Besuch von Viktor Orban

Ein "Seufzer" von Helmut Kohl

Altbundeskanzler Helmut Kohl und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban aufgenommen während des Europäischen Jugendkongresses der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung 2006 im Leipziger Gewandhaus.
Altbundeskanzler Helmut Kohl und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban aufgenommen während des Europäischen Jugendkongresses der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung 2006 im Leipziger Gewandhaus. © dpa / Peter Endig
Michael Rutz im Gespräch mit Dieter Kassel  · 19.04.2016
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl wolle bei seinem Treffen mit Viktor Orban den ungarischen Ministerpräsidenten auf den europäischen Weg zurückführen, sagt der Journalist Michael Rutz. "Europa muss sich neu finden", sagt er.
"Ich glaube, dass Kohl genau weiß, was er tut", sagte der Journalist Michael Rutz über das Treffen des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl mit dem ungarischen Ministerpräsident Viktor Orban im Deutschlandradio Kultur.
"Er ist nicht mehr so artikulationsfähig, wie er das gerne wäre und wie es in seinem Alter Helmut Schmidt gewesen ist", beschrieb er den gesundheitlichen Zustand des 86-jährigen CDU-Politikers. Auch wenn er nicht alles selber getippt habe, handele es sich bei dem bereits bekannt gewordenen Vorwort eines in Ungarn erscheinenden Kohl-Buches "Aus Sorge um Europa" um dessen Gedanken, sagte Rutz, der in der Vergangenheit Fernsehdokumentationen über Kohl gedreht hatte.

Zeichen seiner Sorge

Der Journalist sagte, er sehe in den Äußerungen von Kohl keine Kritik an Merkel, sondern eher einen "Seufzer". Der frühere Bundeskanzler habe aber eine ganz andere Politik betrieben in enger Abstimmung mit den anderen EU-Staaten.
"Die Politik, die Orban betreibt, der geschlossenen Grenzen, teilt Kohl eigentlich überhaupt nicht", sagte Rutz. Er erwarte, dass diese Fragen in dem Gespräch angesprochen würden und Kohl versuche, Orban wieder auf den europäischen Weg zurückzuführen.
Kohl wolle bei dem Treffen mit Orban ein Zeichen seiner Sorge setzen, dass es in Europa so nicht weitergehen könne. Diese Sorge werde von vielen geteilt. "Europa muss sich neu finden", sagte Rutz.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Helmut Kohl gehört nicht zu den Politikern, die nach dem Ende ihrer aktiven Zeit in jedes Mikrofon sprechen, das ihnen hingehalten wird. Er hat die Politik von Angela Merkel nur ein einziges Mal öffentlich kritisiert, da ging es um ihr Verhalten in der griechischen Schuldenkrise und Kohl sagte den bemerkenswerten Satz: "Die macht mir mein Europa kaputt."
Offenbar sieht er das bei der Flüchtlingspolitik ähnlich, das kann man zumindest schließen aus dem Vorwort zur ungarischen Ausgabe seines Buchs "Aus Sorge um Europa", und das ist wohl auch der Grund für den Besuch des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban heute in Ludwigshafen-Oggersheim. Wir wollen darüber mit Michael Rutz reden. Er hat sich als Zeitungsjournalist, aber auch als Autor der Fernsehdokumentation "Helmut Kohl. Ein deutscher Kanzler" mehrmals mit dem Altkanzler intensiv beschäftigt, schönen guten Morgen, Herr Rutz!
Michael Rutz: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Helmut Kohl ist inzwischen 86 Jahre alt und gesundheitlich schwer angeschlagen. Kann man dieses Treffen mit Orban als skurrile Aktion eines alten Mannes einfach abtun oder weiß Kohl noch genau, was er tut?
Rutz: Also, ich glaube, Kohl weiß noch genau, was er tut. Er ist nicht mehr so artikulationsfähig, wie er das gerne wäre und wie es in seinem Alter, ich sage mal, Helmut Schmidt gewesen ist, der ja auch lebhaft an der politischen Debatte teilgenommen hat. Aber ich glaube, das, was da an Gedanken niedergelegt ist, auch wenn er nicht alles selber getippt hat, das stammt von ihm.
Kassel: Herr Rutz?
Rutz: Ja?
Kassel: Da waren Sie kurz weg, aber ich glaube, nur das Wort "das stammt von seiner Ehefrau", was das Tippen angeht, war unhörbar.
Rutz: Ja, ich sagte, der Gedanke stammt von ihm. Aber es mag sein, dass seine Ehefrau das auch geschrieben hat.
Kassel: Ich würde gerne einen Satz aus diesem Vorwort … Also, noch mal Erklärung, das Buch, um das es geht, ist in Deutschland bereits erschienen, aber die ungarische Ausgabe dieses Buches mit dem Titel "Aus Sorge um Europa" kommt jetzt heraus und in diesem Vorwort schreibt Kohl unter anderem Folgendes, Zitat: "Einsame Entscheidungen, so begründet sie im Einzelnen auch erscheinen mögen, müssen der Vergangenheit angehören. Es braucht in Europa wieder mehr Respekt vor der Geschichte und den Empfindlichkeiten der anderen", Zitat Ende. Das ist schon ein direkter Angriff auf Angela Merkel und ihre Politik, oder?

Unter Kohl gab es keine deutsche Sonderstellung

Rutz: Na ja, ich würde es nicht so sehen. Es ist ein Seufzer. Helmut Kohl hat ja immer eine ganz andere Politik betrieben insofern, als dass alles, was er in Europa entschieden hat, vorher mit anderen abgestimmt war. Es gab zu Helmut Kohls Zeiten in der Europäischen Union keine isolierte deutsche Sonderstellung, aus der heraus er den Anspruch erhoben hätte, andere anderen müssten sich, unabgesprochen vorher, sozusagen nach Deutschland richten. Und das ist jetzt doch der Fall gewesen. Und ich glaube, dass Angela Merkel die Situation falsch eingeschätzt hatte, dass es aber letztlich zu diesem Ergebnis gekommen ist. Und das Ergebnis ist tatsächlich besorgniserregend.
Das hat es in der Geschichte der Europäischen Union nicht gegeben bisher. Und ich hoffe, dass das auch nicht noch mal vorkommt. Wissen Sie, wir sind groß geworden mit diesem Europa, von dem wir die Hoffnung hatten, es würde uns stärker einen, und sehen jetzt da doch einen Scherbenhaufen. Deutschland war in einer wichtigen Phase ganz alleine, alle waren dagegen, das war nicht nur Ungarn, es war Österreich, alle um uns herum hatten eine andere Politik vor als wir selbst. Und das ist schon ein bedenklicher Zustand. Ich glaube, dass sich die Zeiten geändert haben und das europäische Projekt so, wie Helmut Kohl es wollte, nicht mehr durchführbar ist.
Kassel: So beschreibt er das ja auch in dem erwähnten Vorwort. Nun ist aber, Herr Rutz, das Vorwort das eine, das heutige Treffen mit Viktor Orban in Ludwigshafen das andere. Kümmert denn Kohl die Lage in Ungarn, kümmert ihn die Kritik an der Politik von Viktor Orban überhaupt nicht?
Rutz: Also, das glaube ich nicht. Helmut Kohl ist ja politisch und im Grunde genommen … als Viktor Orban. Die Politik, die Orban betreibt der geschlossenen Grenzen, teilt Kohl eigentlich überhaupt nicht. Und ich würde mal denken, dass Kohl diese Fragen auch mit Orban anspricht und versucht, ihn wieder auf einen gemeinsamen europäischen Weg auch stärker zurückzuführen. Ich meine, es ist ja lächerlich, die Aufnahme der Flüchtlinge … Wenn sie europaweit organisiert gewesen wäre, wäre es für kein Land ein Problem gewesen. Und Orban hat sich daran überhaupt nicht beteiligt und das ist ein gänzlich uneuropäisches Verhalten, das Helmut Kohl unmöglich gut finden kann. Und das wird er ihm, denke ich, auch sagen.

Kohl ist im Gespräch zu verstehen

Kassel: Aber wenn Sie sagen, Herr Rutz, er wird das ansprechen, stelle ich mir ehrlich gesagt eine ganz praktische Frage: Wir haben ihn heute Morgen auch gehört, Helmut Kohl mit O-Tönen aus den letzten Monaten. Man muss das ganz ehrlich sagen: Aufgrund seiner Erkrankung, er kann ja kaum noch deutlich sprechen, deutlich artikulieren! Wie habe ich mir denn das vorzustellen, ein Gespräch zwischen Kohl und Orban heute?
Rutz: Also, das geht schon, ja. Wenn Sie mit Helmut Kohl reden, macht er zwar undeutlich, aber nachvollziehbar für jeden Gesprächspartner klar, was er meint. Und wenn Helmut Kohl in Sorge ist wie jetzt, dann wird er diese Sätze auch so formulieren. Man kann ihn schon verstehen, wenn man sich auf ihn einlässt und vor ihm sitzt. Es taugt nicht mehr für Radiointerviews, für Fernsehauftritte, aber man kann ihn im Gespräch verstehen.
Kassel: Wir können leider Sie gar nicht so ganz gut verstehen, wir haben leider eine ganz schlechte Telefonleitung, deshalb vielleicht noch eine kurze Antwort zum Schluss: Glauben Sie, dass Helmut Kohl wirklich denkt, dass er mit dieser Aktion – das Vorwort und die Einladung an Orban – die Bundespolitik beeinflussen kann?

Europa muss sich neu finden

Rutz: Ich glaube, er möchte einfach ein Zeichen seiner Sorge setzen. Ein Zeichen seiner Sorge, dass es in Europa so nicht weitergehen kann. Und das ist eine Sorge, die von vielen geteilt wird, nicht nur in der CDU, sondern auch in der SPD, im Grunde in allen Parteien. Europa muss sich neu finden. Und Kohl als einer, dessen Erbe er praktisch den Bach hinuntergehen sieht, der sein Erbe den Bach hinuntergehen sieht … Kohl möchte, glaube ich, dazu einen Anstoß geben. Und als mehr sollte man es auch nicht werten.
Kassel: Der Journalist und Autor mehrerer Fernsehdokumentationen, unter anderem eben auch über Helmut Kohl, Michael Rutz über das heutige Treffen des Altkanzlers mit Viktor Orban und die Absichten dahinter. Ich muss es an dieser Stelle erwähnen: Wir hatten eine relativ schlechte Leitung, weil Sie, Herr Rutz, gerade sozusagen auf dem Absprung am Münchener Flughafen sind, deshalb erst recht herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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