Benjamin Balint: „Kafkas letzter Prozess“

Streit um einen Koffer Manuskripte

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Cover: Benjamin Balint: "Kafkas letzter Prozess"
Israel, so Benjamin Balint, habe lange gebraucht, Franz Kafka als wichtige jüdische Stimme anzuerkennen. © dpa / picture alliance / Berenberg Verlag
Von Natascha Freundel · 04.03.2019
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Als der Prager Schriftsteller Max Brod nach Tel Aviv floh, hatte er Manuskripte und Kritzeleien seines Freundes Franz Kafka dabei. Daraus entstand ein Gerichtsstreit, über den Journalist Benjamin Balint „Kafkas letzter Prozess“ geschrieben hat.
Franz Kafka hätte über den Streit um seine Handschriften einen rätselhaft schillernden, naturgemäß unvollendeten Roman schreiben können. Benjamin Balint kennt jedes Kapitel dieser Brod-Kafka-Causa:
"Ich hatte den Eindruck, dass die drei an dem Prozess beteiligten Seiten die physischen Manuskripte Kafkas, sogar in Zeiten der Digitalisierung, wie Reliquien behandelten. Reliquien sind Dinge, die uns auf materielle Weise mit einem Heiligen in Verbindung bringen. Man sieht den Einfluss Brods sogar in diesem Prozess, weil er ihn als säkularen Heiligen porträtiert hat."
Eva Hoffe, die Tochter von Max Brods Sekretärin Ester Hoffe, die Nationalbibliothek in Jerusalem und das Deutsche Literaturarchiv in Marbach waren an diesem letzten Prozess um Kafkas Originale beteiligt, die auf dem internationalen Handschriften-Markt zu den teuersten gehören. Balint zeigt die Argumente jeder Prozesspartei und hat erstaunlich viel Sympathie für die eigensinnige Eva Hoffe, die bis zu ihrem Tod im vergangenen Sommer über den Max Brod-Nachlass herrschte.

Israel und Deutschland beanspruchen "ihren" eigenen Kafka

Der lag in ihrer von Katzen bevölkerten Tel Aviver Wohnung und in einigen Banksafes in Tel Aviv und Zürich. Was Israel und Deutschland betrifft, ist der Autor in seiner Kritik expliziter. Er verdeutlicht, wie die Literaturtempel beider Länder "ihren" je eigenen Kafka beanspruchten.
"Vor Gericht waren Anwälte für Deutschland, für das Literaturarchiv in Marbach, die sagten, natürlich hat Franz Kafka nichts mit Palästina zu tun. Und er starb, bevor Israel gegründet wurde. Wie können Sie also behaupten, dass Kafka israelisches Kulturerbe ist? Er war kein Zionist.


Und die Anwälte für die Nationalbibliothek in Jerusalem gaben zurück: Deutschland ist der letzte Ort, an das Kafkas Erbe gehen sollte. Sie betonten vor Gericht natürlich, dass alle drei Schwestern Kafkas in der Schoah umgekommen waren. Das hatte nichts mit den im strengen Sinne juristischen Aspekten des Falles zu tun. Aber es war erstaunlich für mich, dass das die Argumente waren."
Undatierte Aufnahme von Franz Kafka.
Undatierte Aufnahme von Franz Kafka.© imago/Leemage

Es gibt keine hebräische Gesamtausgabe von Kafkas Werk

Israel, so Benjamin Balint, habe lange gebraucht, Franz Kafka als wichtige jüdische Stimme anzuerkennen. Bis heute gibt es weder eine Gesamtausgabe seiner Werke auf Hebräisch, noch eine Kafka-Straße oder einen Kafka-Platz in Israel. Aber Jerusalem betrachte sich als Zentrum, als Kulmination der jüdischen Geschichte:

"Meiner Meinung nach repräsentiert die Literatur des jungen israelischen Staates die starken Söhne, die sogenannten neuen Juden, die ihre schwachen Väter im Exil überwanden. Bei Kafka ist es meistens genau umgekehrt: Da haben wir einen starken Vater und schwache Söhne. Seine Themen der Entfremdung kamen in der Literatur und im Bewusstsein des neuen Staates nicht an."


Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das bereits Kafkas Handschrift des "Prozess"-Romans besitzt, trat in der letzten Phase des Nachlass-Streits vor dem Obersten Gerichtshof in Jerusalem als scheinbar unbeteiligter Prozessbeobachter auf. Man hoffte auf den Zuspruch für Eva Hoffe und darauf, dass sie den Brod-Nachlass mit den Kafka-Papieren an Marbach verkaufen würde. Zugleich argumentierte das Literaturarchiv unter Ulrich Raulff wie auch weite Teile der deutschen Presse mit einer gewissen Überheblichkeit:
"So, als würde Marbach ein universales, humanistisches Interesse an der Literatur an sich vertreten, während die Israelis etwas wenn nicht Provinzielles, so doch eher Partikulares repräsentierten."
Max Brod (1884-1968), Erzähler, Dramatiker und Philosoph, Photographie um 1940.
Max Brod (1884-1968), Erzähler, Dramatiker und Philosoph, Photographie um 1940.© picture-alliance/dpa/Imagno

Kafka-Papiere gingen an die Nationalbiblitohek in Jerusalem

2016 entschied Israels Oberster Gerichtshof, dass der Max Brod-Nachlass mit den Kafka-Papieren an die Nationalbibliothek in Jerusalem gehen und dort digitalisiert werden soll. Für Archivar Stefan Litt, der an der Nationalbibliothek für den deutschsprachigen Bestand verantwortlich ist, bedeutet das eine wichtige Erweiterung der Jerusalemer Sammlung zum "Prager Kreis". Max Brod und nicht Franz Kafka, von dem das meiste veröffentlicht ist, könne nun erstmals gründlich erforscht werden, so Litt:
"Was ja immer ausgeblendet wird, dass Max Brod einfach die letzten 30 Jahre seines Lebens hier gelebt hat. Und er war kulturell eine ganz wesentliche Figur für die junge israelische Nationalkultur, insbesondere gerade in Hinsicht auf das Theaterschaffen hier."
"Gleichwohl ist die traurige Realität, dass niemand am Brod-Nachlass interessiert gewesen wäre, würde er nicht Kafka-Material einschließen",
betont Benjamin Balint. Detailreich, packend, provokativ und poetisch führt sein Buch die Facetten des israelisch-deutschen Kafka-Streits vor Augen und spart dabei nicht mit Kafka-Zitaten. Denn niemand verteidigt Kafka gegen alle Besitzansprüche besser als Kafka selbst.

Benjamin Balint: Kafkas letzter Prozess
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Berenberg Verlag 2019
336 Seiten, 25,00 Euro

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