Belgrad aus der Sicht eines Blinden

Von Katrin Lechler · 29.07.2013
Die serbische Hauptstadt Belgrad war lange Zeit ein weißer Fleck auf den touristischen Landkarten. Seit einigen Jahren aber kommen die Besucher - und mit ihnen wächst die Vielfalt an Angeboten. Es gibt nun sogar Rundgänge von Menschen mit Behinderungen.
Pünktlich um zehn Uhr steht Sebastian Asimouski neben dem riesigen Reiter-Standbild auf dem Platz der Republik in Belgrad, blaues Kragenhemd mit Nadelstreifen, die eine Schulter hängt etwas tiefer als die andere. Er freut sich immer über deutsche Gäste, auch wenn es heute nur eine deutsche Journalistin ist.

"Irgendwie fühlen wir uns am besten mit den deutschen Touristen - auch ich als Touristenführer. Es ist immer eine gute Atmosphäre, und ich muss zugeben, dass ihr sehr pünktlich, präzise und verantwortungsvoll seid."

Sebastijan lächelt mit geschlossenen Augen. Seine Hand ruht auf der Schulter von Valentina Malinova. Die junge Weisrussin arbeitet genau wie Sebastijan ehrenamtlich im Verein "Drugi Pogled", übersetzt der "zweite Blick" mit. Initiiert von einem Belgrader Künstler, zeigen die Vereinsmitglieder die serbische Hauptstadt aus ihrer Perspektive - dem Blick von Menschen, die aufgrund von Behinderungen oder ihrer ethnischen Abstammung ausgegrenzt werden: Rollstuhlfahrer, Menschen mit Down-Syndrom, Sehbehinderte und auch Roma wie der blinde Sebastijan. Valentina hilft Sebastijan bei der Orientierung im Stadtzentrum:

"So, jetzt können wir anfangen, Wir sind auf dem Platz der Republik und hier hat vor drei Tagen das Belgrader Sommerfest angefangen."

So beschreibt Valentina Sebastian das derzeitige Geschehen auf dem Platz. Die beiden schlendern in die weniger Meter entfernte Fußgängerzone Knez Mihailova. Sebastian sammelt sich kurz und beginnt dann mit der Führung:

"Die Knez Mihailova ist ein zentraler Teil von Belgrad, sie ist 790 Meter lang 10,15 Meter breit. Sie existiert seit den 1870er-Jahren. Es ist ein Handelszentrum mit Geschäften für Konfektion und Schuhe, mit Gastronomie, bis hin zur historischen Konditorei "Russischer Zar" im Jugendstil, die schon seit den 1830- er Jahren besteht."
Doch noch lieber als von historischen Details erzählt Sebastijan von seinen Erlebnissen entlang der Tour. Zum Beispiel am Delijska-Brunnen auf der Hälfte der Knez-Mihailova-Straße.

"Ich habe hier oft als Kind die Hände gewaschen oder etwas getrunken. Nicht selten ist mir etwas aus der Hemdtasche ins Wasser gefallen - ein Spielzeug oder eine andere Kleinigkeit."

Und Valentina ergänzt: "Am Samstag wurden hier Comics getauscht. Erinnerst du dich auch, als die Leute hier Legosteine und Kinderüberraschungsei-Figuren getauscht haben?"

Nur 500 Meter Blindenwege in der ganzen Stadt
200 Meter weiter endet die Knez Mihailova an einer stark befahrenen Straße. Eine rot markierte Riffelung auf der Straße soll Sehbehinderten den Übergang zur Festung Kalemegdan erleichtern, doch Sebastijan ist froh, dass er mit Begleitung hier ist.

"90 Prozent der Blinden erkennen diese Farben doch gar nicht. Das ist völlig unfunktional. Außerdem gibt es nur 500 Meter Blindenwege in der ganzen Stadt und sie sind so gemacht, dass der weiße Stock, den wir benutzen, in der Riffelung hängen bleibt."

Auf der anderen Straßenseite liegt die Festung Kalemegdan - auf Türmchen, Mauern und Brücken hat Sebastijan als Kind gespielt, heute führt er Menschen aus der ganzen Welt durch das Wahrzeichen von Belgrad:

"Kalemegdan wurde schon Anfang des ersten Jahrhunderts errichtet. Die Festung befindet sich auf 125,5 Meter Höhe und von hier aus hat man einen Blick auf die Kriegsinsel und die Mündung von Donau und Save."

Wir schlendern zu den breiten hellen Steintreppen, die von der Oberstadt in die Unterstadt führen.

"Ich habe es immer geliebt diese Treppen mit dem Fahrrad runterzurasen, die wir jetzt heruntergehen. Als ich mein Augenlicht nach und nach verloren habe - da war ich neun Jahre alt und habe weniger als einem Meter weit gesehen - bin ich zum Schrecken meiner Eltern weiterhin mit meinem Fahrrad an die Kante der Treppe gefahren und runtergerast."

In seiner Erinnerung ist Sebastijan nicht außen vor, sondern mutig und mittendrin. Obwohl er nur durch den Fehler zweier Ärzte erblindet ist, schließlich jahrelang die falsche Schule besucht hat, und dadurch erst jetzt, mit 23 Jahren einen Schulabschluss machen kann, hat er große Pläne:

"Ich habe mich in einer Hochschule für Recht und Wirtschaft immatrikuliert."

Ein hochgestecktes Ziel, schließlich studieren laut Unicef-Angaben nur ein Prozent der Roma in Serbien. Seit vergangenem Jahr hat Sebastijan auch die Organisation der Touren mit Drugi Pogled übernommen. Das Schwierigste dabei ist die Stadtführer, die im Rollstuhl sitzen, ins Zentrum zu transportieren, denn der Verein bekommt keinerlei Unterstützung von der Stadt.

Unsere letzte Station ist der römische Brunnen aus dem 18. Jahrhundert, der über eine Zugbrücke aus Holz zu erreichen ist.

"Wenn man in den römischen Brunnen hineingeht, ist es dort sehr kalt, bis zu sieben oder acht Grad Celsius."

Doch der 51 Meter tiefe Brunnen ist seit 2007 verschlossen, sagt Valentina:

"Erst ist ein Comic und dann ein Film herausgekommen, in dem es hieß, dass es da unten einen Schatz gibt. Die Wachleute hatten aber keine Lust mehr, die Idioten herauszuholen, die auf den glitschigen Treppen in absoluter Dunkelheit nach unten gestiegen sind. Das ist ein nationales Kulturerbe und kein Massengrab!"

Sebastijan lächelt amüsiert. Seit er Touristen durch Belgrad führt, fährt er ganz selbstverständlich allein durch die Stadt.