Berlin-Kreuzberg im Wandel

"Das Politische ist gar nicht mehr hier"

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Menschen sitzen an Tischen draußen vor dem Restaurant Knofi in der bei Touristen beliebten Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg. Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Inbegriff der Gentrifizierung: die Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg. © picture alliance / imageBROKER / Moritz Wolf
Von Wolf-Sören Treusch · 27.11.2020
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Hausbesetzungen, Randale, grün-alternative Szene: Dafür stand Berlin-Kreuzberg jahrzehntelang. Davon ist nur noch wenig übrig. Stattdessen: Gentrifizierung, Touristen und steigende Immobilienpreise. Viele Kreuzberger hängen dennoch an ihrem Kiez.
"Es ist überall dichter und dementsprechend – Kreuzberg war nie ein aufgeräumter Bezirk – ist es auch dreckiger geworden. Aber die Art des Drecks ist ja auch entscheidend."
"Das ist ein wahnsinniger Verkehr geworden. Wir haben hier vorm Haus täglich einen Stau von mehreren Stunden, und man hat unglaublich viel Massentourismus, Feiertourismus."
Lisa und Manfred Piepho wohnen in einem Mietshaus aus der Gründerzeit, direkt am Ufer der Spree. Heute 1-A-Wohnlage, in den 1980er-Jahren, als die beiden hierherzogen, aber der "Arsch von Berlin". Benannt nach dem alten Postleitzahlbereich SO 36. Kreuzberg 61 hieß der aufgeräumtere Teil des damaligen West-Berliner Szenebezirks.
Manfred Piepho sagt: "Ich meine, 36 war natürlich das arme Kreuzberg gegenüber 61, wo doch eher die Lehrer und Studienräte oder Künstler wohnten, die auch ein bisschen von ihrem Zeug leben konnten."
Lisa Piepho ergänzt: "Wir waren im Ghetto, so wurde das immer genannt." – "Genau", sagt ihr Mann. Ich kannte Leute, die immer gesagt haben: 'Wo wohnst du?' – 'Na da, Schlesisches Tor.' – 'Oh, im Ghetto, du Armer.' Die Türken, die armen Schlucker und die Künstler."

Touristen zerdeppern Flaschen auf dem Bürgersteig

Aus dem Ghetto ist einer der meistbesuchten touristischen Hotspots in Berlin geworden. Mit weitreichenden Konsequenzen für die Anwohner. Manfred Piepho erzählt, auch er habe früher gern mal sein Feierabendbier auf der Straße getrunken. Nie aber wäre er auf die Idee gekommen, die Flasche anschließend auf dem Bürgersteig zu zerdeppern. Wie das viele Kreuzberg-Touristen heute tun. Was ihn ungemein nervt.
"Ich glaube, dass einfach für viele, die aus Weiß-der-Kuckuck-woher kommen, Berlin so einen Nimbus hat: Hier darf man alles, hier kannst du auch mal eine Pulle ... und jeder glaubt das mal hier ausleben zu müssen: Das Wegebier, wenn es leer ist, einfach wegzupfeffern und damit irgendein Lebensgefühl auszudrücken, das scheinbar sonst nicht da ist."
Auch die Zahl der Straftaten ist in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Die Gegend rund ums Schlesische Tor gilt als Kriminalitätshotspot. Der Drogenhandel aus dem nahe gelegenen Görlitzer Park sickert unentwegt in die Wohngebiete der Nachbarschaft.
Eine Häuserfassade mit bunten Graffitis in Berlin-Kreuzberg.
Bunte Graffitis gehören zu Kreuzberg wie die Oberbaumbrücke zur Spree.© Deutschlandradio / Wolf-Sören Treusch
Unmöglich, findet Lisa Piepho. "Für meine Begriffe ist das einfach zu liberal, wie damit umgegangen wird. Ich finde schon, dass man da ein bisschen mehr tun müsste, bisschen mehr Präsenz zeigen müsste, dass das einfach nicht geht. Man kann doch nicht hier in einem Lebensraum, wo Kinder in Kitas und Jugendliche, die dadurch auch dauernd verführt werden, was zu nehmen oder was zu kaufen, ständig angesprochen werden. Und das gefällt mir einfach nicht."

Alles viel zu laut

"Oh je. Ich bin froh, dass ich da vorne nicht mehr wohne, es ist wirklich laut."
Die Admiralbrücke ist einer der angesagten Berliner Partyorte. Am Übergang von SO 36 zu Kreuzberg 61 führt sie über den Landwehrkanal. Wenn es die Temperaturen annähernd zulassen, treffen sich hier regelmäßig Dutzende von Lebenshungrigen aus aller Welt. Wenn niemand kontrolliert, bis tief in die Nacht.
"Eine Freundin von mir wohnt da noch, und da oben auf dem Balkon zu sitzen, das ist schon laut. Ist schon ein ordentlicher Geräuschpegel."
Gabriele Härtig zog 1975 von Lübeck nach West-Berlin. Zunächst nach Charlottenburg, dann, in der Hochphase der Hausbesetzerbewegung, nach Kreuzberg. "Das musste einfach sein", sagt sie. "Und ich habe dann auch ein Haus mitbesetzt." 1979 war das. Ihr politisches Engagement fand allerdings ein jähes Ende.
"Das war einfach zu anstrengend damals. Man hat dieses Haus besetzt. Und Sie kennen ja die Situation damals, man hat ja irgendwie permanent Wache schieben müssen, weil man Angst hatte, man wird geräumt. Und die ersten Generationen wohnen ja auch alle gar nicht mehr in den Häusern. Das Politische ist gar nicht mehr hier in Kreuzberg. Es ist jetzt eine ganz andere Generation, die hier ist. Das Politische ist vielleicht nach Friedrichshain gezogen. Aber Kreuzberg ist ja nun sehr etabliert."

Paradebeispiel für Gentrifizierung

Der Lauf der Zeit, sagt sie. Nach diversen Umzügen innerhalb Kreuzbergs wohnt Gabriele Härtig seit 2006 nur wenige Straßen von der Admiralbrücke entfernt, im sogenannten Graefekiez.
"Ich hatte das Gefühl, ich muss mich immer verteidigen und sagen: So schlimm ist Kreuzberg gar nicht. Wenn ich jetzt sage, ich wohne im Graefekiez, muss ich mich nicht mehr verteidigen. Es wird jetzt sehr wohlwollend angenommen", sagt sie und lacht.
Der Graefekiez ist ein Paradebeispiel für das, was Stadtsoziologen Gentrifizierung nennen. Wohnungen und Häuser wurden saniert, Besserverdienende zogen in den Kiez. Schicke Läden und Gastronomie siedelten sich an, alteingesessene Bewohner und Gewerbetreibende mussten weichen.
Der Sozialwissenschaftler Sigmar Gude hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zahlreiche Studien zu sozialen Veränderungen in den Berliner Innenstadtbezirken durchgeführt.
"Zum Beispiel der Graefekiez, da hat allerdings wirklich nach meinen Erkenntnissen die stärkste Gentrifizierung eingesetzt", sagt Gude. "Weil: Die Graefestraße-Gegend war, als wir die ersten Untersuchungen damals machten, Mitte der 90er-Jahre, noch eine sehr arme Gegend, ähnlich wie SO 36. Und sie ist heute praktisch auf dem gleichen Niveau wie die Bergmannstraße."

Immobilienpreise um ein Mehrfaches gestiegen

Die Bergmannstraße, das ist die bürgerliche Hochburg von Kreuzberg 61. Insgesamt zählt Kreuzberg mittlerweile zu den nachgefragtesten Wohnlagen der Hauptstadt. Ein Trend, der sich in den Immobilien- wie in den Mietpreisen widerspiegelt. Eigentumswohnungen sind um ein Mehrfaches teurer als vor zehn Jahren, und die Mieten haben ebenfalls kräftig angezogen.
Gabriele Härtig hat Glück. Sie wohnt in einem der wenigen Häuser in ihrem Kiez, die noch nicht an einen der großen Immobilienkonzerne gegangen sind. Knapp sechs Euro netto kalt pro Quadratmeter zahlt sie Miete. Dennoch denkt sie darüber nach wegzuziehen.
"Ich fühle mich schon zu Hause, weil ich hier lange lebe. Aber für mich verändert sich das Kiezgefühl: Dass ich rausgehe und viele Leute kenne oder die Restaurants kenne. Also es gibt nicht mehr so viel Grund, hierzubleiben. Ich werde jetzt 65. Ich bin nicht wirklich alt, aber ich gehöre auch hier nicht mehr hin."
Zwei Kilometer weiter befindet sich der Kiez rund um die Bergmannstraße. Zwischen sanierten Gründerzeitbauten, Vintageläden und Ökowochenmarkt hat sich hier die grün-alternative Szene ihre Wohlfühloase geschaffen. Schon zu West-Berliner Zeiten.

Toleranz und Freiheit in Gefahr

"Die Freiheit war, hierherzukommen und so zu leben, wie man will. Unbeobachtet. Unter Gleichgesinnten, die man sich selbst aussucht. Eine Wahlfamilie. Auch durchaus das Nichtbürgerliche, Antibürgerliche. Als ich hierher gezogen bin, war das auch ein Move gegen meine Eltern. Das war Kreuzberg, und das hat immer Freiheit versprochen."
Und genau diese Freiheit und Toleranz sieht Rainer Traube in Gefahr. Er kommt aus dem Badischen, seit 1989 wohnt er am Rande des Bergmannkiezes. Altbau, vierter Stock, mit Balkon und Blick über die Stadt. Den Boom, den Kreuzberg neuerdings wieder erlebt, sieht er mit gemischten Gefühlen. Weil nun auch immer mehr soziale Randgruppen die Straßen und Plätze der Umgebung besetzten.
"Ein solches Ausmaß an Armut und Elend im öffentlichen Raum habe ich früher nicht wahrgenommen", sagt er. "Es ist schwierig, wenn man morgens zur Arbeit geht und erstmal durch Urinlachen steigen muss in der U-Bahn, und die halbe U-Bahn besetzt ist von Leuten, die dort kampieren über Nacht. Gleichzeitig: große Autos, Share Cars, Grün wählende Bohème mit kleinen Kindern. Wo die Eltern ihren Beitrag zur Eigentumswohnung oder zur Mietwohnung leisten, die im Bioladen einkaufen und am Wochenende die Auswahl haben zwischen mindestens neun Orten, wo man französischen Rohmilchkäse kaufen kann."

Zunehmende Verwahrlosung

Die Wohlstandsschere geht weiter auseinander, die Kluft zwischen Arm und Reich in Kreuzberg wird größer. Hier die gut situierte Mittelschicht, dort die Abgehängten. Ein Blick in den Sozialatlas verrät: Nur wenige Gehminuten entfernt befindet sich ein Quartier, in dem zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen in Familien aufwachsen, die von Transferleistungen abhängig sind.
Und das alles, so Rainer Traube, vor dem Hintergrund einer von den Grünen dominierten Bezirkspolitik, die es noch nicht einmal versteht, Fahrradwege ordentlich herzurichten: "Man hat den Eindruck, dass die, die den Bezirk regieren, verwalten, vor allem daran interessiert sind – und das zeigt sich in jedem Interview –eine linke Politik zu machen. Und nicht eine gute. Nicht eine für die Bürger, sondern eine, die vor allem ideologisch getrieben ist."
Fehlende stadtplanerische Konzepte, eine zunehmende Verwahrlosung, immer mehr Feiertourismus. Rainer Traube hat einiges auszusetzen an Kreuzberg, und doch findet er: Abwechslungsreicher als hier ist es nirgendwo. Wegzuziehen ist – noch – keine Option.
"Die Frage stelle ich mir seit drei, vier Jahren intensiv, oder wir uns: Ob mein Mann und ich noch hierhergehören", sagt Lisa Piepho. "Es gibt einen Grund, das ist unsere Wohnung, und auch Freunde, die hier leben, und ein paar schöne Grünanlagen und ein paar Läden. Also gibt’s doch wieder eine ganze Menge Gründe. Ich glaube, wir ziehen jetzt erst mal hier nicht weg. Man kann so einen Lebensort auch nicht einfach austauschen wie ein Auto oder selbst einen Job vielleicht. Man ist schon verwurzelt."
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