Belgien in Corona-Zeiten

Burgfrieden und Experimente

22:01 Minuten
Sophie Wilmes sitzt ernst gestikulierend in einem repräsentativen, mit der Fahne Belgiens geschmückten Raum.
Vor großen Herausforderungen: Sophie Wilmès, 45 Jahre, ist die erste Premierministerin Belgiens. Mit einer Minderheitsregierung führt sie in Corona-Zeiten. © imago/Isopix/Didier Bauweraerts
Von Paul Vorreiter und Marc Bädorf · 24.03.2020
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Belgien ist chronisch unregierbar, aber es gibt Hoffnung: Auf föderaler Ebene ist nach 15 Monaten wieder eine Regierung im Amt - an der Spitze die liberale Sophie Wilmès. Und im deutschsprachigen Osten soll die Demokratie per Losentscheid aufblühen.
Knapp anderthalb Jahre hatte Belgien keine Regierung mit eigener Mehrheit im Parlament. Auch zehn Monate nach der letzten Wahl scheiterten nach und nach alle Versuche eine Koalition zu bilden: Aber plötzlich kam Bewegung in die festgefahrene Situation. Patrick Dewael, Abgeordneter der flämischen Liberalen erklärt:
"Ich denke, für den Kampf gegen das Coronavirus und dessen sozialökonomische Folgen benötigt man eine Regierung, die sehr schnell und tatkräftig auftritt. Das haben wir heute nicht, die geschäftsführende Regierung muss dauernd zum Parlament laufen und um Unterstützung betteln."

Im Podcast der Weltzeit erzählt Marc Bädorf außerdem über den Bürgerrat im deutschsprachigen Ostbelgien. Per Los wird entschieden, welcher Bürger reinkommt und in der Politik als Berater mitmischt. Ein Heilmittel für die Demokratie?

Was er kritisiert, scheinen inzwischen mehrere Fraktionen in der Brüsseler Abgeordnetenkammer auch so zu sehen. Mehr als die Hälfte der zwölf Fraktionen haben sich Mitte des Monats dazu entschlossen, die bisherige Übergangs-Ministerpräsidentin Sophie Wilmès im Kampf gegen das Coronavirus zu stützen.

Krisen-Ministerpräsidentin mit Sonderbefugnissen

Sie ist auf diese Weise zur Krisen-Ministerpräsidentin Belgiens geworden, die bald mit Sonderbefugnissen ausgestattet werden soll. Sophie Wilmès erklärte:
"Das Vertrauen zwischen dem Parlament und dieser Regierung muss durch eine formelle Abstimmung bekräftigt werden. Diese Abstimmung soll die Regierung in die Lage versetzen, ihre Vorrechte und Befugnisse auszuüben."
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die Regierung der liberalen Kabinettschefin ist kein Kabinett, wie wir es aus Deutschland kennen, also eine Regierung, die aus Vertretern der Parteien besteht, deren Fraktionen auch wirklich die Mehrheit im Bundestag haben.
Die Übergangsregierung in Belgien ist nach wie vor eine Minderheitsregierung. Nur drei Parteien stellen die Kabinettsmitglieder: Wallonische und flämische Liberale sowie flämische Christdemokraten. Zusammen haben sie nur 38 der 150 Sitze in der belgischen Abgeordnetenkammer. Was sich aber geändert hat: Das Brüsseler Parlament hat eine Art Burgfrieden geschlossen.

Corona-Regierung für sechs Monate

Ministerpräsidentin Sophie Wilmès steht dennoch an der Spitze einer wackeligen Regierung. Denn die größte Fraktion, die flämischen Nationalisten, haben ihr bei der Abstimmung vergangene Woche kein Vertrauen ausgesprochen. Sie hätten am liebsten selbst den Ministerpräsidenten in einer Notregierung gestellt. Es ist also mal wieder fürchterlich kompliziert. Und als wäre das nicht schon genug:
"Wir werden unsere Befugnisse für den Kampf gegen das Coronavirus einsetzen und diesen beschränkten Rahmen nicht verlassen", sagte Sophie Wilmès.
"Das Ziel muss bleiben, auf lange Sicht eine föderale Regierung zu bilden, die eine parlamentarische Mehrheit besitzt, für ein umfassendes und positives Projekt für unser Land. Darüber hinaus werde ich in sechs Monaten aufs Neue im Parlament die Vertrauensfrage stellen."
Sophie Wilmès regiert also erstmal auf Zeit, und nur mit dem einen Ziel, die Coronakrise in den Griff zu bekommen. Es ist zum Hände über dem Kopf zusammenschlagen und eine Frage drängt sich natürlich wie so oft auf, wenn es um Belgien geht, warum die Suche nach einer Regierung so kompliziert ist.

Popularität von Sophie Wilmès steigt seit Krisenbeginn

Die Parteienlandschaft ist in Belgien nach den Landesteilen diversifiziert. Das heißt: Es gibt keine belgischen Sozialdemokraten, sondern flämische und wallonische. Mehr Parteien sorgen auch dafür, dass mehr Politiker bei Koalitionsverhandlungen an einem Tisch sitzen und die Suche nach Mehrheiten komplizierter wird. Nun könnte der Einwand lauten: Mehr-Parteienkoalitionen sind ja auch in anderen europäischen Ländern bereits zustande gekommen.
Doch erschwerend kommt in Belgien hinzu, dass die Landesteile unterschiedlich wählen. Der flämische Norden wählt tendenziell eher rechts, stärkste Partei dort ist die nationalistische N-VA, deren Ziel Abspaltung vom Rest und ein unabhängiges Flandern ist. Im französischsprachigen Süden, in der Wallonie schneiden die Sozialdemokraten, der Parti Socialiste, gewöhnlich gut ab. Beide Parteien sind sich spinnefeind und wollen nicht miteinander koalieren. Auch die relativ starken Liberalen und die in Brüssel erstarkten Grünen mischen mit. Und so sind rechnerisch zwar mehrere Optionen möglich, die allerdings das Ergebnis eines Landesteils zum großen Teil vernachlässigen.
Wird die Regierungssuche in Belgien also für immer so hoffnungslos kompliziert bleiben?
Nicht unbedingt. Seit Ausbruch der Coronakrise steigt die Popularität von Krisen-Ministerpräsidentin Sophie Wilmès. Daher lässt sich schwer vorhersagen, ob und wie die Krise die Parteienlandschaft in Belgien durcheinander wirbeln wird. Belgien steht jedenfalls nicht nur vor der Herausforderung, wie es in den nächsten Monaten Menschenleben retten und die Gesundheit der Bevölkerung schützen kann.
Auch gehört das Land zu den verschuldetsten in der EU – und das war schon vor der Coronakrise so.
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