Berliner Philharmoniker

Fremde Vertraute

Der Dirigent Simon Rattle
Der Dirigent Simon Rattle © Monika Rittershaus/Musikfest Berlin
13.11.2016
Mahler und Boulez, Spätromantik und Moderne: Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker suchen Kontraste und finden Gemeinsamkeiten. Düstere Musik und grelles Flackern - eine Reise durch die Nacht.
Es ist "Eine große Nachtmusik", die die Berliner Philharmoniker aufs Programm ihres jüngsten Konzerts gesetzt haben – ein Programm, das auch im Rahmen einer ausgedehnten Nordamerika-Tournee präsentiert wird. Die Kombination aus einem kurzen, klein besetzten Werk von Pierre Boulez und einer ausladenden Sinfonie von Gustav Mahler wirkt auf den ersten Blick schroff, schafft aber viele überraschende Zusammenhänge.
Damit ist weder eine musikalische Anspielung des Komponisten Boulez auf Mahler, geschweige denn die intensive Beschäftigung des Dirigenten Boulez mit seinem großen Vorgänger gemeint. Vielmehr frappieren an dem 1965 entstandenen "Éclat" verwandte instrumentale Vorlieben, denn Boulez gemeindet in sein kleines Ensemble eher unübliche Zupf- und Saiteninstrumente ein – ganz wie Gustav Mahler, der durch die Klangmassen seiner rund sechs Jahrzehnte zuvor komponierten Siebten Sinfonie Gitarre und Mandoline tönen lässt. Bei Mahler handelt es sich dabei um einen – wenn auch ironischen – Rückgriff auf romantische Impressionen von nächtlichen Serenaden, während Boulez mit den trockenen Klängen der Zupfinstrumente die bewunderte traditionelle Musik Japans heraufbeschwört.
Beide Werke sind zudem deutlich von der Bildenden Kunst beeinflusst. Mahler beschäftigte sich während der Arbeit an seiner Siebten mit der "Nachtwache" von Rembrandt, die in diesem Werk einige Spuren hinterlassen hat. Tatsächlich wird diese Sinfonie, die sonst (und zu Unrecht) eher als Nebenwerk Mahlers gilt, in Holland besonders geschätzt, wo sie zu den Paradestücken des Concertgebouw-Orchesters gehört. Und Boulez führte die geradezu perspektivische Anordnung seiner Klangfarben selbst auf die Inspiration durch Malerei zurück – in diesem Fall auf die Gemälde Paul Klees. Zu guter Letzt entwirft das ungleiche Komponisten-Paar seinerseits Bilder, indem es Eindrücke undurchdringlicher Finsternis mit harten Lichtkontrasten konfrontiert. Die furiose, fast filmisch anmutende Klangzersplitterung, die Mahler im Scherzo der Siebten wagte, nimmt gedanklich wie spieltechnisch einiges von der nach 1945 entstandenen Avantgardemusik vorweg. Boulez benennt die Lichtbrechungen seiner Musik gleich im vieldeutigen Titel "Éclat", der mit "Splitter, Knall, Aufblitzen" übersetzt werden kann.
Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker erweisen sich auch in diesem Programm als hintersinnige Dramaturgen, die Werke des großen Repertoires durch herausragende Stücke der Moderne fulminant beleuchten und so durch kleine Kunstgriffe große Wirkungen erzielen können. Mit Boulez‘ "Éclat" und Mahlers Siebter greift Rattle ein Programm auf, das er schon einmal in Berlin dirigiert hat – das war 1999. Unter dem Eindruck dieses Konzerts wählten ihn die Berliner Philharmoniker kurz darauf zu ihrem Chefdirigenten. Bald wechselt Sir Simon zum London Symphony Orchestra, und in Berlin, wo man es ihm keineswegs immer leicht gemacht hat, konzentriert sich bereits alles auf seinen designierten Nachfolger Kirill Petrenko. Aber den Mut, die Originalität, die Spielfreude sowie die selbstredend britische Exzentrik eines solchen Abends mit Sir Simon Rattle - das alles wird man in der deutschen Hauptstadt noch sehr vermissen.
Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 5. November 2016
Pierre Boulez
"Éclat" für 15 Instrumente
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 7 e-Moll

Berliner Philharmoniker
Leitung: Sir Simon Rattle