Besuch in Amatrice

Nach dem Beben

Von Kirstin Hausen · 04.06.2017
299 Menschen sind tot, viele traumatisiert. Und viele Bewohner von Amatrice sind skeptisch, ob jemals wieder Touristen zu ihnen kommen. Neun Monate nach dem Beben liegt der Ort noch immer in Trümmern. Die von der Regierung für Ostern versprochenen Fertighäuser können erst jetzt bezogen werden. Der Bürgermeister kämpft, denn er weiß: kehren die Menschen nicht bald zurück, droht die Dorfgemeinschaft zu zerfallen.
Nando Bonanni beginnt den Tag im Schafstall. Er füllt die Tränken, begrüßt seine Treibhunde. Die Tiere sind das einzige, was ihm geblieben ist. Sein Ausflugslokal "La Fattoria" direkt an der Straße nach Amatrice ist zwar nicht eingestürzt, aber stark beschädigt. Vor dem Erdbeben lebte die ganze Familie unter einem Dach: drei Generationen. Nando versorgte die Tiere, seine Frau und sein Sohn kochten für die Gäste, die Schwiegertochter saß an der Kasse.

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Wie die meisten obdachlos gewordenen Bewohner von Amatrice und den umliegenden Dörfern ist Nandos Sohn mit seiner Familie in einem Hotel an der Küste untergekommen.
"Auch uns wurde gesagt: Geht doch ans Meer, ja, wie sollte das denn gehen? Sollte ich etwa die Schafe ans Meer bringen? Was sollen die da fressen, Sand?"
Heute sitzen Nando und seine Frau allein vor ihrem Wohncontainer, gespendet von der örtlichen Diözese, und starren auf die Trümmerhaufen, die einmal Häuser waren.
Nando Bonanni in seinem Restaurant.
Nando Bonanni in seinem Restaurant.© Deutschlandradio / C. Jungeblodt
"Dort haben Engländer gewohnt, sie sind in den Trümmern ihres Hauses umgekommen. Ich durfte ihren Swimmingpool benutzen, dafür kamen sie zu mir essen. Das waren tolle Leute, jetzt sind sie tot. So wie der 13-jährige Junge, der nur zu Besuch da war, ein Freund ihrer Kinder."
Für einen Moment verdüstert sich Nandos Blick, dann ist er wieder gefasst. Er zeigt seine Gefühle nicht gerne.
"Für Dezember hatten sie uns die Fertighäuser versprochen, neun Monate später waren in Amatrice gerade einmal 35 bezugsfertig."

Fertighäuser, die nicht fertig werden

Zornig zuckt die linke Augenbraue in die Höhe. Die Fertighäuser sind DAS Thema in Amatrice, oder besser: die Fertighäuser, die nicht fertig werden. Bis zum Winter sollten Notunterkünfte für alle bereitstehen, die obdachlos geworden waren, hatte die italienische Regierung im Herbst 2016 versprochen. Doch am 30. Oktober erschütterte ein weiteres, starkes Beben die Erde – und richtete erneut schwere Schäden an. Straßen, Brücken, Verbindungswege hatten Vorrang, die Infrastruktur musste wiederaufgebaut werden.
299 Menschen starben bei dem Erdbeben am 24. August 2016. Die Katastrophe inmitten dieser landschaftlichen Idylle. Der Boden ist fruchtbar, die Vegetation für eine Bergregion fast schon üppig.
In diesem Hotel sind viele der obdachlos gewordenen Bewohner Amatrices untergebracht.
In diesem Hotel sind viele der obdachlos gewordenen Bewohner Amatrices untergebracht. © Deutschlandradio / C. Jungeblodt
100 Kilometer weiter östlich, am Meer. Im munteren Küstenstädtchen San Benedetto del Tronto warten Hunderte von Erdbebenopfern auf gute Nachrichten. Bis Ostern werde jeder ein Häuschen aus Fertigbauteilen beziehen können, hatte man ihnen zuletzt versprochen, doch auch daraus wurde nichts. Das sei der typische Fehler der italienischen Politiker, sagt Giambattista Paganelli, der mit Frau und Tochter seit neun Monaten im Hotel Relax nahe der Uferpromenade wohnt.
"Wir haben entschieden, hier in San Benedetto nach Arbeit zu suchen und uns hier anzusiedeln, ich, meine Frau und meine Schwiegermutter. Ich glaube viele machen es so wie wir. Zurück nach Amatrice werden nur wenige gehen. Von den 3000 Einwohnern vielleicht knapp 500."
Und die Fertighäuser? Giambattista Paganelli winkt ab.

Das Leben im Hotel ist eintönig

In der Lobby sitzen auch viele alte Männer und spielen Karten. So wie sie es früher in ihren Dörfern taten. Das Leben im Hotel ist eintönig. Frühstück um acht, Mittagessen um eins, Abendessen um sieben.
Die alten Männer im Hotel spielen Karten.
Die alten Männer im Hotel spielen Karten.© Deutschlandradio / C. Jungeblodt
Heute Mittag gibt es zweierlei Nudeln; gefüllte Ravioli oder Fettuccine mit Tomatensauce, als Hauptgang Huhn oder Schwein mit Gemüse und zum Nachtisch eine Waffel mit Eis. Ornella, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, nimmt nur einen Hühnerflügel und ein paar Zucchinischeiben in Olivenöl. Dann lächelt sie entschuldigend und trägt Teller und Besteck hinaus in den Garten.
Geschlossene Räume sind Ornella ein Gräuel seit dem Erdbeben. Sie ist eine resolute Frau, das ist zu spüren. Doch ihr Blick geht ins Leere.
"Was machen wir hier den ganzen Tag? Wir räumen das Zimmer auf, dann machen wir einen Spaziergang, trinken etwas, sitzen im Pinienwäldchen, kaufen etwas ein. Ich passe auf meine Enkelkinder auf, mein Sohn fährt oft nach Amatrice, um zu arbeiten, wenn es etwas gibt. Wichtig ist, irgendwie weiterzumachen, auch wenn wir alles verloren haben."
Doch viel tun können die Erdbebenopfer im Hotel nicht. Warten. Hoffen. Bangen. Und an die Zeit zurückdenken, als Amatrice noch ein lebendiges Zentrum im Nationalpark Gran Sasso war. Wunderbar gelegen auf einem Felsplateau. Mit einem der schönsten historischen Ortskerne Italiens. Sie hofft noch, das alles mal wieder so wird, wie es einmal war.
Antonio Fontanella hatte in Amatrice ein Geschäft in prominenter Lage.
Antonio Fontanella hatte in Amatrice ein Geschäft in prominenter Lage.© Deutschlandradio / C. Jungeblodt
Diese Hoffnung haben längst nicht mehr alle Erdbebenopfer. Antonio Fontanella ist 67 Jahre alt und in Amatrice geboren.
"Vielen ist noch nicht klar, dass sie sich an etwas klammern, das es nicht mehr gibt. Die Straßen, die Häuser, die Orte unseres täglichen Lebens sind verschwunden. Und mit ihnen ihre jahrhundertealte Geschichte, die Baudenkmäler. Amatrice ist nichts als ein Trümmerhaufen. Für mich ist das ein großer Schmerz. Und ich habe Wut im Bauch. Wut auf diesen Fleck Erde, von dem ich mich verraten fühle."
Insgesamt drei Geschäfte besitzen er und seine Frau entlang der Küste, das Hauptgeschäft aber war in Amatrice. In prominenter Lage am Corso, der Flaniermeile mitten im historischen Zentrum. Nichts ist davon geblieben. Von dem Erlebten hat sich Antonio noch nicht wieder erholt. Arbeiten ist sein Mittel gegen den Schmerz. Er macht sich auf den Weg. Er will noch hoch nach Amatrice fahren, im Haus einen Ordner mit Unterlagen holen.

Eine Bar inmitten von Schutt und Trümmern

Dort angekommen hält er als erstes vor der Bar "Il Rinascimento", der einzigen Bar in Amatrice, um einen Espresso zu trinken. Drei Plastikstühle vor einer frisch getünchten Wand, innen alles neu. Betreiber Fabio Magnifici war vorher Antiquitätenhändler. Er strahlt Zuversicht aus, Mut. Als er zwei Monate nach dem Erdbeben die Bar eröffnete, einen Barista und zwei Kellnerinnen anstellte, hielten ihn viele für verrückt.
Barbesitzer Fabio Magnifici war vorher Antiquitätenhändler.
Barbesitzer Fabio Magnifici war vorher Antiquitätenhändler.© Deutschlandradio / C. Jungeblodt
"Was wir aber dringend brauchten war ein Treffpunkt, ein Licht in der Dunkelheit. Das wollte ich entzünden und es hat funktioniert. Es ging auch darum, Normalität herzustellen und den Menschen, die hier sind, etwas anzubieten. Sie haben hier eine Anlaufstelle, einen Treffpunkt und guten Kaffee."
Feuerwehrleute, Polizisten, Gemeindemitarbeiter tummeln sich in der Bar. Vor der Tür wartet Vincenzo Oddi. Er leitet die Aufräumarbeiten in der "zona rossa", dem Sperrgebiet, in das niemand ohne Erlaubnis der Feuerwehr hinein darf. Vincenzo Oddi hat schon vor Amatrice viele Erdbebenopfer bergen müssen. Zu viele, wie er selbst sagt.
"Das ist das 5. Erdbeben, bei dem ich im Einsatz bin. Aber so langsam reicht es. All diese Kinder, die wir hier tot aus den Trümmern geborgen haben, das hat mich sehr mitgenommen. Und die Alten, die überlebt haben, da fragst du dich, warum? Warum überleben die Alten und die Kinder nicht, das verstehe ich nicht."

Die einen flüchten, andere bleiben

Zurück in der Bar bestellt er sich einen Espresso und setzt sich an einen Tisch zu einer Frau, die auf dem Einwohnermeldeamt von Amatrice arbeitet, in einem zum Büro umfunktionierter Container. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern in einem Wohnwagen.
"Es gibt zwei Reaktionen: die einen sind geflüchtet, da haben Angst und Verzweiflung überwogen. Die anderen sind geblieben, auch wenn das Haus zerstört wurde. Ich weiss nicht, welche Reaktion besser ist."
Einige Hundert Meter entfernt im provisorischen Gemeindehaus warten auf dem Flur die, die geblieben sind. Die meisten wollen zum Bürgermeister. Die Tür geht auf, ein Mitarbeiter reicht Sergio Pirozzi einen Stapel ausgefüllter Formulare.
Sprechstunde bei Amatrices Bürgermeister Sergio Pirozzi.
Sprechstunde bei Amatrices Bürgermeister Sergio Pirozzi.© Deutschlandradio/ Kirsten Hausen
"Ein Privatmann braucht, um sein Haus oder das, was davon geblieben ist, abzureißen, die Erlaubnis sämtlicher Nachbarn. Wenn auch nur eine fehlt, sind ihm die Hände gebunden. Das ist eine Irrenanstalt hier, ein Teufelskreis."

Der Bürgermeister – wütend und ängstlich zugleich

Sergio Pirozzi greift zu seinen Zigaretten. Er ist Ende 40, groß und kräftig. Dunkle Augen, kurzer Bart. Die endlose Bürokratie regt ihn auf.
"Ich denke, man hätte eine Notverordnung machen müssen, wie im Krieg, wo die Entscheidungswege verkürzt werden. Hätten wir das im September gemacht, wären wir jetzt drei Mal weiter mit den Aufräumarbeiten. Das macht mich wirklich wütend."
Hinter der Wut liegt die Angst. Die Angst, die Dorfgemeinschaft könne für immer zerfallen.
"Die materiellen Schäden lassen sich beheben, das dauert, aber es geht. Der wirkliche Kampf ist der um die Gemeinschaft. Und hier meldet sich der Fußballtrainer in mir zu Wort. Wenn die individuellen Interessen vor denen der Mannschaft kommen, wird die Gemeinschaft zerfallen. Diese Mannschaft steht im Moment unter enormen Druck."
Diesem Druck halten die Menschen in Amatrice auf verschiedene Weise stand. Nando Bonanni kümmert sich um seine Tiere, Fabio Magnifici um seine Bar, Antonio Fontanella um sein Geschäft. Aber alle haben Angst, es könne bereits zu spät sein.
"Das ist eine Diaspora, wie die Diaspora der Juden. Von einem Moment auf den anderen zerstreut sich eine Dorfgemeinschaft in alle Winde. Unsere Gemeinschaft ist zerschlagen worden und das trägt zu diesem Gefühl des Verloren-Seins bei. Wir haben die Orientierung verloren und nicht zu vergessen: wir haben Menschen verloren, mit denen wir unser tägliches Leben geteilt haben."
Kirstin Hausen
Kirstin Hausen© privat
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