Berichte über die Kluft zwischen den Schichten

15.10.2013
Iwan Bunin war viel unterwegs und rastlos: in der Türkei, im Nahen Osten und Indien. Aber im Sommer 1911 kam der russische Erzähler und Nobelpreisträger zur Ruhe und verbrachte viel Zeit auf dem Land. Seine Erfahrungen aus diesem Sommer sind in die Erzählungen des Bandes "Gespräch in der Nacht" eingegangen.
Acht Erzählungen versammelt der Band "Gespräch in der Nacht". Bunin hat sie im Jahr 1911 geschrieben, als er mehrere Monate auf dem bescheidenen Familiensitz in Glotowo verbringt. Der 41-Jährige ist zu diesem Zeitpunkt ein arrivierter Dichter und Träger des renommierten Puschkinpreises. Das vorangegangene Jahrzehnt hat ihm nicht nur den Durchbruch als Schriftsteller beschert, sondern markiert auch den Beginn seiner leidenschaftlichen Reisetätigkeit, unter anderem in die Türkei, in den Nahen Osten, nach Ägypten und Indien.

Im Frühjahr und Sommer 1911 gerät Bunins rastloses Leben in der russischen Provinz in ruhige Bahnen. Der regelmäßige Alltag und das vertraute dörfliche Ambiente inspirieren ihn zur Beschäftigung mit der einfachen Landbevölkerung und wecken zugleich Erinnerungen an seine hier verbrachte Kindheit und Jugend.

Bunin verzichtet in diesen Texten fast durchweg auf stringente Handlung und beschreibt einfühlsam Spaziergänge und Ausflüge in die bäuerliche Welt - buchstäblicher Art wie auch im übertragenen Sinn. Inspiriert wird er dabei von realen Figuren aus seiner unmittelbaren Umgebung. Eine davon - der 108jährige Taganok - erscheint in der Erzählung "Hundertacht" sogar unter ihrem richtigen Namen. Darin besucht ein junger Lehrer namens Iwanizki vor seiner Abreise nach Moskau noch einmal die "Berühmtheit" der Gegend - den erwähnten Greis - um einer "hundertjährigen Seele auf den Grund zu schauen".

Iwanizkis Erwartung, aus dem Munde des wandelnden Jahrhunderts besondere Erinnerungen und Erlebnisse zu hören, zerplatzt an der profanen Realität - Taganok erinnert sich an kaum etwas. Er vegetiert in ärmlichsten Verhältnissen, wird von seiner Schwiegertochter geschlagen und mit Essen unterversorgt. Unüberbrückbar ist die Sprachlosigkeit zwischen dem Intellektuellen und dem alten Mann.

Auch die titelgebende Erzählung "Gespräch in der Nacht" thematisiert schonungslos die große Kluft zwischen den Schichten. Ein junger Gymnasiast, der den Sommer mit den Bediensteten und Bauern seines Vaters verbracht hat, erkennt nach einer Nacht voller grausamer Geschichten, wie wenig er doch wirklich begriffen hat:

"Und so wäre er nach den Ferien in die Stadt gefahren ( ... ) und hätte sein Lebtag angenommen, er habe das russische Volk gründlich studiert."

Die Erzählung "Ein gutes Leben" wechselt radikal die Seiten und erzählt aus der Ich-Perspektive einer Kleinbürgerin, deren Vater noch Leibeigener war, wie sie mit Bauernschläue und maßloser Härte ihren gesellschaftlichen Aufstieg bewerkstelligt hat.

Bunin legt keinerlei moralische Wertung ab, verurteilt weder die einen noch die anderen - wohl aber beschreibt er präzise und eindringlich, welche Lebensumstände einen Menschen antreiben können.

Nicht nur das Innenleben seiner zahlreichen Figuren weiß Bunin realitätsgenau wiederzugeben. Als vollendeter Stilist beherrscht er virtuos die unterschiedlichsten Sprachebenen - vom lakonischen Dialog bis hin zu eleganter Naturbeschreibung reicht das Spektrum. Bunin ist ohne Zweifel einer der größten Meister der russischen Prosa. Er vereint das präzise Formbewusstsein von Turgenew mit der seelenvollen Menschenkenntnis von Tschechow. Man kann sich nur auf jeden weiteren Band der insgesamt zwölfbändigen Bunin-Werkausgabe freuen.

Besprochen von Olga Hochweis

Iwan Bunin: Gespräch in der Nacht
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg, herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Grob
Dörlemann Verlag Zürich
2013, 260 Seiten, 23,90 Euro


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Unhaltbare soziale Zustände - Iwan Bunin: "Das Dorf" und "Suchodol", Dörlemann Verlag, Zürich 2011, 384 Seiten
Ungeschöntes Russland- Iwan Bunin: "Am Ursprung der Tage", Dörlemann Verlag, Zürich 2010, 380 Seiten