Donnerstag, 25. April 2024

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Entlang der Erft
Als Brandt nach Bad Münstereifel kam

Hier brannten die Römer Kalk, erlangte Tuch Weltruhm, leitete Hitler den Westfeldzug: Entlang der Erft, einem Nebenfluss des Rheins, wurde Geschichte geschrieben. Franz Nussbaum ist einige Kapitel mit dem Rad abgefahren. Und lernte dabei, wo sich der bislang einzige Kanzlerrücktritt der Bundesrepublik anbahnte.

Von Franz Nussbaum | 26.10.2014
    Blick auf Fachwerkhäuser und Fluss mit Brücke in Bad Münstereifel
    Im beschaulichen Bad Münstereifel eröffnete das erste Outlet-Center in einer deutschen Innenstadt. (picture alliance/ dpa/ Oliver Berg)
    Jede interessante Geschichte braucht eine Quelle, alte Historiker- und Journalisten-Weisheit. Als wir diese Quelle der Erft im Eifeldörfchen Holzmühlheim in 543 Metern Höhe suchen, kommen wir in einen Platzregen. Vom Regen in die Traufe. Eine biblische Sintflut. Erft-Quelle und Asphaltstraße, alles unter Wasser. Wassermassen stürzen sich hundert Höhenmeter abwärts. Die Straße ist bei zehn Prozent Gefälle am helllichten Tag nicht mehr befahrbar. Eine mächtige Eiche, die einigen Radfahrern Wetterschutz angeboten hatte, kapituliert vor den Unwägbarkeiten der Natur. So plötzlich wie es angefangen hatte, hört es nach einer Stunde wieder auf. Die Eifelwälder dampfen. Alle und alles pitschnass. Hier machen wir einen Schnitt.
    Und nun beginnen wir in trockenen Ersatz-Klamotten neu in Bad Münstereifel. Wir betreten den Kneipp-Kurort durch das Orchheimer-Tor. Und wir werden schon wieder von einer Sintflut eingeholt. Die Stadt-Chronik:
    "Anno 1416 fiel bey nacht ein Wolkenbruch ernieden über der Statt Munster Eyffel, da die Leute schliefen. Das Wasser reis ein gros theil der Mauer und Statt hinweg, ertrenckte viel Volkes und Viehes, die hernach ein Meil oben der Statt im Felde gefunden wurden. Und führte weg und verderbte ein großes Gut."
    Solche Wassermassen sind hier trotz Vor-Staubecken so sicher wie Weihnachten und Ostern im Kirchenkalender. Münstereifel, das "Münster" in der Eifel an der Erft. Harald Bongart:
    "Ja, die Erft ist ein viel zu wilder Fluss gewesen. Was wir jetzt im Hintergrund hören, ist das Erftrauschen, wo die Erft also an der oberen Schlosspforte nach Münstereifel hineinschießt. Münstereifel ist ja ein historischer Stadtkern, der komplett von einer Stadtmauer umgeben ist. Münstereifel liegt in einer Tallage, man konnte die Erft nicht um die Stadt herumleiten."
    Also mitten durch das Städtchen. Wer war zuerst hier? Eindeutig das Wasser von oben. Und fast jede Hausfassade steht hier unter Denkmalschutz, die Erft aber nicht. Und beide könnten uns interessante Geschichten erzählen, wenn man sie befragt.
    Hitler, Brandt, Heino
    Fragen Sie mal die ehemalige Lateinschule der Jesuiten, heute ein Gymnasium. In der Gegenreformation, noch in der Zeit des 30-jährigen Krieges, wird Münstereifel zu einer Eifel-Festung des Katholizismus postuliert. Das Ortsbild wurde von den sechs Klöstern in Kutten und Hauben beherrscht.
    Oder eine fassbarere Reisenotiz aus der jüngeren Zeit. Hochpolitisch. Vor 40 Jahren entscheidet sich in Bad Münstereifel der Rücktritt oder der Sturz von Willy Brandt als Bundeskanzler. Wir lesen zusammengefasst:
    "Am Abend des 05. Mai 1974 treffen sich hier unter vier Augen Bundeskanzler Willy Brandt und der SPD-Fraktionschef Herbert Wehner zu einer Bewertung der besonderen Gemengelage. Wenige Tage zuvor ist Brandt ein geheimes Dossier mit Aussagen von Sicherheitsbeamten über Details seines Privatlebens bekannt geworden. Im engsten Kreis werden in Münstereifel die Möglichkeiten einer politischen Erpressbarkeit, auch in Folge der Guillaume-Ausspähung diskutiert. Am folgenden Tag tritt Bundeskanzler Brandt in der nahen Bundeshauptstadt Bonn zurück."
    Geschichte, die die Zeit berührte. Die Geschichten aus und über Münstereifel sind abendfüllend und fokussieren sich nicht nur auf den Sänger Heino Kramm mit der Sonnenbrille, der hier hier wohnt und ein Café betreibt. Eine andere Denk-mal-nach-Notiz:
    "Im Frühsommer 1940 leitet Adolf Hitler aus seinem Führerhauptquartier 'Felsennest' bei Münstereifel den militärischen Überfall auf Frankreich, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden, der am 10. Mai beginnt."
    Auch so etwas erzählt uns die Erft, wenn man sie gründlich danach fragt. Und keine Spekulation, vom ehemaligen "Felsennest" sind nicht mal Ansätze einer Ruine für ewig Gestrige zu bewallfahrten.
    Seit einigen Wochen trägt das Städtchen auch den Namen "Bad Outlet". Die denkmalgeschützte Innenstadt ist an drei Investoren verkauft worden. Und die betreiben nun hier Markenkleidung-Fabrik-Verkaufsstellen. Nun drängt sich viel Volk als Schnäppchenjäger durch die engen Gassen. Sie denken, ich trage Marke, also bin ich. René Descartes lässt grüßen.
    Von den Römern ausgebaut
    "Weiter, weiter" drängt uns die Erft. So rollen wir, immer leicht bergab, oft über Schotter, abseits der Autostraßen, nah an der Erft entlang. Und schon wieder bremst uns der Fluss und zeigt auf den Ort Iversheim und murmelt.
    "Ab hier bin ich vor knapp 2.000 Jahren von den Römern sogar schiffbar ausgebaut worden. Schiffbar für flache Lastkähne, auf denen der kostbare Bau-Kalk in Tonnen zu den großen römischen Baustellen nach Köln, Xanten oder Trier transportiert wurde. Den Germanen fiel damals der Unterkiefer runter, als die kühnen Wasserleitungsviadukte aus Stein und mit dem Kalk aus Iversheim nach Köln gebaut wurden. Der Ausbau der Erft bis nach Neuss war eine gewaltige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Militärs, Sklaven, aber auch für germanische Tagelöhner", sagt uns die Erft.
    Und seitlich von Iversheim ist ein Kalkstein-Steinbruch. Also bauen die Römer hier sechs gewaltige Kalkbrennöfen, jeder fünf Meter hoch. Die Öfen verbrauchen allerdings auch Unmengen Brennholz. Es wird abgeholzt. Das Kalkgeschäft wird damals von der 30. römischen Legion betrieben. Und der Offizier Titus Aurelius Ulpia weiht seiner Göttin Minerva hier einen Stein und meißelt sich als "Magister calcarium" ein. Und Helmut Ruß führt uns durch die Ausgrabungen im Kalkofen-Museum.
    "Kalkindustrie war für die Römer lebenswichtig, weil sie so das Bindemittel für die Bauindustrie haben, um Mörtel zu gewinnen. Wichtigstes Nahrungsmittel war das Trinkwasser. Und das musste eine Top-Qualität haben. Wenn die die Möglichkeit hatten, es herzurichten, haben die Quellwasser gefasst und in die Städte transportiert, mit Fernwasserleitungen. Das war römische Lebensart, römische Kultur. Sicher, dass der Startschuss der Kalkindustrie hier im Erfttal zusammen hing mit dem Bau der römischen Wasserleitungen."
    Und sie haben hier ja auch im Museum beispielsweise unten den kleinen Erfthafen dargestellt, haben den gewaltigen Brennvorgang in den Öfen verständlich gemacht.
    Helmut Ruß: "Es passiert folgendes: Diesen ganzen Kalkstein, den man hier bricht, aus Steinbrüchen, wenn man den erhitzt, bei nur 1.000 Grad circa eine Woche lang, verliert dieser Stein den gesamten Anteil an CO2. Das Produkt, was daraus entsteht, ist Calciumoxid. Wenn man diesen ungelöschten Kalk jetzt mit Wasser übergießt, also löscht, dann zerfällt dieser noch feste Stein zu Brei. Und diesen Brei vermischt man mit Sand. Dann hat man Mörtel. Das ist dieser berühmte Kalkmörtel, den die Römer zur Perfektion nutzten und Bauwerke errichtet haben, die heute noch stehen. Zum Beispiel die Römerbrücke in Trier ist in den inneren Fundamenten noch römisch. Also ein neuerer Betonbau würde niemals 2.000 Jahre überstehen."
    Wir treten weiter in die Pedalen. Und die Erft will noch ihren Senf dazugeben. Sie meint, von den Römern lernen, heißt: Mit dem römischen Wissen um den Kalk von Iversheim wäre die Leverkusener Rheinbrücke noch voll belastbar. Sagen jedenfalls die Spötter.
    Kaiserbesuch in der Eifel
    Wir treten nun auch aus der Eifel heraus in eine nun wellige Hügellandschaft. Ich erlebe es für mich auch als eine neue Lust am Fahrrad-Fahren. Die Recherche, die Nachfrage von Besonderheiten als persönliche Bereicherung. Drüben auf einer Weide, die bis an den Fluss reicht, grasen edle Pferde. Gute zehn Kilometer entlang dem Flüsschen erreichen wir die Kreisstadt Euskirchen. Und wieder fragt uns unsere Begleiterin, die Erft, welche Geschichte kann ich denn aus Euskirchen empfehlen? Wie wäre es mit Wilhelm II. beim Kaiserbesuch 1911?
    Wir rekapitulieren, Kaiser Wilhelm II. ist damals so 51 Jahre alt. Und er tourt mit seinem sogenannten Kriegskabinett in mehreren Töff-Töff tagelang kreuz und quer durch die Eifel. 1911, denke ich, drei Jahre vor 1914. Ein Bösewicht, wer sich dabei etwas denkt. Noch liegt tiefster Frieden bei sprichwörtlichem Kaiserwetter nicht nur über der Erft und über Euskirchen, liegt auch über ganz Europa. Außerdem kennen sich doch alle diese europäischen Kaiser und Zaren und Könige auf ihren Thronen. Sie sind miteinander verwandt. Wir lesen:
    "Euskirchen ist für den Kaiserbesuch mit sieben Autokutschen damaliger Bauart bis über alle Toppen und Türme festlichst geflaggt. Alles Volk ist auf den Beinen. Der Kaiser kommt. Kinder in Matrosenanzügen singen Lobeshymnen, Böller krachen, andere winken enthusiastisch mit Fähnchen."
    Und ausführlich zählt ein anderer Chronist auf, mit wie vielen Generaladjutanten, Generalobristen, Flügeladjutanten, mit und ohne Flügel, Chefs des Militärkabinetts der Kaiser unterwegs ist. Was sucht soviel "Lametta" aus Berlin mit Tschingderassabum in der Eifel? Nachtigall, ick hör Dir trappsen. Auch über einer Straße im Viertel der Euskirchener Tuchindustrie grüßt den freundlich winkenden Monarchen ein Schild, mit devoten Reimen.
    "Hier spinnet eine emsige Schar,
    Es surret die Maschine
    Zu fertigen eine gute War'
    Für die Armee und die Marine."
    Ein Schelm, wer da 1911 etwas denkt. Niemand wundert sich übrigens über Zeichnungen und Pläne, die man im Eifeldörfchen nahe der Grenze zu Belgien Seiner Majestät unterbreitet. Da sollen in Orten, wo das Licht noch mit dem Hammer ausgemacht wird, ein Bahnhof mit 700 Meter langem Bahnsteig gebaut werden. 700 Meter, wozu?
    Tuchstadt Euskirchen - bis 1944
    Zurück nach Euskirchen. Stadtarchivarin Dr. Gabriele Rünger begleitet uns in dieses Euskirchener Tuchviertel, das den Kaiser Wilhelm mit so schönen Versen erfreute:
    "Euskirchen wird im Zuge der Industrialisierung zur Tuchstadt. Mit der Dampfmaschine kommt der Reichtum in die Stadt. Die Welt wurde beliefert mit Militärstoffen für Armeen aus Euskirchen. Die ganze Geschichte fängt an mit dem amerikanischen Bürgerkrieg in dem Euskirchen zum ersten Mal einen Auftrag bekommt, Heeresstoffe zu liefern. Geliefert wurde bis Südamerika, bis Japan. Also die Stoffe waren bekannt in der Welt."
    Nicht nur Deutschland '70/'71, '14-'18 und '39 bis '45. Wenn Sie jetzt Krupp wären, dann würde ich sagen, na ja, das ist ja auch ein bisschen anrüchig, wenn man an Kriegen verdient. Was war das Besondere nun an den Stoffen? Dass man damit vier Jahre lang an der Maas in der Matsche liegen konnte und der Stoff war nachher immer noch brauchbar?
    Gabriele Rünger: "Es war die Qualität, und wahrscheinlich auch die günstigen Lieferbedingungen, dass man also schnell, preiswert und trotzdem noch gut arbeitete. In der absoluten Spitzenzeit der Tuchindustrie, das war im Jahr 1914 gab es 21 Fabriken in der Stadt. Und dann kriegen sie auch noch den Zusammenhang zur Erft. Tuchfabriken brauchten Wasser zum Waschen, zum Walken, zum Bleichen."
    Aber Euskirchen bezahlt im Winter 1944 einen hohen Preis. Die Stadt wird im Zusammenhang mit der großen Ardennenoffensive in der Eifel, das ist Hitlers letztes Aufbäumen gegen die Alliierten, zu 80 Prozent zerstört, auch die Tuchfabriken. Es wird zwar vieles wieder aufgebaut, man versucht es ohne Uniformtuche. Aber man verschläft den Modetrend der Jeanswelle. Irgendwann fabriziert man in Bangladesch billiger. Das Ende von guten Tuchen von der Erft.
    Und noch ein Denkmal als abschließende Reisenotiz. Die alte dreischiffige Kirche Sankt Martin, am dicken Turm an der Stadtmauer. Sie ist mit guter Führung unbedingt einen Besuch wert. Und außerdem sagt uns eine Martinskirche, hier ist eine mittelalterliche Kreuzung wichtiger Handelsstraßen und Pilgerwege. Martin, dem populären Uniform-Mantelteiler, noch nicht aus Militär-Tuchen aus Euskirchen, Martin war im Abendland auch der Schutzheilige der Reisenden und Pilger. So etwas wie ein ADAC-Schutzbrief. Und deswegen steht seine Kirche zur Einkehr der Reisenden immer an gut frequentierten Wegen. Und hier endet auch meine erste Radetappe entlang des oberen Erft-Radweges. Der Fluss hat mir viel erzählt und kaum etwas Unbequemes verdrängt.