Berliner Clubs

Zwischen Ruinencharme und Biedermeier

Clubetreiber Jan Denecke (l) und Alexis Kalpakidis vor ihrem Pool-Club "Haubentaucher" auf dem Berliner RAW-Gelände
Clubetreiber Jan Denecke (l) und Alexis Kalpakidis vor ihrem Pool-Club "Haubentaucher" auf dem Berliner RAW-Gelände © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Von Marietta Schwarz · 05.05.2015
Berlins Stadtleben wurde über Jahre von einer Ruinenästhetik geprägt: Galerien, Clubs und Strandbars siedelten sich in verwilderten Grundstücken an, Coolness musste nicht viel kosten. Nun sind diese Räume rar geworden - und teuer.
Hiphop-Beats, ein paar versprenkelte Blondinen mit Aperol-Sprizz am Beckenrand und Männer um die 40 im Sakko. Die angekündigte Atmosphäre eines verfallenen Strandhotels am Mittelmeer will sich am Eröffnungstag des "Haubentauchers" nicht richtig einstellen. Palmen, Schilf und Bambus – das wird noch wachsen. Aber die Pflanzkübel, der Bodenbelag und die Pergola erinnern doch eher an einen Parkplatz in einer westdeutschen Mittelstadt. Dabei ist die Idee, die Jan Denecke und seine Freunde für diesen Ort erfanden, genial: Ein Freibad in einer alten Backsteinhalle – von der aber weitgehend nur noch die Mauern stehen.
"Atmosphärisch ist es so bisschen angelehnt an den 60er-, 70er-Jahre, dieses Freibad-Hotel."
Man sieht es deutlich: In den "Haubentaucher" wurde viel Geld investiert. Die Betreiber haben sogar einen Teil des Hallendaches rekonstruiert, um einen ruinösen Charakter zu erzeugen. Die Backsteinwände sind sauber gesandstrahlt. Das Graffiti an der Wand neu, aber auf alt getrimmt.
"Es soll eine schöne Außenfläche sein, wo man im Sommer hingehen kann, eine Erlebniswelt, wo man was trinken kann und entspannt am Pool liegen kann."
Das hippe Berlin ist erwachsener geworden
Im hippen Berlin tauchen immer mehr solcher Erlebniswelten auf. Dass die Räume, die bespielt werden, alten Charme besitzen und Geschichte atmen, ist wichtig. Anders als die Zwischennutzungen der Jahrtausendwende sind sie aber stark überformt, dekoriert, verwandelt. Oder, wenn es schiefgeht, aus Versehen totsaniert. Die Perfektion hält Einzug. Und das an Orten wie dem Gelände des Reichsbahnausbesserungswerks, das gerade für das Unperfekte geliebt wurde. Jan Denecke, Anfang 40 und hauptberuflich Rechtsanwalt, sieht das naturgemäß nicht so streng. Aber für das sichtbare Perfektionsstreben hat er eine Erklärung:
"Natürlich ist das auch eine professionellere Ebene, man ist älter geworden, reifer geworden. Man ist gezwungen, viel überlegter an die Sache heranzugehen. Auf der einen Seite leider, auf der anderen Seite schön, dass es einen Wandel gibt. Deswegen werden die Projekte erwachsener. Es wird mehr Geld ausgegeben, und das sieht man auch extrem."
Früher haben Jan Denecke und seine Freunde eine Strandbar an der Spree betrieben. Die Lust am unbeschwerten Gestalten von Brachflächen ist ihnen nicht vergangen. Auch wenn sich die Bedingungen massiv verändert haben: Inzwischen sind die vorhandenen Räume in der Stadt rar, die Mieten höher, die Investitionskosten enorm. Und so hat sich die Zwischennutzer-Szene ausdifferenziert: In solche, die im Geiste der Nuller Jahre immer noch idealistische Projekte verfolgen und andere, die sich selbst als "Projektentwickler im kulturellen Bereich" bezeichnen. Businesspläne und Unternehmergeist sind an die Stelle von Chaos und Idealismus getreten.
Auf dem RAW-Gelände kann man diese Entwicklung gut ablesen: Clubs, die die Bedürfnisse trinkfreudiger Touristen bedienen, gibt es ebenso wie eine Skaterhalle für die Kids aus der Nachbarschaft. Auch viele Zwischennutzer der ersten Stunde sind noch hier. Nur tauchen ihre Projekte weder in Bordmagazinen noch Szenezeitschriften auf. Sie sind zu still und zu unspektakulär.
Fast direkt gegenüber dem "Haubentaucher" ist das alte Stoff- und Gerätelager – eines von vier denkmalgeschützten RAW-Gebäuden an der Revaler Straße. Es ist das Zuhause von Kristine Schütt, genannt "Mikado".
"Hier haben wir angefangen, das vor 15 Jahren mit Leben zu füllen und aufzubauen."
1999, als Mikado und einige andere das RAW-Gelände erstmals betraten, hatte es bereits zehn Jahre leer gestanden. Eine urbane Wildnis, 70.000 Quadratmeter groß.
"Das war hier alles zugewachsen, die Natur hatte das zurückerobert, so urwüchsig und verwunschen, eine totale Oase eigentlich."
Mikado und ihre Freunde gründeten den RAW Tempel e.V. Ihre Vision war, hier eine alternative Form städtischen Lebens aufzubauen:
"Also wie so ein kleines Dorf in der Stadt, mit viel Grün und viel Kunst und Kultur und sozialen Projekten, hier so eine Art kleines Paralleluniversum zu schaffen."
Wir sitzen in einem selbst gezimmerten Musikstudio. Gitarren an der Wand, Mischpulte, zerschlissene Sofas. Wasser- und Stromversorgung, erzählt Mikado, gab es damals noch nicht im Haus.
"Wenn man hier draufgekommen ist auf diesen riesigen Freiraum, da war super viel Spielraum für Experimente. Natürlich verspürt man dann auch einen Auftrag, weil man denkt: Man möchte ein Beispiel setzen dafür, wie man so etwas anders erschließen kann als das normalerweise ein Investor oder ein Bauherr tut. Nämlich aus einer Selbstorganisation heraus an den Bedürfnissen der Leute."
Die RAW-Tempel-Vereinsmitglieder renovierten, schrieben Anträge für Fördermittel. Sie holten Arbeitslose, Obdachlose und Leute mit sozialen Problemen für ihre soziokulturellen Projekte aufs Gelände. Künstler und Existenzgründer bekamen Räume. Teilhabe statt Exklusion hieß das Motto. Nicht immer verlief das konfliktfrei, sagt der Stadtforscher Michael Rostalski, der sich schon frühzeitig auf dem Gelände engagierte:
"Aber es stand nicht im Vordergrund, dass sie da eine gute Miete erzielen, sondern dass sie Raum anbieten wollen, der niederschwellig verfügbar ist für Initiativen aus der Nachbarschaft."
Kulturelle Gentrifizierung nach Verkauf des RAW-Geländes
2002 wurde das Gelände teilprivatisiert, 2007 für vier Millionen Euro verkauft – heute lächerlich wenig, damals eine unvorstellbar hohe Summe. Die Kommune hatte kein Geld und der Verein natürlich auch nicht. Gespräche über die weitere Entwicklung wurden vom neuen Eigentümer abgelehnt. Die Mietverträge liefen aus, die EU-Förderung wurde abgeschafft. Die "Ballermannisierung" des RAW-Geländes begann.
Schütt: "In dem Moment haben sie begonnen, ganz massiv weitere Gebäude und Geländeteile zu vermieten. Durch diese Politik, dass dort weitere große Clubs angesiedelt wurden, hat das natürlich dazu geführt, dass an den Wochenenden hier eher so eine Art Touristenmeile entstanden ist, und da sind wir noch mittendrin."
Aber damit ist der Wandel noch nicht abgeschlossen. Die neuen Betreiber setzen aufs Tagesgeschäft. Der Bezirk appelliert an eine familienfreundliche und kiezorientierte Nutzung. Nach dem jüngsten Verkauf des RAW-Geländes für rund 20 Millionen Euro spricht zwar auch der Investor, die Göttinger Kurth-Gruppe, von einem "Nutzungs-Mix" und "mehr Alltag". Dennoch, beobachtet der Stadtforscher Michael Rostalski, vollziehe sich hier eine "kulturelle Gentrifizierung": Die umsatzstarken neuen Nutzungen stünden in Konkurrenz zu den sozialen Projekten, die kaum Einnahmen generierten.
"Die Räume lassen nur noch ein bestimmtes Klientel zu und hinein."
Auch wenn sie nicht so aussehen. Als Image ist die Zwischennutzung von einst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und nachgefragter denn je. Als Idee aber hat sie ausgedient.
Rostalski: "Natürlich kann man sagen, es ist ein Stückweit diese Brachen-Ästhetik und die Ästhetik, die dafür spricht: Es ist ein niederschwelliger Ort, leicht zugänglich, weile es das Gefühl des benutzten Ortes widerspiegelt, und dementsprechend auch einen günstigen Ort, das ist dann natürlich nicht mehr gegeben."
Ganz hinten auf dem RAW-Gelände gibt es seit einem halben Jahr die "Neue Heimat". Innerhalb weniger Monate hat sie sich zur In-Location der Stadt gemausert. Ein Streetfood-Market unterm Dach einer ruinösen Fabrikhalle. Jeden Sonntag kann man sich bei Jazzmusik durch die Essensstände futtern.
Baier: "Sonntag war unser erstes großes Konzept, weil das ist ja unheimlich groß hier, da war uns klar, können wir kein Nischenprodukt fahren, sondern groß denken, deswegen war der Sonntag unser großer Angriff, was ja auch geklappt hat."
Sebastian Baier und seine Freunde kommen selbst aus dem Techno-Geschäft. Früher haben sie die legendäre Bar 25 betrieben, die für rauschende Partys, Orgien jeder Art, später aber auch für gutes Essen berüchtigt war. Die Bar 25, diese Westernstadt an der Spree, wurde als Zwischennutzung stilprägend. Sie war der erste perfekte "Erlebnisort" für den coolen Großstädter – wenn er denn reingelassen wurde.
"Diese Stilistik von damals, dieses Kleinteilige, Trashige, altes Sofa, alter Bilderrahmen, das hat ja Schule gemacht. Du kommst nach Rom, da sieht ein Club aus wie die Bar 25. In unserem Fall sind wir da so ein bisschen rausgewachsen."
In der "Neuen Heimat" trifft Großstadt auf Dorf
Die Halle 13, in der der "Village Market" sonntags stattfindet, ist nur eine von vielen, die die "Neue-Heimat"-Betreiber gemietet haben. Einige sind noch vermüllt und ungenutzt. Doch wo gegessen wird, stehen Blümchen auf den Tischen. Über uns Girlanden und Lichterketten, wie auf einem Schützenfest. Grob gezimmerte Holzverschläge unterteilen den riesigen Raum in kleinere, gemütliche Einheiten. Aber: Es gibt eben auch wilde Graffitis an der Wand. Großstadt trifft auf Dorf.
"Viele, die wir hier treffen, sind die Feierleute von gestern, die mittlerweile einen Kinderwagen vor sich herschieben und happy sind, dass sie sich sonntags trotzdem noch hier treffen. Wir sehen uns da auch als Village, richtig, mit Musik, Kunstgalerie, mit gutem Essen, gutem Wein, einfach was für Genießer. Natürlich sind wir da preislich etwas gehoben, denn der Wein ist kuratiert, aber ich hoffe, dass das ein Zugewinn für den Kiez ist."
Eigentlich hätten sie gar nicht auf das RAW-Gelände gewollt, erzählt Sebastian. Der zweifelhafte Ruf: Drogen, Ballermannisierung und so. Aber viele solcher Räume gebe es halt in Berlin nicht mehr.
"Der Kampf um die letzten Plätze ist eröffnet, die Goldgräberstimmung vorbei. Die, die schon lange da sind, haben wahrscheinlich die besten Fühler in dem Monopoly. Na ja, sehr viele Möglichkeiten bleiben nicht mehr, in so großer Fläche was zu realisieren."
Und eine kulturelle Nutzung, sprich: Gastronomie mit Musik, hebe automatisch das Niveau. 4000 Quadratmeter, 200 Leute, die in das Projekt involviert sind. In zehn Jahren läuft der Mietvertrag aus. Die Frage, die die Betreiber der "Neuen Heimat" umtreibt, ist nicht mehr "Exklusion" oder "Inklusion", sondern in dieser Zeitspanne schwarze Zahlen zu schreiben. "Mikado" Kristine Schütt vom RAW-Tempel hat damit kein Problem:
"Vielfalt ist das Zauberwort. Denn durch die Vielfalt kann man ganz unterschiedliche Zielgruppen erreichen."
Solange man nicht Opfer des allgemeinen Preisdrucks werde. Sie hofft, dass unter dem neuen Eigentümer eine Koexistenz von unterschiedlich zahlungskräftigen Mietern möglich ist. Doch gab es so etwas überhaupt schon mal in der Stadtentwicklung? Stadtforscher Michael Rostalski denkt einen Moment nach, und schüttelt dann langsam den Kopf. International ist ihm kein Beispiel bekannt.
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