Bekenntnis zur historischen Verantwortung

Von Jacqueline Boysen · 16.02.2007
Sichtlich bewegt nahm der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki die Urkunde für den Doktor der Philosophie honoris causa an der Berliner Humboldt-Universität entgegen. In zahlreichen Ansprachen wurde er geehrt. Der Präsident der Universität, Christoph Markschies, legte darin ein Bekenntnis zur historischen Verantwortung ab.
Traditionell ist die Urkunde für den Doktor der Philosophie honoris causa an der Humboldt-Universität in lateinischer Sprache verfasst. Marcel Reich-Ranicki nahm sie sichtlich bewegt entgegen - 69 Jahre nachdem ihm hier seiner jüdischen Herkunft wegen die Einschreibung verwehrt worden war. Zum ersten Mal habe er, der Überlebende des Warschauer Gettos, wieder einen Fuß in diese Universität gesetzt, bekannte der 86-jährige Literaturkritiker, als er das Foyer durchschritt, vorbei an dem Karl Marxschen Wort von den Philosophen, die die Welt verschieden interpretierten, es aber darauf ankäme, sie zu verändern. Ein Zitat, das Kulturstaatsminister Bernd Neumann, CDU in seiner Ansprache nicht unerwähnt ließ:

" Ihr Leben war über Jahrzehnte geprägt von dem, ja, mörderischen Versuch, diesem Postulat Geltung zu verschaffen. Wenn auch der Sozialismus mit dem Zusatz "National" sich natürlich nicht auf den Juden Marx berief, so hat er aber doch damit ernst gemacht, die Welt nicht mehr nur zu interpretieren, sondern mit äußerster und brutalster Gewalt nach seinen Vorstellungen zu ändern. Jedenfalls vergaben sich weder die stalinistischen noch die nationalsozialistischen Weltveränderer etwas in ihrer gnadenlosen Verfolgung von freiem Geist und seiner Schwester, der Kritik. "

Mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde schließe sich ein Kreis, so Neumann und erklärte, es komme "etwas zum Ende, das vor langer, sehr langer Zeit" begonnen habe. Der Präsident der Humboldt-Universität, Christoph Markschies, legte ein klares Bekenntnis zur historischen Verantwortung ab, gerade hier, wo der Geehrte einst die "menschenverachtende Rücksichtslosigkeit eines totalitären Systems" erleiden musste:

" An dieser Stelle darf kein Balsam auf die Wunden gestreut werden und schon gar kein falscher Friede proklamiert werden. Viel zu bedroht sind Freiheit in der Wissenschaft, als dass man die braunen und die roten Jahre für einen Betriebsunfall der Alma mater beroliniensis halten könne. Und wiedergutmachen kann man erst recht nichts. Historische Schuld ist ja keine Bankschuld, durch ein paar Taler abzubezahlen."

Der heute nicht anwesende Regierende Bürgermeister der Stadt, Klaus Wowereit, SPD, ließ schriftlich wissen, dass die heutige Ehrung ein allzu spätes Bekenntnis zur deutschen Vergangenheit sei. Reich-Ranicki selbst erinnerte in der Aula der Humboldt-Universität daran, wie ihm einst zumute war, als er in den ersten Nachkriegsmonaten Berlin, die Stadt seiner Jugend, zum ersten Mal wieder besuchte:

" Ich fuhr also zwischen Staatsoper und Universität und dachte daran, wie sie mich abgelehnt hatte, aber völlig ohne Hass, ohne Gram, ohne Wut. Es war ganz normal, dass sie mich abgelehnt hatte. Das hätte jede andere auch getan. Wo Millionen gemordet wurden, ist eine Nicht-Zulassung zum Studium beinahe eine Lappalie."

In seiner Laudatio auf Marcel Reich-Ranicki würdigte der Germanist und Autor Peter Wapnewski ihn als einen großen Magier des Subjektiven, offen, unbekümmert und frei:

" Doch hindert ihn das Bewusstsein seiner Kompetenz und sein Wissen nicht, da, wo es angemessen ist, sein Lernbedürfnis und seine begrenzte Zuständigkeit einzuräumen."

Wapnewski lobte Reich-Ranickis gewitzte Rhetorik und vitale Präsenz, aber auch seine Gabe zur Polemik. Als passionierter Kritiker ließ der solchermaßen Gerühmte diese neunte Verleihung einer Ehrendoktorwürde selbstverständlich nicht kommentarlos passieren:

" Achtmal habe ich erlebt, wie mir die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, da wurden fünf mal große Ansprachen über mich gehalten. Unter uns… es waren schon viele langweilige Ansprachen dabei. Aber eine so interessante war nie dabei. Ich danke Ihnen. "
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