25 Jahre Mauerfall

Der gewendete Wendewitz

Demonstration am 4. November 1989 in Berlin: Aus "Batman" wurde auf einem Plakat "Krenzman"
Demonstration am 4. November 1989 in Berlin: Aus "Batman" wurde auf einem Plakat "Krenzman". Eine Anspielung auf den SED-Politiker Egon Krenz. © picture alliance / dpa / Foto: Martti Kainulainen
Von Hans-Otto Reintsch · 04.11.2014
Aus "Wir sind das Volk" wurde bald "Ich bin Volker". Nur für kurze Zeit gab es ihn 1989 und 1990 – den Wendewitz. Erzählt, gezeichnet, gesungen, gerufen, gesprayt. In seinem Sprachwitz und Tiefgründigkeit ist er bis heute unerreicht.
"Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen und Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich."
Plötzlich war die Grenze auf. November 89. Nur weil Schabowski mal einen Witz gemacht hatte! Grenzübergänge sind zu passieren. Seines Erachtens sofort. Mal so über die Lesebrille berlinert. Weil der Mann einfach Humor hatte! Berliner Schnauze eben. Gnadenlos, trocken, pampig. Kennt man ja. Und politisch unkorrekt, der Berliner Witz.
Zitat:Stammgast kommt in die Kneipe. "Also heute hätte ick jerne ma wat, wat ich noch nie hatte." Sagt der Wirt: "Na, da würde ick Hirn empfehlen!"
Hirn! Das war es, was die Masse forderte. Vom Politbüro, Hirn, endlich mal. Die Hirnis der Partei und Staatsführung verstanden den Witz aber irgendwie nicht. Die Masse, was ist dasdenn? Das Volk sagte, wir sind das. Lauthals gerufen, auf Schilder gemalt. Wenige Wochen zuvor hatte Honni noch die absolute Pointen und Witzhoheit über das Land mit seinem den-Sozialismus-in-seinem-Lauf-hält-weder-Ochs-noch-Esel-auf Gag. Doch spätestens seit dem 7. Oktober wurde zurückgewitzelt. Wer noch im Lande war, demonstrierte. Bastelte Transparente oder schrieb’s an jede Wand.
Zitat:
"Bleibe im Lande und wehre dich täglich."
"Lieber häufig übermüdet als ständig überwacht"
"Ohne Visa bis nach Pisa"
"Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der man nicht sitzen muss, wenn man nicht hinter ihr steht"
"Oben Krenz, unten brennt’s"
"Keine Schnitzel für die Spitzel"
"Unsere Herzenssache ist, dass sich Egon Krenz verpisst"
"Vorschlag für den ersten Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei"
Er kam wie aus dem Nichts. Der Wendewitz. Hochgehalten auf Transparenten, gerufen, gesungen, skandiert. Öffentlich, unzensiert. Noch nie hatte Berlin so viel spontanen Einfallsreichtum erlebt. Und Witz.
Im Gänsehautnovember 89:
"Die große Wende in ihrem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf!"
"Schnitzler in die Muppetshow!"
Eduard von Schnitzler, Fernseh-Hardliner. Gewerkschaftsboss Harry Tisch war schon entlassen, Krenz zu Honeckers Nachfolger ernannt.
Transparent: "Krenz-zu-Tisch!" - Sätze, die wenige Wochen zuvor noch eine Menge Ärger eingebracht hätten. Und hatten. Jetzt aber, im November in Berlin, war es...
Stefan Heym: "… als habe einer die Fenster aufgestoßen."
…und Berlin fing an zu dichten, zu spotten, zu pointieren, dass die Schwarte krachte.
Zitat:
"Weg mit den Krenztruppen!"
Berliner Witz in seiner schönsten Form. Kurz, knapp, treffsicher. "Weg mit den Grenztruppen" hätte zwar auch gereicht, aber das wäre nicht so witzig gewesen. Und nicht so doppelbödig. Es reichte nicht mehr, einen Funktionär auszutauschen. Aber es reichte, einen Anfangsbuchstaben zu tauschen, um am Schlaf der Welt zu rühren.
Die Novemberdemo war der Startschuss für eine nie da gewesene Humorinitiative. Oder war es schon der Schlusspunkt? Gerufen, geschrieben, gezeichnet. Cartoon in Transparentgröße. Der grinsende Krenz mit Schlafhaube im Bett, Textzeile:
Zitat:
"Großmutter, warum hast Du so große Zähne?"
Berlin lacht. Lacht sich frei.
"Die Heimat hat sich schön gemacht" usw… mischen mit: "Wir sind das Volk…"
Als hätte der Berliner Witz nur darauf gewartet. Er funktionierte deshalb so gut, weil Komik immer dann entsteht, wenn widersprüchliche Elemente aufeinander treffen. Jeder Clown trägt deshalb kleinen Hut, große Nase. Kurze Hosen, riesige Schuhe. Und so weiter. Die Widersprüche. Die Partei- und Staatsführung hatte zu lange auf zu großem Schuh gelebt und den real existierenden Bürger an der Nase herumgeführt. Nahezu ideale Bedingungen für einen nie da gewesenen Volkswitz waren entstanden. Nie da gewesen? Mit Graffitis wie…
Zitat:
"Die nächste Steinzeit kommt bestimmt"
…schlug der Berliner Witz schon in den 80ern auf den Beton der Mauer ein. "Lieber tot als rot" wurde an der größten Wandzeitung der Welt zu "Lieber Rotwein als tot sein." Im Westen häufiger. Im Osten gab es zu selten Farbsprays, um sich auf diese Art in Untersuchungshaft zu bringen. Aber…
Zitat:
"Dem Land ein neues Antlitz, ohne Kalk aus Wandlitz!"
…wurde schon lange vorher in den Kneipen gekalauert. Skandiert und gerufen aber wurde der Text zur ironischen Kampfansage. Jedoch: In den Wendezeiten war da…
Thomas Nicolai: "…natürlich immer auch noch Angst und Respekt, aber auch immer so dieses: Wir stehen zusammen. Wo wir gesagt haben: Ach! Hier geht’s jetzt wirklich mal um uns! Um uns als Menschen. Es geht jetzt hier nicht darum (imitiert Honecker) ´Die sozialistische Einheitspartei Deutschlands`. Und das war einfach ein absolut erhebender Moment und wir waren uns eigentlich alle einig."
Zitat:
"Entsesselt die Ärsche"
Das Unmögliche beschreiben
Volkes Stimme von der Leine gelassen. Der Kabarettist Thomas Nicolai versucht, das Unmögliche zu beschreiben: Die elektrisierende Stimmung überall auf Berliner Straßen. Im ganzen Land. Damals, 89. Die Lust, seine Stimme zu erheben. Instinktiv das zu tun, was tief im Witz schon immer verborgen steckt: Lust, die Realität zu dekonstruieren. Und heiter zu einer befreienden Erleuchtung zu gelangen. Die "Keibelstraße", gefürchteter Sitz des Polizeipräsidiums Mitte. Immer lauter erzählt wurde der Witz…
Zitat:
"Was ist, wenn die Keibelstraße brennt? Dann ist ne Bullenhitze."
Nicolai: "… ist auch eine andere Haltung als (imitiert sächselnd Volk) ´Ihr Verbrecher! Wir bringen Euch alle um!` und so. Sondern wo man einfach sagt: Leute, mit so einem Lächeln im Gesicht, es ist vorbei! Es hat sich erledigt. Haut ab. Ab ins Altersheim. Lasst Euch einmotten… und das war es jetzt, Ende."
Zitat:
"In der DDR ist alles grau, nur die Flüsse sind bunt."
"Veronika, der Krenz ist da"
"Ein bisschen Demokratie ist wie ein bisschen schwanger"
"Glasnost statt Süßmost"
"Warum wir so müde waren? Weil es 40 Jahre bergauf ging."
"Ich gehe kaputt, gehst du mit?"
Berlin, 4. November 89. Ein Mann geht über die Straße, eine Papprolle unter dem Arm. Er geht zur Demo. Unrasiert, Zöpfchen, Jackett, Kullerwaden, Seppelhose. Er macht ein paar Umwege, geht den Polizisten aus dem Weg. Es ist noch am Morgen. Gestern waren wieder 30.000 auf der Straße. In Erfurt. 10.000 in Gera und Halle. Heute ist Berlin drauf und dran, alle Rekorde zu brechen. Tausende tragen Transparente in die Innenstadt. Der Mann aber hält sein Transparent noch eingerollt. Keiner weiß zu dieser Stunde, welche Order die Polizei hat…
Peter Waschinski: "Man macht sich ja heute nicht mehr klar, dass das am Morgen dieses Tages völlig unklar war, wie das ausgehen würde – ob da irgendwie eingegriffen wird oder was weiß ich."
Am Abend wird die Welt nicht mehr die selbe sein. Und der Mann berühmt. Jetzt aber drängt er sich vor an die Tribüne. Einer von 500.000 im Transparente-Meer. Christa Wolf redet, Stefan Heym, Bürgerrechtler, Schauspieler. Und Stasi Oberst Markus Wolf steht da oben. Das Transparent "Wolf im Schafspelz" ist auch schon da. Und Schabowski. Jetzt drängt der Seppelhosenmann vor die Tribüne. Günter Schabowski, SED Politbüromitglied, ergreift gerade das Mikro, seinen Zettel, dann das Wort. Jetzt hält Waschinsky es hoch, das Transparent. Es ist nichts als eine bemalte Pappe: Zwei Hände im Gruß, das ewige Parteiabzeichen. Darunter ein läppisches Wort. Fett, rot, unterstrichen: TSCHÜß.
Waschinsky: "Und in dem Moment steige ich auf diese Tribüne hoch und hielt mein Plakat nach oben. Das Volk tobte auf und ich wurde in diesem Moment zu Tode fotografiert."
Der beste Witz von allen
Peter Waschinsky, Berliner Puppenspieler, der Mann mit der Seppelhose. Hätten die "Zirkel Schreibender Arbeiter" einen Wettbewerb ausgerufen, Waschinsky hätte am diesem Tag den Autorenpreis gewonnen. Für ein Wort. Für das originellste Plakat. Den besten Witz. "Weil jeder gute Witz einen dunklen Hintergrund braucht, um mehr zu sein, als ein banaler Scherz" – hätte es in der Laudatio heißen müssen. Und wenn Berliner Witz Herzenssache sein soll, muss er an die Nieren gehen. Ans Eingemachte. Dabei war am Morgen des 4. November die Verabschiedung der Einheitspartei – Tschüß! – noch kein Gedanke, den die Massen wirklich zu denken wagten. "Reformierten Sozialismus" fordern, war schon Ketzerei genug, eigentlich ein Witz. Aber die allmächtige Partei auflösen? Auch Waschinsky hatte es weniger gedacht, als…
Waschinsky: "Gefüüühlt!! Begriffen habe ich es, glaube ich, auch nicht.Es war auch so ein bissel so ein Abwägen, was kann man sich trauen und habe mich dann ein bisschen mehr getraut, als ich mich eigentlich traute! Gefühlt. Es war frech… Früh! Am Abend war ja die Situation völlig gekippt, da konnte man ja überall alles sagen.“
Seine metaphorische Kraft bezog der "Wendewitz" aus der Wut, der Ohnmacht, dem Druck. Witz ist verlautbarte Emotion. Nach "Wir sind das Volk" kam bald "Ich bin Volker!". Die Dada R begann, Stimmen zu hören. Diktaturen sind rosige Zeiten für Galgenhumor.
Waschinsky: "Du hast in einem Punkt natürlich vollkommen recht. Ich glaube, dass dort plötzlich scheinbar aus dem Nichts eine neue Qualität entstand! Das kann man schon sagen. Also dass die, die das vorher immer so verdeckt sagen mussten, es jetzt ziemlich offen sagten einfach. Sich einfach trauten. Dass da etwas entstand, was es vorher so wirklich nicht gegeben hatte. Jetzt äußerte es sich in einer tollen, sprachlichen Erfindung oder so. In einer wirklichen Art von Poesie."
Zitat:
"Marx ist die Theorie und Murx die Praxis“
"Wir wenden dir zur Jungfer, Krenz!"
"Schlagstöcke zu Blockflöten"
"Gummiknüppel zu Quietschenten"
"Nicht abspeisen lassen, selber kochen"
"Freie Presse für Volkes Fresse"
Nicolai: "Na ja, aber, was ich interessant finde, ist, bei allem Jux und Tollerei, ist trotzdem eine ganz klare Ernsthaftigkeit dahinter. Es ist nie oberflächlich, es ist nie lapidar und wir machen jetzt einen Spruch, weil´s einfach eine gute Pointe ist."
Genau! Schon Fontane fragte sich, wo Berliner Humor eigentlich her kommt. Was dahinter steckt, – hinter Sprüchen wie: "Wer schläft, sündigt nicht. Wer vorher sündigt, schläft besser." Oder: "Geteiltes Leid ist doppelte Freude." Fontane glaubte, dass die Berliner mit ihrer großen Schnauze einfach Dampf abließen. Aggression und Überkompensation sollen Schuld gewesen sein am Berliner Witz. Witz als Abwehrattitüde gegen die Wachstumsschmerzen, die enger werdenden Räume in enger werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen.
Und Maxe unser Liebermann, berühmter Maler, lieferte ein paar Jahre später den Spruch: "Ick kann jarnich so ville Fressen, wie ich kotzen möchte!" Sarkastisch, unerbittlich, direkt. Weltliteratur! Gesagt als die Nazis durchs Brandenburger Tor stiefelten. Es ist der gleiche Witz, den ich in Wendetagen in einer öffentlichen Toilette las. Über der Papierrolle in die Wand geritzt: "Die führende Rolle der Partei". Volkswitz in den Zeiten der Wende – nicht närrisch heiter, sondern bitter böse. Kein Berliner Privileg. Oder?
Steffen Mensching: "Es waren erstens, glaube ich, auch die Berliner, die Leipziger hatten auch ihren Humor, aber die haben unter anderen Bedingungen demonstriert.
Steffen Mensching. Clown, Dichter, Intendant, Poet. Der Wendewitz, meint er, lag in der Luft, wie eine elektrische Ladung.
Mensching: "Die hohe Konzentration, die hohe Anspannung, die noch da war. Die ja auch eine… geistreiche Produktion ermöglicht. Man war schon auf dem Sprung, das irgendwas passiert. Und man war gleichzeitig aber auch schon so gelöst, dass der größte Schrecken vielleicht nicht eintritt. Das heißt, da entsteht eine Wachheit und aber auch eine lustvolle Situation. Die Leipziger waren immer noch, sozusagen geknechtet von der Angst. Und die war auch realer. Die Angst in Leipzig war viel realer als die in Berlin."
Ein unbeschreibliches Gefühl
Alle Versuche, die Stimmung und das verwirrende Gefühl der Novembertage 89 zu beschreiben, bleiben unvollkommen. Dieses nichts-geht-mehr-und-alles-ist-möglich-Gefühl. Einige dachten plötzlich: So muss sich der Sozialismus anfühlen. Andere dachten wieder: So muss sich die Freiheit anfühlen. Und wieder andere dachten: So fühlt sich die Revolution an. Alle fühlten Dinge, von denen sie keine Ahnung hatten. Einer schrieb auf seine Pappe: "Dass ich das noch erleben darf." – Wenn der Berliner sprachlos ist, dann schreibt er’s auf.
Mensching: "Zu demZeitpunkt gab es so was wie Selbstironie. Wir waren eben immer beides: Wir waren die Sieger der Geschichte und standen an, wenn es Ketchup gab. Und da guckt man sich schon in seiner Größe sehr über die Schulter."
Zitat:
"Warum jibt et in der DDR keene Champignons? Kaum kiekt ’n heller Kopp vor, wird er abjeschnitten."
Berliner Witze wirken, wie jeder gute Witz, nicht geradlinig. Auch nicht schräg. Mehr so geradeausschräg. Von hinten durch die Brust ins Auge, dann per Rösselsprung ins Gehirn. Sozusagen. Da braucht’s Hintergrundwissen, sonst zündet der Gag nicht. Und dann steht man da wie n, Döskopp, Dusseltier, Furzbeutel.
Den Spruch: "Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner will weg!" versteht nur, wer den 68er Spontiklassiker "Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!" schon nicht verstanden hat. Klar? Der Berliner Kabarettguru Wolfgang Neuss hatte den Spruch schon mal veredelt zu: "Stell dir vor, es geht und keiner kriegts hin"! Ganz großes Sprachkino! Da staunt der Fachmann - und nennt es die "Beteiligung an der Katastrophe durch den Witz." Genau.
"Die DDR ist die Summe dessen, was vermeidbar gewesen wäre" polemisierte ein Demotransparent. Sarkasmus pur. Erst Witz macht die Katastrophe erträglich. "Auf der Mauer auf der Lauer sitzt ne kleine Wanze" war ein harmloses Kinderlied. In Wendetagen auf der Straße im Chor gesungen, wurde es zum Politikum. Zum Gassenhauer. Zum Mauerbrecher. Die Mauer fiel. Zuerst an der Bornholmer Straße. Weil Schabowski, Sie wissen schon, eben einfach Humor hatte. Ein paar tausend Leute bekamen am 9. November 89 das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht.
Mensching: "Es war ein sehr glücklicher, ein sehr befreiender Moment …"
Und all die schöne Demostimmung…
Mensching: "…änderte sich sehr schnell. Nach dem die Mauer auf war, gab es so eine andere Form von Euphorie. Das war mehr so wie bekifft, da fehlte schon wieder die Konzentration. Da uferte es schon aus… in die Party!! Diese Demonstration war aber beides, war Party und sie war gleichzeitig auch Volksversammlung… Dieses enorme Gemeinschaftsgefühl, was da war, das zerfaserte mit der Maueröffnung sofort. Und insofern war die Maueröffnung, wer immer sie veranlasst hat, auch eine kluge Ventilation."
Aber, wie in einer allerletzten Charmeoffensive, wurde die DDR in jener Nacht zum Land des Lächelns. Die Fernsehbilder vom überforderten Grenzöffner am Übergang Bornholmer Straße gingen um die Welt.
Wolf Leo: "Dann saß da ein Brückenkommandeur mit Lippenstift überknutscht und kriegte das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht. Dieses Lächeln, was ja eine gewisse Zeit da war, ist ja auch verschwunden. Das hat sich sehr schnell wieder durch die neue Anpassung verbraucht."
Wolf Leo, Grafiker, Maler, Zeitzeuge. Demonstrant.
Leo: "Das war ein Aufblitzen von Schönheit der Gedanken, die jetzt in die Situation passten und das, was man sich jahrelang gar nicht getraut hat, zu denken.“
Zitat: "Wer sich nicht bewegt, fühlt seine Fesseln nicht"
Leo: "Na ja, war eben ein kultureller Mix aus dem was oftmals von außen kam. Berliner Humor und Herz und Schnauze war natürlich so eine Art Mutterwitz und Vatersinn auf so eine komische, spielerische Art und Weise. Also für mich ist es auch die Frage nach Sehnsucht! Ja, und wo ist es jetzt hin? Wo sind die Bedürfnisse? Die Gedanken oder diese Sehnsucht! Wo ist die Sehnsucht hin?"
Weggewischt in der Wiedervereinigungshektik
Die heitere, befreiende, spielerische Revolte wurde schon im Winter 89 verdrängt von Wiedervereinigungshektik und D-Mark Utopie. Die Demonstrationen, diese Kommunikationsgemeinschaften des Volkes samt ihrer Kreativität, gingen zurück. Von der Straße direkt unter den Mantel der "Geschichte". Nur selten waren noch so originelle Sprüche zu vernehmen wie:
Zitat:
"Lieber Kohl als gar kein Gemüse."
Der Wendewitz, dieses historische, selbstironische Aufleuchten, dass sich in Witzen manifestierte wie…
Zitat.
"Kann ein sozialistischer Leiter leiten? Im Prinzip ja, aber haben sie einmal einen Zitronenfalter gesehen, der Zitronen falten kann?"
…dieses Aufleuchten verblasste und brach zu neuen Ufern auf. Das kreative Spiel mit der Sprache verschwand in dem Maße, wie die Wiedervereinigung immer realer wurde. Der Wessiwitz machte sich breit.
Zitat:
"Was bekommt man, wenn man einen Ossi mit einem Wessi kreuzt? Antwort: Einen arroganten Arbeitslosen."
Die Diktatur war durch den gesprochenen Witz stets angreifbar, weil das Missverhältnis von Wirklichkeit und öffentlicher Sprache überdeutlich war. In Gesamtdeutschland fremdelte der Ossiwitz, wusste nicht so recht, wohin. Und begann sich zu wenden. Selbstironie wendete sich in Minderwertigkeitsgefühl und Spott. Auf die Fremden, die, die schon immer Unverständnis und Furcht auslösen. Der Wendwitz ging, die Schwaben kamen und der "Stammeswitz".
Zitat:
"Was ist der Unterschied zwischen einem Kuhschwanz und einem Schwaben-Schlips? Der Kuhschwanz verdeckt das ganze Arschloch."
Und der Wessi witzelte zurück.
Zitat:
"Sagt der Ossi zum Wessi: ´Wir sind ein Volk!`
Darauf der Wessi: ´Wir auch!`."
Die Wende war vollzogen, Deutschland witzelte wieder vereint. Wie ein Abgesang an ein viel zu kurzes, heiteres historisches Aufatmen las sich im Frühjahr 1990 an einer Berliner Brandmauer – in meterhohen Lettern – der vielleicht letzte, wirklich gute Wendewitz…
Zitat:
"Die Anarchie ist aufgebraucht. Es war die schönste Zeit."
Nie wieder waren wir so witzig, so kreativ, nie uns selber so bewusst, wie in den verrückten Wendetagen. Irgendwo muss der Witz von damals aber heute noch versteckt sein. Wenn Du dies hörst, lieber Volkswitz, bitte melde Dich!
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