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Martin Schulz unter Druck
"Ihm sind mehrere in den Rücken gefallen"

In der Vergangenheit habe die SPD den Fehler begangen, nach Wahlen ihre Kanzlerkandidaten abzuservieren, sagte der Politologe Gero Neugebauer im Dlf. Martin Schulz sei aber niemand, den man einfach abschieben könne. Er habe nur viel zu spät auf seine Autorität als Parteivorsitzender bestanden.

Gero Neugebauer im Gespräch mit Dirk Müller | 05.10.2017
    Eine Frau trägt am Tag nach der Bundestagswahl ein SPD-Wahlplakat mit Spitzenkandidat Schulz zu ihrem Auto
    Schulz habe zu viel personalisiert, sagte Politologe Gero Neugebauer (picture-alliance / dpa / Sebastian Gollnow)
    Dirk Müller: Er ist angeschlagen, er ist sehr angeschlagen. Das kann auch nicht anders sein. Schließlich hat Martin Schulz das schlechteste Ergebnis der SPD in der Geschichte der Bundesrepublik eingefahren mit gerade einmal 20 Prozent, also ein absoluter Tiefpunkt für die Partei und damit auch für den Vorsitzenden. Gegenüber dem "Spiegel" hat der Parteichef genauere Einblicke während der Wahlkampftour gewährt. Das ist sehr umstritten. Kann und soll Martin Schulz Chef der SPD bleiben? Das ist unser Thema mit dem Berliner Politikwissenschaftler Professor Gero Neugebauer. Guten Tag!
    Gero Neugebauer: Guten Tag, Herr Müller
    Müller: Gibt es eine Alternative zum Rücktritt?
    Neugebauer: Ja, das Bleiben, in der Tat das Bleiben, weil Martin Schulz einen guten Wahlkampf geführt hat als Person. Er hat in der Tat ein bisschen sehr stark immer reagiert auf Umfragen, auch auf Beraterhinweise, die aus einer ganz anderen Perspektive gekommen sind. Aber er hat auch programmatisch einige Aussagen gemacht, die ihn durchaus befähigen, zumindest den Prozess einzuleiten, dass die SPD sich programmatisch neu aufstellt. Ob er eine dauerhafte politische Perspektive ist, das muss man sehen.
    Müller: Aber er soll jetzt erst mal bleiben, sagen Sie, trotz der 20 Prozent?
    Neugebauer: Die SPD hat in der Vergangenheit immer wieder den Fehler gemacht, kurz nach Wahlen ihre Kanzlerkandidaten abzuservieren, aufs Abstellgleis zu schieben. Und wenn das jetzt wieder mit Martin Schulz passiert, dann setzt die SPD eine Tradition fort, die ihr in den Augen der Öffentlichkeit, insbesondere ihrer Anhänger eigentlich nur Misskredit eingebracht hat. Wenn Sie sehen, wer eigentlich in den letzten Jahren immer Kanzlerkandidat bei der Union war: Merkel. Aber bei der SPD, da haben wir gehabt Steinmeier, Steinbrück, und dann hatten wir Schulz, aber nie zum Beispiel den Parteivorsitzenden, und es gibt keine Kontinuität in dieser Politik. Und es ist eine der wichtigen Herausforderungen, die für die SPD besteht, langfristig Personal zu planen.
    "Die SPD ist in einer derart miesen Situation"
    Müller: Vielleicht ist das ja ein erfolgreiches Konzept. Steinmeier ist jetzt immerhin Bundespräsident, ist damals gescheitert. Steinbrück ist immerhin Millionär, ist damals auch gescheitert. Was kommt jetzt auf Martin Schulz zu?
    Neugebauer: Der Bundespräsident ist besetzt. Die Honorarfragen bei Steinbrück, das ist ein ganz anderer Typ. Der Schulz, der wird das nicht machen. Und Schulz ist auch niemand, den man jetzt einfach abschieben kann, weil er genau weiß, das ist dann wiederum etwas, was die SPD in Misskredit bringt. Hier werden sich die Leute vorsehen müssen in der Partei.
    Müller: Wenn ich hier noch mal einhaken darf? Ist er nicht schon ein bisschen abgewatscht, weil er eben nicht Fraktionschef geworden ist, sondern Andrea Nahles?
    Neugebauer: Es ist in der Tat eine Frage, ob man nicht gleichzeitig Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender sein sollte, weil die Aufmerksamkeit sich auf dieses Amt und damit auch auf die Person konzentriert. Aber die SPD ist in einer derart miesen Situation, mit so viel strukturellen Defiziten, dass man das auch trennen kann und sagen kann, okay, der Fraktionsvorsitzende macht die Politik im Bundestag und der Parteivorsitzende fängt an, die Partei zu reformieren. Das kann man trennen, aber dann muss Schulz mehr Unterstützung kriegen innerhalb der Partei.
    Müller: Kann ein konservativer Verlierer erneuern?
    Neugebauer: Das kann er, weil er nämlich daran denken muss, wenn er das bewahren will, eine Partei, die 150 Jahre alt ist, dann hat er genügend konservatives Denken, um zu sagen, das muss fortgesetzt werden. Aber er muss dann auch sich mit denen auseinandersetzen, die sagen, wie es weitergehen soll, und diese Auseinandersetzung hat noch nicht begonnen.
    "Gabriel hat weiter Gabriel gespielt"
    Müller: Wir beide hatten am Tag vor der Bundestagswahl auch miteinander gesprochen hier im Deutschlandfunk an dieser Stelle. Da haben Sie gesagt, na ja, der Schulz war schon ein guter Kandidat, er ist nur viel, viel, viel zu spät gekommen, hatte im Grunde gar keine Zeit mehr, sein eigenes Profil dort zu entwickeln, seine eigene Programmatik zu entwickeln, das heißt der SPD auch als Spitzenkandidat seinen Stempel aufzudrücken. Gilt das immer noch?
    Neugebauer: Ja, das gilt immer noch. Wenn bei einem Menü ein Gang nicht in Ordnung ist, ist das ganze Menü nicht schlecht. Aber in diesem Fall heißt es, man kann dem Schulz das nicht anhängen, dass er die Wahl verloren hat. Er hat auch zu viel personalisiert. Wenn man beispielsweise die Reportage im "Spiegel" durchguckt, merkt man, dass er da auf einen Apparat stößt, der ihm skeptisch gegenübersteht, dass er da auf Leute trifft, die ihn zur Solidarität verpflichtet haben, oder umgekehrt er auf ihre Solidarität hoffen konnte, und dass sich das nicht erfüllt. Das heißt, die Partei muss dann mal in sich gehen und gucken, unter welchen Voraussetzungen können wir überhaupt gewinnen.
    Müller: Wer ist ihm denn in den Rücken gefallen?
    Neugebauer: In den Rücken sind ihm eigentlich mehrere gefallen. Vor allen Dingen: Man kann das schlecht personalisieren, aber es ist zum Beispiel Frau Kraft, die gesagt hat, Du tauchst bei mir nicht auf. Herr Albig, der ihn auch eher zweitrangig gemacht hat. Herr Gabriel, der eigentlich immer mit seiner Rolle als Außenminister trotzdem Empfehlungen abgegeben hat. Ich denke, das sind die wichtigsten, die man benennen kann. Aber das ist auch ein Problem der Autorität. Herr Schulz hat viel zu spät auf seiner Autorität als Parteivorsitzender bestanden und gesagt, haltet ihr mal den Mund, ich mach den Wahlkampf und ihr tretet zurück. Da muss man ihm zugutehalten, dass er vielleicht die SPD dann doch nicht gut genug gekannt hat.
    Müller: Da werden viele ja ganz besonders jetzt zugehört haben, wenn Sie auch Sigmar Gabriel nennen. Der "Spiegel"-Reporter hat das ja auch herausgearbeitet. Das heißt, Sigmar Gabriel, der ja davor Parteichef war, der Martin Schulz auf den Schild gehoben hat, hat ein doppeltes Spiel gespielt?
    Neugebauer: Nein. Ich denke, Gabriel hat weiter Gabriel gespielt. Er hat die Unentschiedenheit, die er vorgezeigt hat bei der Frage, werde ich nun Kanzlerkandidat oder nicht – eine Frage, die er ein halbes Jahr zu spät entschieden hat -, damit begründet, ich will ja mich nicht zurückdrängen lassen, und er konnte sich nicht entscheiden: Nehme ich meine Person zurück, um der Partei, um Schulz eine Chance zu geben, besser abzuschneiden, oder bleibe ich weiter im Gespräch? - Und seine Umfragewerte sind gestiegen. Damit ist einer der Indikatoren, an denen er sich immer ausgerichtet hat, auch besser geworden. Warum sollte er in seinem Selbstgefühl denken, muss ich mich nun zurücknehmen.
    Aber man kann auch andere Sachen sagen, zum Beispiel Schröder, dass Schulz nicht energisch genug gesagt hat, Schröder einzuladen zum Bundesparteitag, ihn reden zu lassen, Versöhnungsangebot. Das hat Schröder nicht honoriert, indem er weiter gesagt hat, ihr könnt mich mal, mit meiner Entscheidung bleibe ich alleine und das ist meine Privatsache. Es gibt eine Reihe von Sachen. Es ist wie so ein Konservendosenstapel. Einer stapelt an, einer reißt dann eine weg und dann stürzt das ganze Ding zusammen.
    "SPD kann von Schröder das damalige Programm aufgreifen"
    Müller: Trotzdem muss ich Sie bei dem Stichwort jetzt auch noch mal fragen, Herr Neugebauer. Schröder war ja zumindest der letzte Bundeskanzler, der aus der SPD kam, der letzte erfolgreiche Parteimanager. Das ist umstritten, aber immerhin. Da waren die Prozentzahlen, die Zustimmungszahlen ja noch in einer völlig anderen Dimension. Wenn jetzt die Partei nach vorne schaut und sagt, wir müssen aus diesen 20 Prozent wieder rauskommen in Richtung 30 Prozent, braucht die SPD wieder mehr Schröder?
    Neugebauer: Nein. Die SPD braucht vor allen Dingen ein langfristiges Programm, das ihren Anhängern sagt, so können wir die Folgen der Globalisierung hier in diesem Land überwinden, und zwar nicht nur, indem man sagt, wir setzen auf soziale Gerechtigkeit, wir setzen auf Sicherheit, was sind die Probleme der Arbeitsmarktentwicklung, was sind die Voraussetzungen und Folgen einer erfolgreichen Digitalisierung. Und das muss dann aber auch durch Personen repräsentiert werden, die langfristig wirken, auf die man dann auch setzen kann, wenn man sagt, wir gehen jetzt in den Wahlkampf hinein. Aber das ist ein Programm, das dauert mindestens vier und wahrscheinlich acht Jahre.
    Müller: Aber da fällt mir wieder Schröder ein, der für das alles stehen könnte, was Sie gesagt haben. Nicht, dass der zurückkommen soll, aber der Typus Schröder. Muss die SPD nicht wieder mehr in die Mitte gehen, ist jetzt meine Frage?
    Neugebauer: Die SPD kann von Schröder aufgreifen das damalige Programm unter der Überschrift "Innovation und Gerechtigkeit": Modernisierung, Annahme der Herausforderungen, die gegenwärtig bestehen, und gleichzeitig Rekurs auf einen traditionellen sozialdemokratischen Wert, neu definiert, neu bestimmt. Wenn sie das schafft und dann noch Personen hat, die das repräsentieren, dann kann man Schröder als historische Figur weiter in der Partei behalten. Aber man darf sich nicht an ihm orientieren, weil auf ihn war das auch zu stark persönlich zugeschnitten. Eine autoritäre Führungsstruktur kann die SPD sich nicht leisten; die muss jetzt anfangen zu diskutieren und manche Leute, die sie gegenwärtig führen, in Zweifel stellen.
    Müller: Jetzt haben wir nur noch 15 Sekunden. Ich muss Sie das trotzdem fragen. Mit Andrea Nahles könnte das jetzt als Neuanfang im Bundestag funktionieren?
    Neugebauer: Als Neuanfang im Bundestag ja. Sie hat Erfahrung genug. Es ist nur die Frage, ob sie nicht auch schon zu sehr Teil dieser Elite ist.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Gespräch der "Informationen am Mittag" der Berliner Politikwissenschaftler Professor Gero Neugebauer. Danke, dass Sie wieder für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Neugebauer: Danke! Ihnen auch, Herr Müller.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.