Berliner Schloss

Die Hohenzollern-Fassade

28:55 Minuten
Berlin Mitte, Museumsinsel: Humboldt-Forum Berlin am Schlossplatz
Berlin Mitte, Museumsinsel: Humboldt-Forum Berlin am Schlossplatz © imago / Jürgen Ritter
Von Hans von Trotha · 18.08.2021
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Das neue Berliner "Stadtschloss" verkörpert einen Widerspruch, der seinesgleichen sucht: Im Innern soll sich mit dem Humboldt-Forum intellektuelles Leben des 21. Jahrhunderts entfalten. Die Fassade hingegen kündet vom royalen Glanz vergangener Zeiten.
"Ceci n'est pas un château". Das hier ist kein Schloss. Dieser Satz prangt in goldenen Lettern an der Fassade des sogenannten Potsdamer Stadtschlosses, ein Neubau für den Brandenburgischen Landtag mit einer den pragmatischen Notwendigkeiten angepassten Fassade, die an das Barockschloss erinnert, das an dieser Stelle einmal stand.
1945 zerstört.
Die Überreste in der DDR-Zeit abgetragen.
Nicht gesprengt.
Zweiter Preis des Wettbewerbs "Kunst am Bau" für den Preußischen Landtag.
Es erinnert an "Sanssouci", das Lustschloss gleich um die Ecke, aber auch an René Magrittes legendäres Bild von einer Pfeife mit dem Kommentar "Ceci n'est pas une pipe" – Das ist keine Pfeife.
Und es ist eine Distanzierung von der Erscheinung des neuen, alten Baukörpers.
Jetzt hat auch Berlin sein Stadtschloss wieder.
Das Berliner Schloss (eigentlich: Königliches Schloss, fälschlich auch: Stadtschloss) war von 1443 bis 1918 die Winterresidenz der Hohenzollern.
Umgebaut im Auftrag des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. und späteren preußischen Königs Friedrich I. nach Plänen des Architekten und Bildhauers Andreas Schlüter in den Jahren 1698-1713, galt es als ein Hauptwerk des norddeutschen Barock.
Bei einem alliierten Luftangriff 1945 größtenteils ausgebrannt, ließ es das Zentralkomitee der SED-Diktatur 1950 sprengen.
Auf Beschluss des Deutschen Bundestags erfolgt seit 2013 der Wiederaufbau des Berliner Schlosses zum Humboldt-Forum.
Wikipedia. Soweit die Fakten. Der Rest ist Emotion.

Das Humboldt-Forum will kein Barockschloss sein

"Wiederaufbau des Berliner Schlosses zum Humboldt-Forum."
Interessante Formulierung. Wobei das Humboldt-Forum seinem Selbstverständnis nach etwas anderes sein möchte, als es ein Barockschloss in unseren Augen ist. Auf der Website heißt es:
"Durch das Zusammenführen herausragender Sammlungen und mit einem vielfältigen Programm aus Ausstellungen, Veranstaltungen, Bildung und digitalen Angeboten regt der Besuch (des Humboldt-Forums) zu neuen Erkenntnissen über die Welt von gestern, heute und morgen an."
Auch am zum Humboldt-Forum wiederaufgebauten Berliner Schloss prangen goldene Lettern, und zwar am Tambour.

Tambour: Architektonisches Verbindungsglied zwischen einem rechteckigen Baukörper und einer Kuppel.

Da steht, Gold auf Blau:
"Es ist kein Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind."
Über dem Tambour erhebt sich die Kuppel. Über der Kuppel erhebt sich ein goldenes Kreuz.
Dazu schreibt die Kunsthistorikerin Laura Goldenbaum:
"Mehr als bei anderen deutschen Kultureinrichtungen sind die Geschichte des Ortes, die Architektur des Gebäudes und die im Humboldt-Forum neu zusammenfindenden Inhalte als überblendete Ebenen symbolpolitisch aufgeladen. Das (…) Kreuz fungiert hier nicht allein als Dachgipfelbekrönung der Kuppel, sondern auch als verstärkendes Element dieses inhärenten Konkurrenzverhältnisses. Dieser Eindruck wird verschärft durch einen schmetternden Kommentar (…) Bislang standen die 34 Zentimeter hohen, goldgefassten Lettern der umlaufenden Inschrift auf dem Tambour (…) kaum im Fokus der Diskussion, dabei können sie, beim Wort genommen, das Prinzip Humboldt-Forum empfindlich treffen (…) Alexander von Humboldt, einer der Namensgeber, (…) über den selbst sein Bruder Wilhelm nicht zu sagen vermochte, ob er 'Religion habe oder nicht', hätte vielleicht einem universal kreuzlosen Kuppelbau den Vorzug gegeben, in dem sich Erde und Kosmos und auch die verschiedenen Kulturen gleichermaßen spiegeln, wer weiß!?"
Denkmal von Karl Friedrich Schinkel in Neuruppin, der Geburtsstadt des Baumeisters. 
Ein Kuppelkreuz hatte der Architekt Karl Friedrich Schinkel ursprünglich nicht vorgesehen.© picture alliance / dpa / Winfried Rothermel
Karl Friedrich Schinkel, Architekten-Gott aller Preußen-Liebhaber und prägender Baumeister des preußischen Berlin, hatte als Abschluss der Kuppel kein Kreuz vorgesehen, vielmehr eine runde Öffnung wie beim Pantheon in Rom.
Die Kuppel sollte ursprünglich gar nicht rekonstruiert werden.
Ginge es um die Rekonstruktion eines Barockschlosses, hätte sie auf dem Bau auch nichts verloren.
Aber es geht hier nicht um Barock. Es geht um Preußen. Es geht den Schlossbefürwortern um den deutschen Nationalstaat, um eine Verneigung des zweiten deutschen Nationalstaats* vor dem ersten deutschen Nationalstaat nach der Einigung 1871.
Weil die Kuppel für das Kaiserreich des 19. Jahrhunderts steht, war es den Schlossbefürwortern so wichtig, dass sie entgegen der ursprünglichen Planung rekonstruiert wird.
Und wenn schon, dann auch mit Kreuz.

Kurz nach der Fertigstellung brach die Revolution aus

Das Kreuz erhob sich über einer Kapelle. Es steht auf einem vergoldeten Reichsapfel. In den ist, einmal rundherum, die zweite Inschrift graviert. Sie lautet:
"Im Gedenken an meinen Mann Werner A. Otto 1909 - 2011. Inga Maren Otto"
Die Witwe des Unternehmers Werner Otto hat eine Million Euro für das Kreuz gespendet und durfte sich dafür diese Widmung auf dem Reichsapfel unter dem Kreuz über der Kuppel über dem Schloss, dem zum Humboldt-Forum wiederaufgebauten Schloss wünschen. Die Süddeutsche Zeitung titelte dazu:
"Otto findet's gut."

Das Innere soll das Äußere widerlegen

Im Gegensatz zum Potsdamer Stadtschloss - oder Landtag - soll in Berlin nicht die Beschriftung oder Gestaltung der Außenhaut des Baus widerlegen, dass er das ist, was zu sein er vorgibt.
Diese Aufgabe obliegt hier vielmehr dem Programm im Inneren des Gebäudes. Das aber ist logischerweise zunächst für jemanden, der den Koloss umrundet, nicht sichtbar.
Fassade des Berliner Stadtschlosses mit fertiggestellter Kuppel.
Während sich im Humboldt-Forum intellektuelles Leben auf der Höhe des 21. Jahrhunderts entfalten soll, kündet die Fassade vom royalen Glanz vergangener Zeiten.© Laif / Katja Hoffmann
Da steht es in der gleißenden Sommersonne. Ein massiver Baukörper.
Es wirkt weniger wie auferstanden, also von unten, aus der Archäologie der Stadt wieder hochgewachsen – eher wie von oben über die Stadt gekommen, wie gelandet.
Eine unheimliche Begegnung – das ist es auf gewisse Weise, eine Überwältigung – welcher Art, darüber muss man erst einmal nachdenken, indem man sich dem riesigen Gebäude nähert, vorbei am Kronprinzenpalais, einer Art Ost-Variante eines als altes Gebäude camouflierten Neubaus …

Camouflage, französisch: Verschleierung, steht für: militärische Tarn-Kleidung und Anstriche, siehe Tarnung, in der Sozialpsychologie für eine Technik der Abwehr.

… und vorbei an der sogenannten Bertelsmann-Repräsentanz, einer Art West-Variante eines als altes Gebäude camouflierten Neubaus.
Und dann – das Schloss, das zum Humboldt-Forum wieder aufgebaute Schloss.
Die schiere Masse hat tatsächlich etwas Unheimliches, weil Einschüchterndes, zumal die Fassadengliederung der Massivität nicht viel entgegensetzt. Das, was da steht, scheint so, wie es da steht, dort, wo es steht, erst einmal nicht hinzugehören.
Dabei ist das gerade immer das Hauptargument derer gewesen, die für dieses Schloss gekämpft, gestritten und Geld gesammelt haben: dass es dorthin gehört.
Aber vielleicht steckt gerade da ein Denkfehler. Vielleicht gehört etwas, das einmal an einen Ort gehört hat, aber lange weg war, dann nicht mehr dorthin? Vielleicht ist es dann fehl am Platz, weil die Welt, die unmittelbare Umgebung ebenso wie die Zeitläufte, das, was wir Geschichte nennen, sich weitergedreht hat. Diese Erfahrung, dass die Welt sich weitergedreht hat und weiter dreht, soll diese Architektur aufhalten.

Ein Bau, der zeigen sollte, wo die Macht sitzt

Ganz gleich, wie ein Bau definiert wird, was er sein will oder sein soll, was man gern hätte, dass er wäre – er spricht zu uns. Und das tut er unmittelbar. Er beeindruckt uns, leitet unsere Gedanken, manipuliert unsere Gefühle, löst Assoziationen aus, und das unabhängig von jeder Intention einer Architektin, eines Architekten oder eines Bauherrn und vor jeder Interpretation.
So ein barockes Königsschloss, das war dazu gedacht und gemacht, zu zeigen, wo die Macht sitzt.
Und uns spüren zu lassen, wie klein wir sind.
Wie stellt sich jemand, die oder der zufällig hier vorbeikommt, von einem Humboldt-Forum nie etwas gehört hat, also einfach sieht, was da steht, wie stellt die oder der sich wohl das Leben hinter dieser Fassade vor?
Das Wort hat Karl Ludwig von Pöllnitz, Kammerherr Friedrichs II:
Sobald der König erwacht war, rief der Kammerlakai, der die Wache gehabt hatte, die Kammerdiener, die sofort eintraten, die Bett- und Fenstergardinen öffneten und dem übrigen Dienst die Anzeige machten, dass der König auf sei.
Da spielt einer Versailles und wär gern Ludwig XIV.
Der Dienst tuende Kammerherr, der Kammerjunker und ein Offizier, welche die Wache hatten, traten hierauf mit einer tiefen Reverenz ein. Nach ihnen kamen die Leibärzte, denen der König sagte, wie er geschlafen habe. Hierauf brachten Kammerlakaien eine große silberne Tafel, auf welcher der Kaffee serviert war. Der erste Kammerdiener präsentierte den Kaffee dem König auf einem goldenen Teller und die Kammerlakaien allen beim Lever des Königs ...
Ich sag's ja, das soll Versailles sein. Ist aber Berlin.
… anwesenden Standespersonen. Zwei Tassen musste man durchaus nehmen, wenn man nicht einem Verweis sich aussetzen wollte.

"Ein Kokon der Kriecherei, ein Hort der Unwahrhaftigkeit"

Und später, im Wilhelminischen Kaiserreich?
Auch hinter den prächtigsten Goldfassaden glänzt nicht alles. Der Publizist Dieter Hildebrandt kommt in einem Buch mit dem Titel "Das Berliner Schloss, Deutschlands leere Mitte" über die Bewohner des Schlosses und das Schloss selbst zu dem ziemlich harschen Urteil:
"Es wurde, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, zu einem Kokon der Kriecherei, zu einem Hort der Unwahrhaftigkeit, zu einer Fassade für ein Gespinst aus Lüge, Feigheit, vertuschten Skandalen, niedrigen und erniedrigten Gesinnungen."
Als Zeugen führt Hildebrandt unter anderem Hildegard Freifrau von Spitzemberg an, die notierte:
"Was mir so sehr betrübend ist, ist die Gesinnung des Kaisers … : Nicht von seinem legalen, verantwortlichen Dienern will er beraten sein, sondern als 'Pfiffikus Schmärrle', als Tyrann, hofft er, von Kreaturen, die ihm ihre unverdiente Stellung verdanken, besser bedient zu werden, sät Neid, Hass, Misstrauen, knechtische Gesinnung unter seinen höchsten Beamten aus und öffnet dadurch der Gemeinheit in jeder Form die Tür."
Der Berliner Boulevard Unter den Linden auf einer Fotografie aus dem Jahr 1881.
Der Boulevard Unter den Linden im Jahr 1881© akg-images
"Der Schlossbau in Berlin ist ein hochsymbolischer Akt, der dieses ganze Thema der Monarchie wieder ins Zentrum Berlins rückt, und zwar städtebaulich, aber auch höchst symbolisch", sagt Sophie Schönberger, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Düsseldorf.
Doch das Hauptargument für den Schlossneubau ist stets das städtebauliche gewesen.
Hieß es zumindest immer.
Was sind die "Linden" ohne das Schloss?, hat Wolf Jobst Siedler gefragt, der Nestor der konservativen deutschen Nachkriegsintellektuellen, eine Art geistiger Übervater der Schlossrekonstruktion. Er schrieb 1991:
"Die leidenschaftlichen Gegner der Wiederherstellung verschwundener Baudenkmäler können einem allmählich leid tun. … Seit Jahrzehnten kämpfen sie nun gegen den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten oder im Nachkriegswahn abgerissenen Werke, da deren Rettung oder Rekonstruktion ja nur auf Falsifikate hinauslaufe. … Die Dome und Schlösser aus alter Zeit seien nun einmal nicht mehr vorhanden; sie nach den Katastrophen wieder aufbauen zu wollen, liefe auf bloße Kopien hinaus, die den Nachgeborenen nun auch noch ihre Geschichte nehmen wollten. Mit Mut zum Zeitgenössischen müsse man die Verluste hinnehmen und aus dem Geist der Gegenwart die Lücken füllen."
Damit hat Siedler diejenigen, die er verächtlich als Fetischisten des Ursprünglichen abkanzelte, bei allem Mitleid in ihrer Argumentation sehr einfühlsam verstanden. Aber er hielt nichts von der architektonischen Potenz seiner Zeit:
Es geht um etwas ganz anderes, nämlich ob man den Architekten unserer Tage zutraut, in einem so sensiblen Zusammenhang, wie es die Mitte des klassischen Berlin ist, mit zeitgenössischen Mitteln die kahlen Flächen zu füllen, die der Abriss des Stadtschlosses, des Kommandantenhauses und der Bauakademie hinterlassen hat.

Warum leben Architekten gern in Altbauwohnungen?

Vielleicht wäre es auf den Versuch angekommen. Es hat ja Entwürfe gegeben – und keineswegs alle waren so erschütternd fantasielos-banal-monumental wie die jetzt entstandene Ostfassade von Schloss-Architekt Franco Stella mit der dritten Inschrift:
"HUMBOLDT FORUM"
Ein Filmhistoriker hat einmal beobachtet, dass Intellektuelle in europäischen Nachkriegs-Filmen der Fünfziger- und Sechzigerjahre meistens in Neubauten wohnen, in Häusern oder Wohnungen also, die die eigene Zeit repräsentieren.
Seit den 80er-Jahren werden Intellektuelle dagegen fast immer in Altbauten gezeigt, Wohnungen aus einer Vergangenheit, in der sie sich eher zu Hause zu fühlen scheinen als in den Gebäuden, die von ihren Zeitgenossen für sie gemacht sein sollten.
Es heißt übrigens, dass viele Architektinnen und Architekten unserer Tage auch lieber in umgebauten Altbauwohnungen leben als in Häusern, die sie der Nachwelt hinterlassen werden.
Dabei prägen alle Häuser die Städte. Und sie sprechen zu uns, als einzelne Bauten wie auch als Ensemble – als Stadt.

Sehnsucht nach Wiederherstellung der alten Ordnung

"Also jetzt fang ich wieder mal an zu diktieren. Mal sehen, ob es diesmal gut klappt."
Hermann Henselmann, 1905 bis 1995, Architekt. Er ist unter anderem bekannt für den Entwurf des Berliner Fernsehturms und für seine sozialistisch-klassizistischen Bauten der 1950er-Jahre, etwa Frankfurter Tor und Strausberger Platz.
"Sozialistisch-klassizistisch" – da klingt, verknappt, dieselbe Sehnsucht nach der Wiederherstellung der verlorenen preußischen Ordnung
– hier: klassizistisch –
in der Gegenwart
– hier: sozialistisch –
an, aber immerhin noch im Glauben, man habe dem Vergangenen, dem Klassizistischen, architektonisch etwas Eigenes, Sozialistisches hinzuzufügen.
"In meinem Arbeitsraum hängt ein alter Stich. Punkt. Er schildert die Stadt Görlitz vor vierhundert Jahren. Punkt. Er ist einem alten vierbändigen Werk entnommen mit dem Titel – Doppelpunkt: Schaubühne der hervorragendsten Städte der Erde. Irgendjemand hat einmal gesagt: Die interessanteste Fläche, die es auf der Welt gibt, ist das menschliche Gesicht. – Punkt. – Das ist richtig – Bindestrich. Aber gleich danach kommt die Stadt. Punkt." So Hermann Henselmann.
Wolf Jobst Siedlers Argumentation:
Es geht um etwas ganz anderes, nämlich ob man den Architekten unserer Tage zutraut, … mit zeitgenössischen Mitteln die kahlen Flächen zu füllen …
… hat neben dem eklatanten Mangel an Selbstbewusstsein mit Blick auf die eigene Gegenwart und einer ausgeprägten Sehnsucht nach Vergangenheit auch, aber nicht nur im Stadtbild einen Haken:
Da war gar keine kahle Fläche. Der Platz war nicht leer.
Vom Abendlicht angestrahlte Fassade des Palasts der Republik.
Der Berliner Palast der Republik war der Sitz der DDR-Volkskammer und fungierte als öffentliches Kulturhaus.© Imago / Lars Reimann
"25. April 1976. Das Volk strömt, um sein Haus in Besitz zu nehmen. 100.000 Menschen besuchen den Palast der Republik am ersten Wochenende. Das Teuerste vom Feinsten, pünktlich fertig nach nicht einmal drei Jahren Bauzeit. Kosten: 750 Millionen DDR-Mark. Ein realsozialistischer Prunkbau auf dem ehemaligen Schlossplatz." So das DDR-Fernsehen damals.
Im Palast der Republik wurde immerhin die deutsche Einheit/der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik beschlossen. Er wurde trotzdem abgerissen, auf der Grundlage eines Bundestagsbeschlusses von 2003.
Die "kahle Fläche", mit der Siedler argumentierte, musste also zuerst erzeugt werden.
Aber dann war sie da.
Der Publizist Dieter Hildebrandt bezeichnete sie 2011 im Untertitel seines Buches "Das Berliner Schloss" als "Deutschlands leere Mitte".
Und er meinte: "Die Frage 'Schloss oder Nicht-Schloss' war aber nicht allein entscheidend. Die Debatte ging vor allem um ein weites Feld, das keine Metapher war, sondern mitten in der Hauptstadt lag. Um eine Brache, über die der scharfe Wind eines mehrfach verhunzten deutschen Schicksals, einer katastrophalen Selbstzerstörung der Nation wehte. … Dabei war der Platz zwischen den beiden Spreearmen zunächst ja gar nicht leer, sondern mit dem Glaskasten des 'Palastes der Republik' halbwegs besetzt und dem Namen nach doch ziemlich genau das, was sich das vereinte Land an dieser Stelle bestenfalls wünschen konnte: einen Bau als Monument der Demokratie, begehbares Einheitsdenkmal, Gravitationszentrum fürs republikanische Bewusstsein."

"Die Deutschen lassen ihren Hass an Steinen aus"

"Der Palast muss politisch weg." Hermann Prasser, einer der Architekten des Palastes der Republik. Er gab ZEIT-Online damals ein Interview:
"Das ist, weil die Bundesrepublik Deutschland sowohl die Russen als auch die Kommunisten hasst. Das ist Hass. Ulbricht hat das Schloss abgerissen, weil er den Kaiser gehasst hat. Das sind die Deutschen. Ich will mal die Deutschen schildern: Die Deutschen, wenn die Hass haben, dann lassen die ihren Hass an den Steinen aus. Also die beseitigen nicht den Geist, der ist noch da, deutsch ist deutsch, aber die Steine, die müssen weg."
Ein interessanter Gedanke – der im Umkehrschluss die Frage aufwirft: Was sagt es über einen Staat, eine Gesellschaft, eine Zeit aus, wenn sie andersherum ganz bestimmten alten Steinen so viel Bewunderung entgegenbringen und Überzeugungskraft zugestehen, dass sie diese, so sie einmal weg sein sollten, unbedingt zurückhaben müssen?
Der zitierte Essay von Wolf Jobst Siedler trägt die Überschrift "Das Schloß lag nicht in Berlin – das Schloß war Berlin".
Er erschien zuerst in einem Band mit dem Titel "Abschied von Preußen".
Was er beflügelt hat, war aber, wie sich inzwischen herausstellt, das Gegenteil – eine Art Rückkehr nach Preußen.

Entschädigungsprozess wegen Enteignungen

Würde jemand heute nach hundertjährigem Dornröschenschlaf wieder aufwachen – sie oder er würde nicht schlecht staunen über das Berlin des Jahres 2020.
Da ist ja nicht nur das Schloss oder das zum Humboldt-Forum wiederaufgebaute Schloss.
Da ist ja auch noch der Prozess.
Der Entschädigungsprozess, den die Familie Hohenzollern mit dem Land Brandenburg führt. Darin geht es um staatliche Entschädigungen für Enteignungen in der Zeit der Sowjetbesatzung zwischen 1945 und 1949.
"Unter uns – so schrecklich das Gebiss von Alexander Gauland ist, das ist nicht das größte Verbrechen, das wir Deutschen in unserer Geschichte begangen haben."

Wird Geschichte jetzt vor Gericht verhandelt?

"Die geltend gemachten Ansprüche der Familie Hohenzollern muten zumindest teilweise etwas befremdlich an", meint die Rechtsprofessorin Sophie Schönberger.
"Der Streit mit den Hohenzollern hat eine ganz klare juristische Dimension, die sich ja in dem laufenden Verwaltungsverfahren und vor allen Dingen auch in dem laufenden Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Potsdam niederschlägt. Hier geht es um die Frage, welche gesetzlichen Ansprüche Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen heute noch zustehen, und zwar einzig und allein im Hinblick auf die Enteignungen in der sowjetisch besetzten Zone zwischen 1945 und 1949. Neben diese juristische Dimension tritt aber ganz klar eine gesellschaftliche Dimension, die die Frage danach stellt, wie man heute mit einem monarchischen Erbe umgehen möchte."
Wird da jetzt womöglich Geschichte vor Gericht verhandelt?
"Wir haben in diesem Fall die ungewöhnliche Konstruktion, dass das Recht in gewisser Weise auf die Geschichte verweist, nämlich mit der sogenannten Unwürdigkeits-Klausel, also mit der Frage, ob der ehemalige Kronprinz dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet hat", sagt Schönberger. "Das ist in erster Linie einmal eine historische Frage, und Juristen verarbeiten das in ihren Kategorien weiter."
Der Historiker Eckart Conze hat der Sendung "Kulturfragen" im Deutschlandfunk dazu ein Interview gegeben – und den Fall aus der Sicht der Geschichtswissenschaft in wünschenswerter Klarheit zusammengefasst:
"Wilhelm von Preußen, der Kronprinz, … war sehr erheblich verstrickt mit dem aufsteigenden Nationalsozialismus, bereits vor 1933, aber auch dann nach dem 30. Januar 1933. … Das ist das Urteil des Historikers. Juristen folgen in diesen Dingen einer eigenen, einer juristischen Logik, der ich nicht vorgreifen kann. Aber man muss doch schon feststellen, dass die historische Logik, die historische Analyse überhaupt keinen Zweifel an der Tatsache zulässt, dass Kronprinz Wilhelm, aber im übrigen auch sein jüngerer Bruder August Wilhelm, dem Nationalsozialismus erheblichen Vorschub geleistet haben."

Unterschiedliche Gutachten von Historikern

Zur Frage, ob Mitglieder der Familie Hohenzollern dem Nationalsozialismus erheblich Vorschub geleistet haben, liegen mehrere Gutachten von Historikern vor, die zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen. Sie alle sind auf der von Jan Böhmermann eingerichteten Website hohenzollen.lol einsehbar.
Sollte es über den Prozess am Verwaltungsgericht Potsdam hinaus tatsächlich zu weiteren Prozessen kommen, die Familie Hohenzollern gegen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland oder das Land Berlin fände die nun vor der Kulisse einer wieder auferstandenen Hohenzollernfassade statt.
Reiner Zufall.
Kennt die Geschichte die Kategorie "Zufall"?
"Der Schlossbau in Berlin ist ein hochsymbolischer Akt, der diese ganzen ungewöhnlichen Konflikte, dieses ganze Thema der Monarchie wieder ins Zentrum Berlins rückt, und zwar städtebaulich, aber auch höchst symbolisch", so Sophie Schönberger.
"Die Idee kommt ja aus den neunziger Jahren, aus einer Zeit, als die Monarchie oder zumindest der Glanz der Monarchie noch ein gewisses Revival erlebt hat in der Bundesrepublik. Diese Zeiten sind jetzt vorbei, und trotzdem wird gerade jetzt das Schloss in dieser Form neu aufgebaut. Das ist eine symbolische Entscheidung, eine große symbolische Entscheidung mit Strahlkraft, die man nicht alleine auf eine städtebauliche Entscheidung reduzieren kann. Sondern die Monarchie wird auf einmal höchst symbolisch als neu erschaffenes Gebäude ins Zentrum der neuen Republik gerückt."

Verändertes geschichtspolitisches Klima

"Dass die Hohenzollern derzeit so selbstbewusst und zum Teil auch offensiv ihre Forderungen erheben, hat auch etwas zu tun mit einem veränderten oder in Veränderung befindlichen geschichtspolitischen Klima, in dem die Geschichte dieses ersten deutschen Nationalstaats, des Kaiserreichs, doch in ein weicheres Licht getaucht wird seit einigen Jahren", sagt Eckart Conze. "In dem nicht die Kriegsgeburt dieses Reiches im Krieg gegen Frankreich, dieser aggressive Charakter des Nationalstaates, dann erst recht nach 1890 im Wilhelminischen Zeitalter, aber auch die autoritären Strukturen dieses Systems im Mittelpunkt stehen, sondern wo es Kräfte gibt … , ein weicheres Bild zu zeichnen und dieses Kaiserreich als Nationalstaat anschlussfähig zu machen auch für die Bundesrepublik, des neuen Nationalstaats seit 1990."
Sophie Schönberger findet: "Die Verhandlungen mit den Hohenzollern zeigen am Ende, dass die Bundesrepublik in gewisser Weise noch ein ungeklärtes Verhältnis zur Monarchie hat."
Das, so sieht es aus, bringt jetzt auch das Stadtbild in der Mitte von Berlin zum Ausdruck, und zwar massiv.
"Ceci n'est pas un château."
"Irgendjemand hat einmal gesagt: Die interessanteste Fläche, die es auf der Welt gibt, ist das menschliche Gesicht. Das ist richtig. Aber gleich danach kommt die Stadt."
* Redaktioneller Hinweis: Wir haben den Text an dieser Stelle aufgrund eines Fehlers leicht gekürzt.

Bei dem Feature handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung. Die Erstausstrahlung der Sendung war am 09.09.2020.

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