"Bei mir waren es religiöse Gründe"

Berthold Morlock und Christian Bartel im Gespräch mit Ulrike Timm · 01.04.2011
Der erste Zivi Berthold Morlock erinnert sich an seine Zeit als Kinderkirchenhelfer, und der Autor des "Zivildienstromans", Christian Barthel, sagt über seinen Zwangsdienst: "Es war schön."
Ulrike Timm: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden, das ist Gesetz seit April 1961. Wer nicht zur Bundeswehr will, der kann verweigern und macht stattdessen Zivildienst. Seit 50 Jahren ist das so und bleibt noch so bis Juli, dann haben Wehrpflicht wie Zivildienst ausgedient.

Und während heute der Zivildienst ganz normal ist, waren die ersten Zivildienstleistenden absolute Exoten, und noch viele Jahre galten sie als Drückeberger oder gar als Staatsfeinde, zumindest aber nicht so ganz als richtige Männer, denn ein richtiger Mann, der leerte doch keinen Nachttopf im Krankenhaus.

Der erste Zivi überhaupt, der heißt Zivi Nummer null, denn als er den Wehrdienst verweigerte, da gab es den Zivi-Status offiziell noch gar nicht. Berthold Morlock organisierte sich seinen Ersatzdienst in einer Heil- und Pflegeanstalt selbst noch vor der Musterung. Er hat dann 40 Jahre lang in dieser diakonischen Einrichtung weitergearbeitet als Schlosser. Berthold Morlock ist heute 73, er hat sein ganzes Leben auf der Schwäbischen Alb verbracht, und warum er verweigert hat und wie er das damals vor dem Kreiswehrersatzamt Stuttgart begründet hat, darüber hat uns der alte Herr freundlich Auskunft gegeben.

Berthold Morlock: Bei mir waren es religiöse Gründe, und ich war Kinderkirchenhelfer und war im CVJM tätig. Und mir ist (…) , dass ich noch weiß, wie es im letzten Krieg war. Da war ich sieben Jahre alt, 45 gell, das haben sie mir nicht abgenommen: Aber das können Sie doch nicht mehr wissen und so. Ah, das ist Blödsinn, klar habe ich das noch gewusst. Wir sind doch vor den Tieffliegern geflüchtet und wir haben Bomben erlebt. Wir kommen von Illingen, das sind zehn Kilometer von Pforzheim weg, die Nacht habe ich auch erlebt, wo Pforzheim bombardiert wurde.

Timm: Was haben denn Ihre Freunde und Ihre Verwandten zu dieser Entscheidung gesagt? Der geht nicht zum Bund.

Morlock: Meine Freunde sind meist aus der Kirche gewesen, die waren dafür. Ich kann da bloß sagen, mein Vater, der war Kommiss, der war vom ersten Tag vom Krieg dabei bis zum letzten. Der war voll nur für Kommiss, der hat das gar nicht verstehen können, dass ich Kriegsdienstverweigerer mache.

Timm: Herr Morlock, aber Sie haben das ja sicher – gerade wenn man so Zivi Nummer null ist – Sie haben doch sicher weiterverfolgt 70er, 60er, wo man dann das, was man zu Ihnen sich nicht getraut hat zu sagen, wo man dann gesagt hat Drückeberger und eben sagte, na ja, das sind keine richtigen Jungs, das sind einfach junge Leute, die wollen keine Verantwortung übernehmen. Wie haben Sie das erlebt?

Morlock: Das habe ich auch im Geschäft gespürt. Wir hatten Vorgesetzen, die sind nach einem Jahr oder zwei gekommen und die haben zu mir gesagt: Bist du der Kriegsdienstverweigerer? Dann habe ich gesagt, ja. Und dann hat er gesagt: Wenn ich das gewusst hätte, wärst du nicht eingestellt worden, dass du Kriegsdienstverweigerer bist. Die waren schon voreingenommen, das war schon ein Kampf.

Timm: Heute ist das Jubiläum, 50 Jahre Einführung des Zivildienstes. Herr Morlock, was machen Sie da?

Morlock: Da ist ein Festbankett, da gibt es auch was zu essen.

Timm: Werden Sie da ein bisschen mitgefeiert als Urvater aller Zivis?

Morlock: Ja. Wahrscheinlich stellen sie mir irgendwo einen Sessel auf, wo der Opa sich hineinsetzen muss.

Timm: Herr Morlock, ich danke Ihnen ganz doll für dieses Gespräch und ich wünsche Ihnen was!

Morlock: Danke!

Timm: Und zugeschaltet ist uns jetzt Christian Bartel. Christian Bartel ist Jahrgang 1975, Autor und Kolumnist, und er hat ein Buch herausgebracht mit dem schönen Titel "Zivildienstroman". Schönen guten Tag, Herr Bartel!

Christian Bartel: Schönen guten Tag!

Timm: Der Herr Morlock eben hat ja aus religiösen Gründen verweigert und auf seine Erfahrung als Kriegskind verwiesen, und das scheint damals überzeugt zu haben: eigene Erinnerungen an den Krieg. In den 1960ern und 70ern konnten die Kandidaten diese Erinnerungen naturgemäß nicht mehr vorweisen, das waren dann ganz harte Gespräche, wenn man Ersatzdienst leisten wollte. Da gab es dann durchaus Fragen wie: Was machen Sie denn, wenn jemand Ihre Freundin angreift, wollen Sie die dann wirklich nicht verteidigen?" Sie haben Mitte der 90er Zivildienst gemacht, sind Ihnen solche Fragen noch gestellt worden?

Bartel: Nein, nein. Das war insgesamt eine sehr unspektakuläre Verweigerung. Ich habe einen schriftlichen Bericht verfasst, also eine Verweigerung, die hauptsächlich kompiliert war aus schon bestehenden Verweigerungen, die ich allerdings umformuliert habe, sodass es letzten Endes etwas origineller war als die Doktorarbeit von Guttenberg, aber nicht viel. Es war ein bombensicherer Text, und ich weiß auch gar nicht, ob der von vorne bis hinten gelesen wurde. Damals haben sehr viele Leute verweigert, und ich glaube, die wurden einfach abgestempelt.

Timm: Also so richtig hat man Ihr Gewissen nicht mehr geprüft?

Bartel: Nein, wirklich nicht.

Timm: Sie müssen der Wehrpflicht aber trotzdem eigentlich sehr dankbar sein, denn sie hat Ihnen ja den Stoff für Ihren ersten Roman aufgezwungen, eben den "Zivildienstroman".

Bartel: Jein. Also ich möchte behaupten, dass ich auch ohne Anregung des Kreiswehrersatzamtes auf die Idee gekommen wäre, nach der Schule irgendwas Soziales zu machen.

Timm: Herr Bartel, gibt es eigentlich spezifische Zivi-Typen, die Sie ausgemacht haben und die sich unterscheiden?

Bartel: Oh, das ist eine schwere Frage, habe ich überlegt – ja. Es gibt so den Zivi-Typ, den sehr engagierten, der wirklich aus Gewissensgründen und auch aus Überzeugung verweigert hat und auch in dem Beruf bleiben möchte. Dann gibt es Leute, die den Weg des kleineren Übels gewählt haben oder einfach lange Haare hatten und die nicht abschneiden wollten und einfach aus diesem Grund verweigert haben. Und dann gibt es noch Spezialisten, die sich da ihre Zivildienstnische gesucht haben im ökologischen Bereich oder ins Ausland gegangen sind. Da gibt es verschiedene, es gab ja auch mannigfaltige Angebote im Bereich Zivildienst.

Timm: Wie ist das, Sie sind ja so ein mittlerer Jahrgang, 1994 Zivildienst begonnen, da gehörten Sie nicht mehr zu den Leuten, die hart kämpfen müssen, aber noch nicht zu den Leuten, für die es ganz selbstverständlich war?

Bartel: Doch, es war so in meinem Milieu der, na ja, sanften linken Gymnasiasten war es doch relativ normal, dass man Zivildienst gemacht hat. Es gab einige kühne Recken, die sich versucht haben, total zu verweigern, dann kenne ich einige ganz wenige, die tatsächlich zum Bund gegangen sind, dort sich furchtbar gelangweilt haben, aber die überwiegende Anzahl meiner Bekannten und Freunde hat schlichtweg Zivildienst gemacht.

Timm: Sie haben dann auch in einer Behinderteneinrichtung gearbeitet, Ihren Zivildienst abgeleistet – welche Erfahrungen haben Sie mitgenommen, die bis heute für Sie wichtig sind?

Bartel: Oh, sehr viele. Ich kam ja aus diesem komischen Schutzraum Schule und auch aus einem recht bürgerlichen Elternhaus und auch recht behütet aufgewachsen und bin dann nach dem Abi natürlich ausgezogen und habe dann zum ersten Mal – also ich hatte natürlich Ferienjobs vorher und so was –, aber zum ersten Mal länger am Stück gearbeitet, hatte Verantwortung und all dieses. Ich hab’ gelernt, besonders wie anstrengend Pflege ist, wie körperlich anstrengend das ist – das sollte, glaube ich, jeder mal ausprobiert haben –, und ich hatte einfach unglaublich viel Spaß in dieser Zeit. Es war sehr schön.

Timm: Haben Sie noch Verbindungen in diese Pflegeeinrichtung heute?

Bartel: Ja, ich bin mit einer Bewohnerin auf Facebook befreundet, und ich hatte neulich eine kleine Buchvorstellung in Bonn, da komme ich her, und da waren auch einige Zivi-Kollegen von damals dabei. Das war sehr schön.

Timm: Könnte man in Erinnerungen schwelgen?

Bartel: Ja, genau.

Timm: Das machen Wehrdienstpflichtige ja manchmal auch.

Bartel: Das stimmt, und da gibt es auch großartige Romane drüber.

Timm: Zum Beispiel?

Bartel: "Neue Vahr Süd" ist ein Wehrdienstroman.

Timm: Von Sven Regener.

Bartel: Ja.

Timm: Ein geniales Buch.

Bartel: Großartig, ja.

Timm: Herr Bartel, in Ihrem Buch "Zivildienstroman", da gibt es viel Komik in der Arbeit mit Behinderten, der Schweiger Günther, der acht Stunden an einer Zwiebel herumschält, eine große Meditation – hat man mit Behinderten tatsächlich so viel Spaß?

Bartel: Eindeutig ja. Man hat grundsätzlich immer die Möglichkeit, mit Leuten Spaß zu haben, wenn man etwas mit Ihnen anfangen kann, und das liegt gar nicht so an der Behinderung. Aber ich hatte da das Glück, sehr freundliche und sehr lustige Leute kennenzulernen. Für das Buch habe ich mir allerdings welche ausgedacht.

Timm: Bleiben wir trotzdem mal bei Günther: Geistig behindert, acht Stunden schabt er an einer Zwiebel oder Kartoffel herum, mit großer Begeisterung – hat er mitgelacht, wenn jemand über ihn gelacht hat? Darf man über Behinderte lachen?

Bartel: Ja, manchmal muss man sogar, weil Behinderte halt auch Menschen sind wie alle anderen auch, und Menschen tun nach meiner Erfahrung unter anderem auch sehr lustige Dinge. Und warum sollte man die nicht auch zeigen und aufschreiben? Ich finde, da gilt gleiches Recht für alle einfach.

Timm: Ich hatte den Eindruck, zu den eindrücklichsten Lehren Ihrer Zivildienstzeit überhaupt gehört nicht das Leeren von Nachttöpfen und die pflegerische Arbeit, sondern vor allen Dingen der Minigolftest.

Bartel: Ja, ja, das stimmt, das war schon eine Grenzerfahrung. Da war ich sehr neu noch im Job, und dann sind wir Minigolf spielen gegangen, ein Spiel, das ich eigentlich bis dato abgrundtief gehasst habe ob seiner großen Langweiligkeit, aber das war wirklich sehr interessant. Es hat wahnsinnig lange gedauert, und es wurden neue Regeln aufgestellt und irgendwie die alten Regeln hatten keine Gültigkeit, der Ball ist ständig verschwunden, weil irgendwer, einer der Bewohner den ständig einpackte oder wegbrachte. Es war ein großes, sehr langsames, aber sehr schönes Gaudi.

Timm: Bei aller Lakonie und bei aller Komik habe ich den Eindruck, dass die Zivildienstzeit für Sie eine ganz prägende und eine ganz wertvolle Lebenszeit gewesen ist.

Bartel: Das stimmt, auf jeden Fall. Dazu ist zu sagen, ich fand es so gut, dass ich nach den 15 Monaten – so lange war der Zivildienst damals – noch ein Jahr drangehängt habe und dann als Honorarkraft arbeitete auch im Behindertenbereich und dann noch Segelfreizeiten für geistig Behinderte mit organisiert habe. Also ich bin dem Business noch etwas treu geblieben.

Timm: Finden Sie es eigentlich schade, dass der Dienst – sei es beim Bund, sei es im Zivildienst – ab Juli ausgedient hat?

Bartel: Jein. Es ist ja ein Zwangsdienst, und ich finde es eigentlich für beide Seiten schöner, wenn da Leute sind, die sich wirklich dafür entschieden haben, das zu tun, als Leute, die vom Staat dazu gezwungen werden. Natürlich werden viele Leute dann diese sehr schöne Erfahrung nicht machen, weil sie dann sofort ins Studium rauschen, weil sie dringende Karrierepläne haben. Ich würde diesen Leuten raten, macht doch einfach ein Freiwilliges Soziales Jahr.