im Land. Das könnte ein spannender Ansatz sein - wenn das Stück nicht nur Stereotype bedienen würde.

Von Barbara Behrendt | 12.11.2016
    Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Erdogan warten am 31.07.2016 in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf den Beginn der Kundgebung.
    Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Erdogan auf einer Kundgebung in Köln. Woher kommt die Verehrung für Erdogan? Erpulat möchte in seinem neuen Stück vom türkischen Alltagsleben erzählen. (picture-alliance/ dpa / Henning Kaiser)
    Dunkelblaue Wände, darauf die Konterfeis von türkischen Machthabern, knallrote Stehlampen. In der Mitte des Guckkasten-Wohnzimmers klafft ein metertiefes Loch, aus dem es qualmt wie nach einem Bombeneinschlag. Drum herum sitzt eine türkische Familie, rührt in Teegläsern – und schweigt. Einer jungen Frau baumelt ein Strick um den Hals. Die Gesellschaft am Abgrund. Ein eindeutiges Bild, mit dem der neue Abend von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu am Gorki Theater beginnt.
    Eine komisch-bizarre Szene reiht sich an die nächste
    "This is the End" singt Aylin Esener mit starrem Blick, während Lea Draeger einen mechanischen Marionettentanz am Galgen vollführt.
    Nach einer halben Stunde werden die ersten Worte gesprochen – und eine grelle, komisch-bizarre Szene reiht sich locker an die nächste. Zwei Situationen kehren immer wieder. Da ist zum einen die Familie, die vom konservativen Glaubensbruder die einzig richtige Heimstruktur eingebimst kriegt: Oben steht der Vater, darunter die Mutter, darunter der Sohn – die Tochter soll am besten gleich unter den Tisch kriechen. Von der Komödie in die Groteske treibt Erpulat die Szene, wenn dieser religiöse Familienanalytiker der Tochter erst eine Rassel in die Hand drückt und sie dann für ihr Spiel damit bestraft:
    "Du stellst dich mit einer Rassel vor deinen Vater und rasselst ihn an. Hüpfst vor ihm herum wie eine wildgewordene rassige Wilde mit einer Rassel in der Hand und lachst dabei unglaublich laut. Begreifst du denn nicht, dass es falsch ist, seinen Vater anzurasseln. Entschuldige dich!"
    "Entschuldigung."
    "Ehrlicher!"
    "Entschuldige Vater!"
    "Wofür entschuldigst du dich?"
    "Entschuldigung ..."
    "Entschuldigung, dass ich so laut gerasselt habe. Dass ich wie eine rassige Wilde herumgesprungen und dich dabei so angerasselt habe."
    "Entschuldigung, dass ich dich wie eine wilde Rassige …"
    "Rassige Wilde!"
    "Entschuldigung, dass ich dich wie eine rassige Wilde angerasselt habe. Ich entschuldige mich, dass ich mit einer Rassel vor dir herumgesprungen bin. Entschuldigung, dass ich respektlos war und dich so unglaublich groß angelacht habe."
    "Was noch?"
    "Entschuldige, dass du mir ein guter Freund warst. Entschuldige Vater, dass wir uns so nah waren."
    Die EU als Bananerepublik
    Zum anderen hängt den sechs Spielern, also "den Türken", die Europäische Union ständig so nah und doch so unerreichbar über der Nase wie die Karotte, die den dummen Esel antreibt. Nur ist es hier eben keine Karotte, sondern ein großer Ring Bananen, vermutlich genau 28, auf denen die EU-Flagge prangt.
    Die Spieler lecken sich mit aufgerissenen Augen die Lippen, reißen die Zunge aus dem Mund und recken sich nach dem Affen-Obst, bis sie bei der kleinsten Bananen-Berührung von einem Stromstoß weggezischt werden. Plakativer geht’s nun wirklich nicht. Dasselbe gilt für die Szene, in der alle dem Herrscher den nackten Hintern küssen.
    Erpulat will die tieferliegenden Gründe für die Entwicklungen des Landes erforschen
    Groß waren die Erwartungen an diesen Abend, der sich der Seele eines zerrissenen Landes annehmen wollte und schon im Titel implizit die Frage stellt: "Kann man die Türkei lieben – oder muss man sie verlassen?" Im Foyer standen Zuschauer vor der Vorstellung noch zusammen und besprachen die neusten diktatorischen Übergriffe Erdoğans. Das Gorki positioniert sich oft politisch – wo, wenn nicht hier, sollte man das Stück der Stunde zur Türkei zu sehen kriegen?
    Erpulat möchte nun gerade nicht den Kommentar zu den aktuellen Schlagzeilen liefern, sondern vom Alltagsleben in der Türkei erzählen und die tieferliegenden Gründe für die Entwicklungen des Landes erforschen. Das könnte tatsächlich ein viel spannenderer Ansatz sein als Böhmermann-mäßig gegen Erdoğan zu hetzen. Was Erpulat uns dann allerdings von der Türkei zeigt, sind müde Stereotype, die jedes Vorurteil bedienen: Die Töchter haben nichts zu sagen, die EU ist unerreichbares Sehnsuchtsland – und das konservative Wertekorsett zerquetscht die Familien. So einfach ist das also.