Berlinale 2021

Die Pandemie kriecht in den Kopf

10:10 Minuten
Das Leitungs-Duo der Berlinale, Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin, und Carlo Chatrian, künstlerischer Direktor, stehen im Berlinale-Büro am Potsdamer Platz. Im Hintergrund ein Poster des Festivals.
Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek sieht das Festival nach Corona nicht als Streaming-Festival. Carlo Chatrian, der künstlerische Direktor, hat nur Weltpremieren in den Wettbewerb aufgenommen. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Jens Kalaene
Mariette Riesenbeek und Carlo Chatrian im Gespräch mit Susanne Burg  · 13.02.2021
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Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek freuen sich, dass trotz Corona viele Filme eingereicht wurden. Dass vier deutsche Filme im Wettbewerb laufen, liege an der Qualität der Produktionen und nicht an einer Quote: "In diesem Jahr waren sie stark."
Susanne Burg: Herr Chatrian – die Berlinale im März ist ein wichtiger Jahresauftakt für die Filmbranche. Es gibt viele Filme, viele Einreichungen – und dennoch ist es eine andere Ausgabe als sonst, nämlich eine digitale. Haben Sie alle Filme bekommen, die Sie wollten – oder gab es doch auch Zurückhaltung von Seiten der Produktionsfirmen und Regisseure, ihre Filme in einer digitalen Ausgabe zu zeigen?
Carlo Chatrian: Als wir die Struktur unseres Festivals pandemiebedingt ändern mussten, hatten wir bereits die Hälfte der Filme ausgewählt. Natürlich hatte ich dann die Sorge, dass einige Filme wieder zurückgezogen werden. Zu meiner Überraschung sind fast alle geblieben. Auch wenn es nicht das perfekte Setting ist, so gibt es immerhin dieses digitale Festival und dazu die Ausgabe für das Publikum im Sommer.
Die Produzenten und Vertriebe haben verstanden, was wir da planen und haben nicht nur beschlossen, dass es gut fürs Kino ist, sondern auch für sie. Das heißt, wir haben nicht viele Filme verloren.
Darüber hinaus ist ein Festival auch das Produkt von verfügbaren Filmen. Viele Produktionen haben ihren Filmstart nach hinten verschoben. Häufig werden Filme erst bei der Berlinale gezeigt und kommen dann in den darauffolgenden Wochen ins Kino. Und das ist in diesem Jahr einfach nicht möglich.
Burg: Wie zögerlich waren die Amerikaner? Sie sind zwar im Berlinale Special-Programm vertreten, aber nicht im Wettbewerb.
Chatrian: Der Grund dafür ist, dass wir entschieden haben, nur Weltpremieren zu zeigen – weil der erste Teil des Festivals nur digital stattfindet und das für den Markt wichtig ist. Es gibt amerikanische Filme, zum Beispiel in der Sektion Encounters, denn die Filme entsprechen formal mehr dem Profil dieser Sektion: Sie experimentieren mit Formen und sprechen ein cinephileres Publikum an. Wir waren aber auch mit einem Studio-Film im Gespräch für den Wettbewerb. Aufgrund der Oscar-Strategie der Produzenten, wollten sie ihr Werk noch vor März herausbringen und daher haben wir ihn in die Berlinale Gala Special genommen. Es gibt also amerikanische Filme im Programm, aber aufgrund des besonderen Settings keine im Wettbewerb.

Hybridfestival als Ausnahme

Burg: Die Berlinale ist ja im Grunde eine Hybridausgabe, nur dass der Teil für die Zuschauer auf den Sommer geschoben ist. Frau Rissenbeek, Sie haben immer gesagt, das sei in diesem Jahr eine absolute Ausnahme, aber wenn wir uns die Erfahrungen in Sundance ansehen, sieht man, dass Leute ziemlich begeistert waren, weil ja in diesem Jahr auch Publikum digital zugelassen war und nun über eine halbe Millionen Haushalte Filme gesehen haben, die sie sonst nicht gesehen hätten und einige Filme auch einen gewissen Buzz bekommen haben, siehe der Gewinnerfilm "Coda". Ist die Hybridisierung von Festivals nicht vielleicht doch etwas, worauf es hinausläuft, ein Trend, den man nicht wieder zurückdrehen kann?
Rissenbeek: Also ob Sundance den Trend zurückdrehen kann, kann ich nicht einschätzen, aber man muss sich schon im Klaren sein darüber, dass in Europa die Finanzierung von Kinofilmen auf eine ganz andere Art geschieht als in den USA. Es ist so, dass es für Sundance viel leichter ist, Filme zu bekommen, die sie auch online auswerten dürfen als es in Europa sein wird für europäische Filme. In der Hinsicht können wir uns nicht vergleichen.
Wir werden auch noch schauen, wie die Festivals wie Cannes und Venedig stattfinden. Wie Sie wissen, sind das zwei Festivals, die sich komplett der Kinoleinwand verschrieben haben und sehr deutlich kommuniziert haben, dass sie nicht online gehen werden. Also dieser Trend mit online ist einerseits spürbar, gilt andererseits nicht für alle Festivals. Das muss man differenziert betrachten.

Pandemie und innovative Form

Burg: Die Filme sind in Teilen oder ganz während der Pandemie entstanden. Herr Chatrian, wie spiegeln die Filme das wider?
Chatrian: Etwa die Hälfte der eingereichten Filme waren mehr oder weniger knapp vor der Pandemie fertig, die andere Hälfte ist während der Pandemie entstanden: Auch wenn die Pandemie nicht ausdrückliches Thema in diesen Filmen ist, so spürt man doch, dass die Filmschaffenden die Pandemie im Kopf hatten.
Ich war überrascht, dass Produktionsfirmen dezidiert während der Pandemie Filme geschaffen haben. Céline Sciamma zum Beispiel: Das ist eine Geschichte, die auch während der Pandemie realisiert werden konnte, weil sie mit einer kleinen Gruppe an Schauspielern außerhalb einer Stadt gedreht hat. Einige Filmemacher und -macherinnen haben die Pandemie als eine Herausforderung angesehen, um innovative Formen zu schaffen.
Burg: Sie haben in der Präsentation gesagt, dass die Filme in diesem Jahr weniger düster sind als im letzten Jahr, dass es in den Filmen auch einen gewissen Ärger gibt gegenüber einem System, trotzdem aber auch Hoffnung in die Menschlichkeit. Wie zeigt sich das in den Filmen? Können Sie ein Beispiel geben?

Gefühle der Unsicherheit

Chatrian: Ich würde sagen: 30 Prozent dessen, was man sieht, steckt im Film, aber siebzig Prozent ist die eigene Sicht, sind deine eigenen Gefühle, die du in einen Film projizierst. Ich und meine Kollegen und Kolleginnen im Auswahlkommittee – wir hatten den Eindruck, dass es in den Filmen ein Gefühl der Unsicherheit gibt, der Beklemmung und der Angst.
Ich habe mich dann gefragt, ob das wirklich in den Filmen steckt oder mehr in meinem Kopf. Es gibt keine Antwort darauf. Aber was mir definitiv auffiel: Selbst bei Filmen, die durchaus leichter, komödiantischer sind, wie "Nebenan" von Daniel Brühl, gibt es ein Gefühl der Unsicherheit. Menschliche Beziehungen sind sehr wichtig, denn sie bilden die Basis der Filme, aber es gibt in den Filmen die Frage, wie stark und welcher Natur diese Beziehungen von einem Menschen zum anderen sind.
Der Film von Maria Schrader äußert sich sehr deutlich in dieser Richtung, weil es die Geschichte eines Mannes ist, der für eine Frau designed wurde und hinterfragt, wie ein Mann, der wie ein Roboter aussieht, mit einem Menschen interagieren kann. Viele Filme beschäftigen sich also mehr oder weniger deutlich mit der Frage, wie Menschen eine Beziehung haben und trotzdem einander fremd sein können.

Vier deutsche Filme im Wettbewerb

Burg: Die Filme, die Sie gerade erwähnten, die von Maria Schrader und Daniel Brühl, sind deutsche Filme. Es gibt eine vergleichsweise große Anzahl an deutschen Filmen im Wettbewerb – auch noch Filme von Maria Speth, Dominik Graf, und in gewisser Weise auch von Alexandre Koberidze. Ist die hohe Zahl auch durch die Pandemielage zu erklären?
Chatrian: Wir haben vier deutschsprachige Filme im Wettbewerb. Das ist nicht das erste Mal. Letztes Jahr hatten wir nur zwei – und einige Ihrer Kollegen sagten, das seien zu wenige. Es gibt bei unserer Auswahl keine Quoten. Auch keine Quoten für deutsche Filme.
Das ist gut so und gibt uns eine große Freiheit. So können wir uns danach richten, wie stark die Produktionen sind. Und in diesem Jahr waren sie stark. Es gibt einen Film von Julian Radlmaier in Encounters, es gibt "Copilot" von Anne Zohra Berrached im Panorama, auch ein mit Spannung erwarteter Film ist "Je Suis Karl" von Christian Schwochow in Berlinale Special.
Die deutschen Filme waren sehr stark, vielleicht auch, weil die Berlinale so wichtig ist für den deutschen Film, dass die deutschen Produktionen sich mit größerer Zuversicht und größerem Nachdruck an uns gewandt haben, sogar schon im Sommer und Anfang Herbst, und dann sind sie bei uns geblieben. Aber noch einmal: Wir wählen die Filme aus, weil wir daran glauben, dass sie unter den anderen bestehen können.
Burg: Frau Rissenbeek, es wird hoffentlich auch bald eine Kino- und Festivalzeit nach der Pandemie geben – die Frage wird nur sein: Wie viele Kinos wird es dann noch geben? Die Berlinale ist angewiesen auf Kinos. Eine Frage, die also immer drängender wird: Braucht die Berlinale nicht ihren eigenen Palast?
Rissenbeek: Das glaube ich nicht, im Gegenteil: Ich sehe es als Zusammenarbeit der Berlinale mit den Kinos und es würde fast den Kinos schaden, wenn wir einen eigenen Palast hätten und damit den Kinos ihre Besucher wegnähmen. Und wie Sie wissen, der Berlinale-Palast hat 1600 Sitzplätze. Was macht die Berlinale fünfzig Wochen im Jahr mit einem Palast mit 1600 Sitzplätzen, wenn wir den nur zwei Wochen im Jahr benötigen? Das wäre schwierig und würde konträr zu dem stehen, woran wir glauben, nämlich dass die Kinos eine Existenzberechtigung haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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