Berufswunsch Pokerspieler

Von Aureliana Sorrento · 10.02.2011
Bücher werden in Italien immer weniger in die Hand genommen. Dafür gibt es Fernsehen, Fernsehen, Fernsehen. In Italien unter Berlusconi werden die Staatsausgaben für Bildung und Kultur seit Jahren gekürzt.
Rom. Auf der Straße Vittorio Emanuele Orlando, nicht weit von der Piazza della Repubblica, herrscht das übliche Verkehrschaos. Nur die Libreria Feltrinelli an der Nummer 78, eine der acht römischen Buchhandlungen des gleichnamigen Verlags, bietet in weitem Umkreis relative Ruhe. Nur wenig Menschen haben sich in den Bücherladen verirrt. Diese Feltrinelli-Filiale hat Literatur und Sachbücher im Sortiment, aber keine Schmöker, daher auch normalerweise kein Laufpublikum.

Sechs Kunden an der einzigen Kasse. Ein älterer Herr in Kaschmir-Mantel durchforscht ein Bücherregal. Ein junges Paar steht am Kalender-Regal und kramt bunte Hefte hervor. Ob sie Stammkunden seien? Nein, nein, sie seien nur zufällig hier, winkt das Mädchen ab. Mit Büchern hätten sie nichts am Hut.

"Auf jeden Fall haben wir keine große Leidenschaft fürs Lesen...."

... erklärt Damiano, 27 Jahre, adrette Lederjacke, weißes Hemd, Levis-Jeans.

"Ich habe schon studiert und arbeite jetzt. Ich habe kaum Zeit zum Lesen."

"Ich glaube, dass Lesen eine Leidenschaft ist, das muss aus dir selber kommen. Vielleicht wird sie dir von jemandem übertragen, von der Familie vielleicht, ja, von der Familie."

Hinter einem Stapel Kartons mit den neu angekommenen Titeln ist der Geschäftsführer mit Ordern beschäftigt. Ein stämmiger Mann um die Vierzig, Emiliano, meint:

"Bevor ein Buch in die Bestsellerliste kommt, muss der Autor in einer beliebten Fernsehsendung aufgetreten sein. Zum Beispiel das neue Buch von Piero Citati über Giacomo Leopardi. Es ist ein wunderschönes Buch, es wurde in allen Zeitungen besprochen, aber niemand hat das Erscheinen dieses Buches gemerkt, bevor der Autor im Fernsehen aufgetreten ist."

Die Kiste ist das Leitmedium in Italien. 86,7 Prozent der Italiener geben an, täglich fernzusehen. Nur 33,1 Prozent lesen regelmäßig Zeitungen. Bücher? 2009 gaben 45 Prozent der Italiener über 6 Jahre an, im Jahr davor wenigstens ein Buch gelesen zu haben, aber 44,9 Prozent hatten nicht mehr als drei Bücher gelesen.

Torrita Tiberina ist ein 1000-Seelen-Dorf nördlich von Rom. Ein mittelalterliches Nest, das sich an einem Höhenrücken über dem Tiber-Tal rankt. Neben dem Stadttor liegt die Schule des Ortes, von deren Fenstern man weit in die Landschaft hinausblickt.

11 Uhr, Informatiklehrer Riella führt die LED-Tafel vor, die vor kurzem angeschafft wurde. Die Schüler der 8. Klasse lauschen ihm mucksmäuschenstill. Sie sind von dem neuen Lernmittel fasziniert. Raffaele etwa, ein aufgeweckter, schlanker 13-Jähriger, der klare Vorlieben hat:

"Ich lerne gerne Mathe, und nun haben wir dank des Schulleiters diese Tafeln bekommen, da kann man besser lernen, es macht Spaß. Wenn die Lehrer etwas nur vortragen, ist es langweilig. Mit diesen Tafeln macht der Unterricht Spaß."

Für die Anschaffung der elektronischen Leuchttafel hat Schulleiter Mario Poli Drittmittel angeworben. Die Computer, die im Informatikraum stehen, stammen aus Firmen- und Ministerialbüros.

"Da der Staat keine Mittel dafür zur Verfügung stellt, haben wir den Informatikraum anders finanziert. Wir haben Ministerien und Privatleute nach ausgemusterten Computern gefragt, dann bin ich mit dem Lehrer Riella hingefahren, wir haben die Computer in unsere Autos gepackt, hierher gebracht und neu zusammenmontiert."

Die Mühe hat sich jedenfalls gelohnt. Denn die Schüler sind an Bildschirme, Computer und Videos gewöhnt, mit Druckerzeugnissen können sie weniger gut umgehen. Nur wenige von ihnen behaupten, auch in der Freizeit gerne zu lesen.

Mario Poli muss aufgrund der Sparmaßnahmen der Regierung insgesamt 13 Schulen leiten – an verschiedenen Orten im Gebiet nördlich von Rom. Er kennt die Zustände in der Provinz.

"Die italienische Gesellschaft ist schon immer, sagen wir: renitent gegen die Lektüre gewesen. Man zieht das Fernsehen vor, in manchen Haushalten läuft die Kiste 24 Stunden am Tag. In dieser Schule haben wir eine kleine Bibliothek zusammengestellt, Literaturverfilmungen vorgeführt. Die Kinder sind ständig von Bildern und Fernsehern umgeben, zuhause gibt es das Fernsehen und nichts mehr, einen Computer vielleicht. Das Problem sind die Familien. Die Eltern lesen gar nichts."

Das gilt nicht nur für die Provinz von Rom.

"Die Anzahl der Analphabeten ist in Italien sehr hoch, die der Hochschulabsolventen sehr niedrig. Zirka ein Drittel derjenigen, die sich an einer Universität einschreiben, schließen das Studium auch ab."

Deshalb seien die drastischen Kürzungen beim Bildungs- und Kulturetat, die jüngst vorgenommen wurden, besonders problematisch, meint Schulleiter Poli.

"Das schlimmste an der Reform der Bildungsministerin Gelmini ist die Kürzung des Italienisch-Unterrichts und der humanistischen Fächer im Allgemeinen. Von 11 Stunden Italienisch-Unterricht sind jetzt nur 9 übrig geblieben. Dabei müssen Italienisch-Lehrer auch Geschichte und Geografie unterrichten. Das gleiche gilt für den Sprach-Unterricht."

"Ich möchte Pokerspieler von Beruf werden. Das heißt, dass du nicht zum Spaß spielst, sondern als Profi, du arbeitest für die Werbung, für Firmen. Sie geben dir einen Werbespot und du spielst, und gewinnst natürlich, gewinnst viel. Du hast einen Sponsor und spielst für den Sponsor. Ich meine, das ist ein riesiger Geschäftsbereich, da fließt viel Geld."

In Italien zahlt sich Bildung kaum mehr aus und die Berufswünsche von Jugendlichen passen sich dem an. Finanzminister Tremonti hat einmal öffentlich erklärt, Bücher könne man nicht essen. Eine Metapher, die den italienischen Arbeitsmarkt triftig beschreibt. Während andere Länder um die bestausgebildeten Fachkräfte werben, werden Akademiker in Italien zunehmend weniger gewollt.

Ein Wirtschaftssektor boomt jedoch in Italien immer noch: die Telekommunikations- und Medienindustrie. Roberto Brancaccia hat früher bei der Telecom Italia gearbeitet, heute kümmert er sich um die Gewerkschaftsarbeit in der Kommunikations-Branche.

"Die Einstellungsbedingungen von Akademikern sind unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es eine winzige Gruppe von hochspezialisierten Fachkräften, sprich: Ingenieuren, die gemäß ihrem Studienabschluss angestellt werden. Wobei man sagen muss, dass die Firmen sie durch eine langjährige Ausbildungsphase durchgehen lassen. De facto heißt es, dass sie 7 oder 8 Jahre lang unterbezahlt arbeiten. Sie können sich dennoch glücklich schätzen."

Wer keine spezielle technische Ausbildung hat, hat hingegen Pech. Um wenigstens einen Job im Niedriglohnsektor zu finden, muss ein solcher Hochschulabsolvent seinen Universitätsabschluss verschweigen.

"Callcenter sind das beste Beispiel, denn es gibt sie überall. Dort braucht man anfangs keine großen Kompetenzen. Wird eine Stelle frei, sind nur Kandidaten mit einem einfachen Schulabschluss gefragt, vielleicht noch Fachschulabschluss oder Abitur. Auf jeden Fall nicht Universitätsabsolventen. Tatsächlich haben aber fast alle, die in einem Callcenter arbeiten, ein abgeschlossenes Studium. Die Firmen wissen das. Dennoch würde man dort nicht angestellt oder sogar seinen Job verlieren, wenn man zugibt, einen Hochschulabschluss zu haben. Denn dann müsste die Firma die Ausbildung anerkennen und entsprechend gut vergüten. Das gilt nicht nur für Callcenter. Das gibt es inzwischen fast überall."

Wozu also noch studieren, wenn es auf dem Arbeitsmarkt eher nachträglich ist?
Inzwischen bereiten in Italien erste Fachschulen Jugendliche auf den neuen Arbeitsmarkt vor. Eine davon ist das Institut Santa Maria in Monterotondo, eine sogenannte paritätische Schule.

Paritätisch werden in Italien Privatschulen genannt, deren Abschlüsse staatlichen gleichgestellt werden. Nach einem Gesetz, das von der Mitte-Links-Regierung unter Prodi verabschiedet wurde, werden diese Privatschulen staatlich subventioniert, entweder durch direkte Zuwendungen oder durch Zuschüsse an die Familien der Schüler – eine Konzession an die Kirche, die die meisten Privatschulen Italiens betreibt.

Andrea Primi, Vize-Leiter des Instituts, beteuert allerdings, dass das Institut Santa Maria sich nur durch Gebühren finanziert. Wenn das stimmt, müssen sie sehr hoch sein. Denn die Schule ist mit Tonstudios, Schnittplätzen, Kameras, Probebühnen, E-books, Computern und sonstiger technischer Ausrüstung bestens ausgestattet. Im Institut Santa Maria lernt man zwar auch Sprachen – Englisch, Französisch, Spanisch –, aber der Schwerpunkt liegt auf den Show-Künsten: Gesang, Schauspiel, Kameraführung, Videoschnitt, Synchronisation. Eine Schauspiel-Schule im herkömmlichen Sinne ist es nicht, betont Vizeleiter Primi:

"Die Arbeitsfelder, auf die wir die Schüler vorbereiten, sind Film und Fernsehen, denn, wie alle wissen, gibt es in Italien keinen nennenswerten Theaterbetrieb mehr. Dennoch führen wir die Schüler gelegentlich ins Theater, damit sie wenigstens wissen, dass es auch so etwas gibt."

Es ist gerade Schauspielstunde. Die Probebühne ist ein großer, schallisolierter, dunkler Raum. In der Mitte zwei Schulbänke, an denen Marica und Sara sitzen. Sie werden nun zwei etwas überdrehte Studentinnen spielen, erklärt Schauspieldozent Marco Colibazzi.

"Wir bereiten gerade eine Variete-Show vor. Wir arbeiten hier Beispiele von Variete-Sketches seit den Anfängen bis heute durch. Die neueren kennen die Schüler schon, denn sie stammen aus Fernsehsendungen. Und jetzt spielen wir einen Sketch mit zwei Figuren, Catia und Valeria, zwei etwas überdrehte Studentinnen."

Nebeneinander sitzend leiern Marica und Sara Buchstaben herunter und hauen sich bei jedem Buchstaben gegenseitig auf die Finger. Das Spiel besteht darin, jedem Buchstaben möglichst schnell einen Namen zuzuordnen. Und dabei möglichst hysterische Laute von sich zu geben.

"Das ist ein Stück pures Variete, denn es basiert auf Techniken der Commedia dell’arte..."

...erklärt der Schauspieldozent.

In der Gesangsstunde ist hingegen Clarissa dran, und sie darf den Song, den sie singen will, selbst wählen. Clarissa ist 17 und will natürlich Sängerin werden.

Aber sie sei realistisch, sagt sie, man wisse ja nie, ob es klappt. Aber versuchen will es Clarissa auf jeden Fall, weitere Gesangsschulen besuchen, an der Stimme arbeiten, Kontakte knüpfen, um bekannt zu werden. Ansonsten nach der Schule Sprachen studieren.

Ein Studium ohne Bücher müsste es allerdings sein. Denn die Schüler des Instituts Santa Maria benutzen keine Bücher, sagt Andrea Primi.

"Am Ende des Jahres sind die Schulbücher neu, die Schüler haben sie nicht mal angerührt. Heute lesen Teenager nicht mehr, sie können keine Bücher lesen. Aber wenn man ihnen ein ebook oder Internet gibt, dann gehen sie in Wikipedia, dort verstehen sie alles. Deshalb geben wir ihnen neben den Büchern CD-Roms mit visuellen Erklärungen mit. Die werden schon benutzt, die Bücher nicht."

Zwischen einer Probe und der nächsten hat Francesco Zito von der Staatsakademie in Rom ein wenig Zeit für ein Gespräch. Treffpunkt ist eine Pizzeria in Morlupo, ein Städtchen in der Nähe von Rom, in das die Kostüme- und Requisitenlager der römischen Opern und Filmstudios verlegt wurden. Draußen im Hof kann man unter Bäumen eine ländliche Idylle genießen, die nur das Gebrumm von Lastwagen aus der Ferne stört.

Francesco Zito gehört zur alten Garde des europäischen Theaters. Als Bühnenbildner hat er an den Opernhäusern Italiens und vieler europäischer Hauptstädte gearbeitet. Ein Herr mittleren Alters, von jener frohgemuten Höflichkeit, die nichts mit Etikette und viel mit Kultiviertheit zu tun hat. Seit langem lehrt Francesco Zito Bühnenbild an der Staatsakademie in Rom.
"Ich habe mit 26 Jahren angefangen, an einer Privatakademie Bühnenbild zu unterrichten, mit 32 wurde ich Professor und seit 1984 lehre ich an der Staatsakademie. Also bin ich schon lange als Dozent tätig und habe mit den Jahren eine fortschreitende kulturelle Verarmung meiner Studenten festgestellt. In Italien wurde die Schule nach und nach degradiert. Und nun hat sich der totale Bruch zwischen den jüngeren Generationen und der Kultur vollzogen. Was ich im Ausland nicht sehe. In Spanien, in Paris – dort sind die Theater immer voll von jungen Menschen."

Es war nicht immer so. Zito erinnert sich nostalgisch an frühere Jahre, als Italien noch ein reges Kulturleben hatte. Selbst das Fernsehen, erzählt er, war damals ein Kulturträger.

"Das Italien der 70er- bis Anfang der 80er-Jahre war ein Land, das nur so sprudelte vor kulturellen Energien. Und das Fernsehen war damals ein wunderbares Fernsehen, da wurden die Inszenierungen von Strehlers Piccolo Teatro, die Filme von Dreyer und Eisenstein gezeigt. Eine beliebte Sonntagssendung war eine Adaption von Ludovico Ariostos Orlando Furioso mit Mariangela Melato in der Hauptrolle und in der Regie von Luca Ronconi. So etwas kann man sich heute nicht mal vorstellen. Heute ist das italienische Fernsehen das schlechteste der Welt."

Diese Entwicklung, meint der Professor, habe ihre Ursache im italienischen Privatfernsehen, das das Niveau des gesamten Medienangebots schrittweise gesenkt habe. Und in der Politik der letzten 20 Jahre, die Kultur zu einem Luxus-Produkt gemacht und so dem Kulturland Italien den Rest gegeben habe.

"Da es schon lange keine ausreichende Finanzierung der Theater und sämtlicher Kultureinrichtungen gibt, sind Theaterkarten wahnsinnig teuer geworden. Junge Menschen können es sich gar nicht leisten, ins Theater oder zu einem Konzert zu gehen. Heute sieht man in Theatern und Konzertsälen nur weiße Köpfe. Es war nicht so, als ich jung war. Aber damals waren Theater- und Konzertkarten unschlagbar billig, vor allem für Studenten."

Den Professor freut es dennoch, dass er bei seinen Studenten – trotz aller Bildungslücken – immer noch die gleiche Wissensdurst feststellt.

"Obwohl ich Studenten habe, die fast nichts wissen, habe ich ihnen einmal Filme von Max Ophüls vorgeführt, die Liebelei und Le Plaisir, beide im Original mit Untertiteln. Es war das erste Mal, dass sie solche, sicher nicht einfachen Filme sahen. Und sie waren hin und weg, absolut begeistert. Das heißt, dass der Staat und die Schule für die Bildung der jüngeren Generation nicht genug tun. Im Gegenteil. Der Staat tut momentan alles, um die Leidenschaft für die Kultur, um die Kultur selbst zu erdrosseln."

Schüler und Studenten aus dem ganzen Land demonstrieren gegen die jüngsten Streichungen, die sowohl den Schulbetrieb wie auch den Bestand der Hochschulen gefährden. Bei den Demonstrationen hat die Polizei mehrmals so hart zugegriffen, dass sie mehrere Studenten krankenhausreif schlug. Um sich von den Knüppeln der Beamten zu schützen, haben die Studenten Schilde aus Holz gebastelt und darauf Titel von Klassikern der Weltliteratur gepinselt: Don Quijote, Decameron, Arturos Insel, Tausend Plateaus, Hundert Jahre Einsamkeit.