Betreten der Ausstellung verboten!

Von Anette Schneider · 26.11.2010
Manchmal muss man erst 70 werden, um endlich angemessen gewürdigt zu werden. So wie jetzt Timm Ulrichs, der von Kunstverein und Sprengel Museum mit einer Doppelausstellung gefeiert wird. Die Schauen umfassen Arbeiten aller Genres und Schaffensjahre des eigensinnigen Künstlers.
Was für eine niederschmetternde Eröffnung: Gerade hat man sich erfolgreich der Aufforderung "Betreten der Ausstellung verboten" widersetzt, da konfrontiert einen die Kunstverein-Kuratorin Ute Stuffer gleich zu Beginn der Ausstellung mit Timm Ulrichs Grab, einem biederen, grauen Stein samt frisch gepflanzter lila Alpenveilchen:

"Und doch ist es so ein klassischer Anfang, das Grab nicht an das Ende zu setzen, sondern an den Anfang. Wenn Sie die Grabinschrift lesen, sehen Sie den Text: 'Denken Sie immer daran, mich zu vergessen'. Ein Paradoxon natürlich, weil an was man denkt, das kann man nicht vergessen. Und es verweist schon ganz schön auf Timm Ulrichs sprachlogische Arbeiten. Aber auch den Humor in seinen Arbeiten, den intellektuellen Witz. Timm Ulrichs hat sich mit diesem Grabstein sozusagen schon ein eigenes Denkmal gesetzt."

Das machte er bereits 1969 - was sich als sehr weitsichtig erwies, denn andere, scheint's, wollen ihm so recht kein Denkmal setzen. Obwohl - oder eben weil - Timm Ulrichs mit seiner Kunst den vertrauten Gang des Alltags erheblich stört. Schon 1961 erklärte er sich zum "Totalkünstler". Sein Programm: Leben und Kunst lassen sich nicht voneinander trennen. Folgerichtig ernannte er sich noch im selben Jahr zum "Ersten lebenden Kunstwerk":

"Ich habe dadurch zeigen wollen, dass Kunst Behauptung ist. Und nicht etwas, das durch Glanz und Gloria, oder durch Unterfütterung von Kuratoren oder Kritikern das bescheinigt bekommt, sondern das ganz Alltägliche plötzlich eine Kunstwürdigkeit für sich behaupten und beanspruchen kann."

Heute gehört die Idee des "lebenden Kunstwerks" zum allgemeinen Kunstrepertoire, und fand zahlreiche mehr oder weniger überzeugende Nachahmer - von Abramovic bis zu Gilbert und Georges. Damals entwickelten sich Ulrichs Versuche, sich für eine Ausstellung einzureichen, zur Realsatire:

"Hier in Hannover hat man ja nur über mich gelacht. In Berlin haben sich dann richtig Leute, also ganz hoch im Kunstbetrieb angesiedelte Leute, darüber aufgeregt. Der hat sich dann einfallen lassen als Ablehnungsgrund: Timm Ulrichs habe sich nicht mit einem Anhängezettel eingeliefert, wie es zwingend vorgeschrieben sei bei Skulpturen und Bildern."

Die beiden großen Ausstellungen präsentieren Fotoserien, Videos, Modelle für den öffentlichen Raum, Installationen und Objekte aus 50 Jahren. Entdecken lässt sich so ein künstlerisches Multitalent mit schier unerschöpflichem Ideen- und Gedankenfundus: Im Sprengelmuseum sieht man ein Bild Timm Ulrichs als Blinden mit einem Schild um den Hals. Aufschrift: "Ich kann keine Kunst mehr sehen!"

In einer Fotoserie widmet er sich innbrünstig der Gestaltung von Hindernissen beim Pferdespringen, entdeckt Burgen, Tore, Häuser, wallende Geraniengärten. Fürsorglich gestaltet er für die Bundeswehr Möbel und Geschirr in Tarnfarben. Und er entwickelt die Arbeit "Schuss und Gegenschuss": Die zwei synchron laufenden Videos zeigen den Künstler auf dem Weg von seinem Atelier zum Sprengel Museum. Einmal filmt Ulrichs ihn mit einer Handkamera. Das andere Mal filmen Überwachungskameras:

"Also eine Kamera löst dann die andere ab, sobald man aus dem Blickfeld der einen herauskommt, nimmt einen die andere wieder gefangen. Das war mal ein Versuch zu sehen: 'Wie weit ist der öffentliche Bereich schon erfasst?'. Nun heißen diese Kameras ja euphemistisch 'Verkehrsüberwachungskameras'. Sie sind aber natürlich auch dafür gedacht, Zusammenrottungen, Volksaufstände, Demonstrationen zu beobachten, und daraus dann für die Polizei Maßnahmen nahezulegen."

Das Video entstand nicht heute - sondern 1993. Immer wieder erstaunt, wie früh Ulrichs bestimmte gesellschaftliche Probleme wahrnimmt, Fragen aufwirft und künstlerisch überzeugend verarbeitet. Dennoch ist der einstige Münsteraner Professor international kaum bekannt, selbst in einigen bundesdeutschen Anthologien fehlt sein Name. Er hätte eben, erklärt Ulrichs ironisch, nie ein "Erfolgsprodukt" geschaffen:

"Es ist mir eben auch kein Produkt gelungen, wie sagen wir mal einem Nagelkünstler, der den Nagel für sich entdeckt hat und bis heute Millionen Nägel verarbeitet hat, so als Fachidiot der eigenen Erfindung. Oder es gibt ja Leute, die machen Kopffüßler, und dann kennt man sie unter diesem Terminus. Und andere machen Fettecken. Und dann darf niemand anderes mit Fett und Filz arbeiten. Und ich habe immer wieder etwas Neues probiert. Ich geniere mich, mich zu wiederholen."

Zum großen Glück und Vergnügen für Kunsthungrige. Sie sollten sich die Doppelausstellung nicht entgehen lassen, zumindest wenn sie von Kunst mehr erwarten, als ein "Erfolgsprodukt", hübsche Oberflächen oder berühmte Namen: Timm Ulrichs ver-rückter Blick auf unsere Gesellschaft schärft den Blick auf einen uns zurichtenden Alltag. Er lässt eingefahrene Gedankengänge ins Wanken geraten, und wirkt mit seinem intelligenten Bild- und Sprachwitz wie eine geistige Verjüngungskur.

Service:
Die Timm Ulrichs Doppelausstellung ist bis zum 13.2.2010 im Kunstverein und im Sprengel Museum in Hannover zu sehen.