"Bella ciao" beim Protest gegen Corona-Maßnahmen

Kulturelle Aneignung als "Verquerdenken"

08:09 Minuten
Schild mit der Aufschrift "Willkommen in der Diktatur - Sie verlassen Demokratie" bei der Querdenken-Demonstration in Leipzig am 7.11.2020
Diktatur statt Demokratie: Für manche Corona-"Querdenker" steht die Welt Kopf. © imago images / opokupix
Bodo Mrozek im Gespräch mit Gesa Ufer · 13.11.2020
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Das italienische Lied "Bella Ciao" bei einer "Querdenker"-Demo - wie passt das zusammen? Solche Aneignungen sind üblich, sagt Bodo Mrozek. Doch das alte Partisanen- und Protestlied werde missbraucht, um Diktaturen zu verhamlosen.
Deutschlandfunk Kultur: Zu den unerwarteten Nebenwirkungen der aktuellen Covid-Pandemie gehört eine neue, mitunter etwas bizarre Protestkultur. Da treffen esoterische Trommler auf sogenannte Reichbürger und offene Neonazis, als vor wenigen Tagen in Leipzig selbsterklärte "Querdenker" protestierten. Da kam ein historisches Lied unerwartet zu neuen Ehren: Das alte Partisanenlied "Bella Ciao" in diesem Kontext verschoben – das besprechen wir mit dem Kulturhistoriker und Autor des Buches "Jugend – Pop – Kultur", Bodo Mrozek. Hat Sie das überrascht, dieses Lied im Kontext von "Querdenken" zu hören?
Bodo Mrozek: Einerseits ja, denn es handelt sich um ein Lied, das eher aus einem politisch linken Kontext stammt, und nach allem, was wir über die "Querdenken"-Demo wissen, wurde sie ja von einem harten Kern auch gewaltbereiter Rechtsextremisten zumindest mitgetragen.
Deutschlandfunk Kultur: Wo kommt das Lied "Bella Ciao" denn eigentlich her?
Mrozek: Der genaue Ursprung, die Autorschaft des Liedes, ist unbekannt. Eventuell ist die Melodie jiddischen Ursprungs. Es gibt aber zwei unterschiedliche italienische Urversionen. Die hierzulande bekannte Version ist ein Partisanenlied, das im Kampf gegen die nationalsozialistischen deutschen Invasoren und ihre faschistischen italienischen Verbündeten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Norditalien entstanden ist und einen Kämpfer der Resistenza besingt, der im Schatten der kleinen Blume begraben sein will, wie es in der deutschen Version heißt.

Protestlied von Reispflückerinnen

Es gibt aber auch eine zweite Version. Der italienische Historiker Cesare Bermani hat gerade in einem Buch gezeigt, dass Anfang der 50er-Jahre Reispflückerinnen einen eigenen Text auf das Lied gedichtet haben und darin über ihre Arbeitsbedingungen klagen. Denn war es bei Strafe verboten, sich auf den Feldern zu unterhalten. Und so haben sie mit diesem 'Working Song' kommuniziert – der aber auf dem älteren Partisanenlied aufbaut.
Deutschlandfunk Kultur: Was ist denn zu dieser Version zu sagen?
Mrozek: Was da auffällt, im Unterschied zu anderen Partisanenliedern aus dieser Zeit, ist, dass es vom Text her eigentlich kein kommunistisches Lied ist, noch nicht mal ein dezidiert linkes, sondern nur eines von Partisanen in den Bergen, die ihr Land von den Invasoren befreien wollen und für Freiheit kämpfen, die hier als kleine Blume besungen wird. Und es gab auch Partisanen, die aus dem bürgerlichen Lager kamen.
In der Folge hat aber das Lied eine Karriere im politisch linken Kontext gemacht, es wurde in viele Sprachen übertragen und in Deutschland von Liedermachern wie Peter Roland oder Hannes Wader intoniert. Und in der DDR war es durch die Singebewegung und die FDJ weit verbreitet und findet sich in sehr vielen Liederbüchern.

Umdichten von Liedern

Deutschlandfunk Kultur: Das ist ja nun alles ziemlich lange her und auch die Erinnerung an der DDR verblasst allmählich. Was macht denn nun die Heutigkeit des Songs aus?
Mrozek: Er hat ein überraschendes Comeback gefeiert, als er von Italienier_innen 2018 auf öffentlichen Plätzen und sogar in der U-Bahn als Protest gegen die rechtspopulistische Regierung Maio-Salvini gesungen wurde. Dann wurde das Lied auch von den Balkonen herab gesungen aus Solidarität mit dem Krankenhauspersonal in Bergamo und schließlich sogar im deutschen Bamberg aus Solidarität mit dem Covid 19-gebeutelten Italien.
Deutschlandfunk Kultur: Wie kommt ein klarer Protestsong, der eher für Solidarität mit dem Kampf gegen Corona steht, nun auf eine Demo von Corona-Relativierern?
Mrozek: Die Version, die in Leipzig zu hören war, kommt aus einer anderen Quelle und zwar aus der im Zusammenhang mit der spanischen Netflix-Serie "Haus des Geldes", einer Bankraub-Klamotte, der bekannt gewordenen Version des französischen DJs Hugel, der es unter dem Pseudonym El Professor zum Sommerhit 2018 gemacht hat. Diese Version erklang in Leipzig. Dazu wurde Ringelreihen getanzt und "maskenfrei" gegrölt.
Deutschlandfunk Kultur: Ist so eine politische Wanderung ungewöhnlich?
Mrozek: Im Grunde nicht. Wir kennen solche De- und Rekontextualisierungen aus der Geschichte. Da konnten Lieder auch von links nach rechts wandern und umgekehrt. Das antifranzösische "Argonnerwald-Lied" aus dem Ersten Weltkrieg etwa, zu dem auch die Nationalsozialisten marschiert sind, gab es auch in einer Version des Spartakusbundes, die Zeilen wurden einfach umgedichtet zu "Spree-Athen". Da kam es in den 20er-Jahren zu Szenen, wo sich beide Gruppen gegenüberstanden und mit zwei verschiedenen Texten zur selben Melodie gegeneinander angesungen haben. Oder der Schlager der volkstümlichen Musik "Lebt denn der alte Holzmichl noch", der ist seit 1877 unter verschiedensten Titeln bekannt und in den 1970ern wurde das auch mal auf den alten Adenauer bezogen.

Verharmlosung von Zwangssystemen

Deutschlandfunk Kultur: Wie bewerten Sie das, wenn so ein ehemaliges Lied gegen den Faschismus nun plötzlich bei rechten Corona-Leugnern auftaucht?
Mrozek: Ich würde da zwei Bewertungen machen. Das eine ist die wissenschaftliche Bewertung. Also: Unterschiedliche Aneignungen, egal welche, die machen ein Lied überhaupt erst zu einem populären, sei es im Fussballstadion oder eben hier auf einer Demo.
Politisch hingegen würde ich das so bewerten, dass sich in Leipzig hier natürlich eine Geschichtsrelativierung artikuliert, auch auf den Plakaten, so nach dem Motto: Die derzeitige Gesundheitspolitik sei so schlimm wie die DDR oder etwa auch der Nationalsozialismus. Und das ist dann nicht nur geschmacklos, sondern auch eine Verharmlosung dieser Zwangssysteme. Bezogen auf das "Bella Ciao" würde ich sagen: Sich beim Supermarktbesuch ein Stück Papier vors Gesicht zu binden, ist dann doch etwas anderes als zwölf Stunden Arbeit auf dem Reisfeld oder der Einsatz des eigenen Lebens im bewaffneten Kampf gegen den Faschismus. Sollte da so eine implizite musikalische Gleichsetzung mitschwingen, dann ist das nicht "Quer-", sondern mindestens "Verquerdenken", wenn nicht Schlimmeres.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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