Belletristik

Die erste Liebe und die verlorene Kindheit

Von Uwe Stolzmann · 25.09.2012
Florjan Lipus war als Erzähler lange ein Geheimtipp. Bis ihn Peter Handke 1980 entdeckte. "Bostjans Flug", laut Handke der beste Roman des slowenischen Autors, erschien in deutscher Sprache erstmals 2005. Nun gibt es eine Neuausgabe.
Ginge es nach Peter Handke, dann stünde ein Dichter seiner Heimat in der Gunst der Leser weit oben: der Erzähler Florjan Lipuš, Jahrgang 1937. Handke und Lipuš sind Kärntner Slowenen, Teil einer diskriminierten Minderheit.

Was sie unterscheidet: Lipuš – Lehrer von 1966 bis 1999 – lebt auf dem Land, und er schreibt nur Slowenisch, sein Werk entstand auf der „Schattseite“ des Literaturbetriebs. Aber was für ein Werk, mit eigenem Kosmos und einer unnachahmlichen Sprache, die noch die Schrecken der Biografie lyrisch umfängt.

Handke hat 1980 ein Buch von Lipuš übersetzt, „Der Zögling Tjaž“, seither lobt er die Kraft des Kollegen, vor allem schätzt er einen Roman: „Boštjans Flug“. Das Original erschien 2003, 2005 auch eine deutsche Fassung (bei Wieser), nun gibt es eine Neuausgabe in der Bibliothek Suhrkamp.

„Boštjans Flug“ beginnt märchenhaft. Wir begleiten einen Jungen an einem Morgen durch ein Kärntner Tal. Im Fichtenwald trifft er auf Lina, ein Mädchen seines Dorfs, das er schon lange begehrt. Sie gehen ein Stück miteinander, und siehe: Sie finden zueinander.

„Boštjan hat sich mit Lina angesteckt“, lesen wir, er glaubt zu fliegen. Mit leisem Pathos, ohne Kitsch erzählt Florjan Lipuš vom Glück der ersten Liebe; er erzählt so, dass der Leser diese Liebe zu erleben glaubt. Auf ihrem Weg bergwärts passieren die jungen Leute eine Hütte, versperrt, „die Fenster mit Brettern verschlagen“ – Boštjans Elternhaus.

Die zwei erkunden die Hütte, erkunden die Biografie der Familie, auch die verschlossenen Kammern, und das Märchen wird plötzlich zur Schreckensgeschichte. Boštjan erlebte, was auch Lipuš erlebte - die Enge des Dorfs, den Druck der Deutschkärntner Mehrheit, den Horror der Nazi-Zeit.

Eine Zeitreise zurück in die Vierziger: Boštjans Vater ist Soldat der Wehrmacht im Weltkrieg, andere Slowenen ziehen als Partisanen durchs Gebirge. Eines Tages kommen Gendarmen auf den Hof, Boštjans Mutter soll mit in die Stadt zu einer Befragung, „nur kurz auf den Posten“. Der Junge, Boštjan oder Florjan, sieht sie nie wieder.

Lipuš’ Mutter wird deportiert, sie stirbt in Ravensbrück. Boštjan weiß noch nichts von Ravensbrück, doch das Sterben Tod der Mutter erahnt er in einer schaurig poetischen Szene. Er ist unterwegs, und plötzlich kommt es über ihn – er weiß, „dass gerade jetzt, während er auf der Straße dahingeht, die Mutter ins Gas geschickt wird“. Wir lesen: „Lange dauerte ihr Sterben“, und wir ahnen: Bis heute hat der Sohn diesen Tod nicht verwunden.

„Boštjans Flug“ könnte ein trauriges Buch sein, es ist ein lebensfrohes Buch. Weil ein Junge sein Mädchen getroffen hat. „Sie gingen zu zweit ins Helle, in den Tag, der sich für sie breit machte.“ Was für ein Text, erschütternd, elegisch, so schmerzhaft kreisend, so bitter und licht.

Peter Handke hat ein beseeltes Nachwort geschrieben, er preist die Geschichte als „das erste Buch der Liebe seit (fast) unvordenklichen Zeiten“, und schon an anderer Stelle gab er ihr das Etikett, das sie verdient: „Weltliteratur“.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Florjan Lipus: Bostjans Flug
Aus dem Slowenischen von Johann Strutz
Mit einem Nachwort von Peter Handke
Suhrkamp, Berlin 2012
167 Seiten, 19,95 Euro