Bei Kirchgang Lebensgefahr!

Von Bettina von Clausewitz · 14.11.2009
Die Zahlen sind alarmierend: In etwa 50 Ländern weltweit werden Christinnen und Christen diskriminiert, verfolgt und manchmal auch getötet. Vor allem in islamischen Ländern wie dem Irak oder Pakistan kommt es zu schweren Übergriffen, aber auch in Indien oder Nordkorea. Warum ist der christliche Westen eher zögerlich beim Protest gegen diese Menschenrechtsverletzungen?
Melancholie und traumatische Erinnerungen schwingen mit in jedem Gottesdienst, auch wenn chaldäisch-katholische Christen aus dem Irak - so wie hier im Ruhrgebiet - eine neue Heimat gefunden haben. Und eigentlich in Frieden feiern könnten. Aber fast jeder hat Freunde und Familie zurückgelassen. Und am Sonntag zuvor sind in Bagdad wieder Bomben vor Kirchen explodiert, gerade als die Besucher nach der Abendmesse hinaus auf die Straße gingen - es gab vier Tote, mehr als 40 Verletzte und ausgebrannte Kirchen.

Die Spirale der Gewalt gegen Christen im Irak scheint endlos. Mehr als eine halbe Million haben das Land in den letzten Jahren verlassen. "Unsere Liturgie ist ein Ozean voller Gebet und Tränen", sagt Pater Sami Danka, der Todesangst aus eigener Erfahrung kennt. Aus der mehrjährigen Militärzeit noch unter Saddam Hussein und dem Theologiestudium im Irak, danach hat der 42-Jährige seine Doktorarbeit in Rom geschrieben und ist Anfang 2009 vom Patriarchen zum Leiter der Exilgemeinde in Essen berufen worden.

Sami Danka: "”Am 1. August 2004 sind die Kirchen erstmals bombardiert worden, es gab Anschläge damals und viele Tote - Märtyrer, die trotz aller Probleme zur Kirche gekommen sind und sich zu Gott bekannt haben. Man hat damals ein paar Wochen große Angst gehabt, aber die Menschen sind trotzdem weiter gekommen. Das zeigt, dass sie eine ganz tiefe innere Verbindung zu ihrer Kirche haben.

Wir haben als Christen im Irak gezeigt, dass wir ein friedfertiges Volk sind. Es sind die Fremden, die Mord und Zerstörung gebracht haben. In letzter Zeit haben auch ein Bischof und ein Priester ihr Leben geopfert. Ich selbst bin 2006 mit mehreren anderen entführt worden, insgesamt acht Tage lang.""

Es klingt nach Orient, wenn chaldäische Christen feiern, in arabisch und aramäisch, der Sprache Jesu. Auch hier - nicht weit von alten Zechen und Fördertürmen im Essener Norden - in einer modernen roten Backsteinkirche, die das Bistum Essen den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt hat. Die Liturgie lässt akustisch die arabische Kultur erkennen, aber optisch ist der Gottesdienst unverkennbar katholisch: mit Messdienern und Diakonen im weißen Gewand, und mit Weihrauch über dicht besetzten Kirchenbänken. Viele junge Familien sind darunter, manche Frauen haben ihr Haar traditionell mit einem kleinen weißen Spitzentuch bedeckt, auch wenn sie modern in Jeans und Blazer daherkommen - die alte und die neue Welt in lockerer Symbiose.

Mittlerweile gehören fast 1000 Iraker aus ganz Nordrhein-Westfalen zu dieser chaldäisch-katholischen Gemeinde, die im März 2009 gegründet worden ist und den Segen Roms und des Patriarchen Kardinal Delly aus dem irakischen Mosul hat. Aber die Neugründung hat einen tragischen Hintergrund, denn fast alle Gemeindemitglieder hier sind Flüchtlinge und Opfer der Christenverfolgung.

Seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003 hat sich die Situation der christlichen Minderheit im Irak dramatisch verschlechtert, wie Pater Sami Danka erzählt.

Sami Danka: "”Viele Muslime im Land glauben, dass wir Christen den Amerikanern geholfen haben in den Irak zu kommen und ihn zu erobern. In Wahrheit haben wir aber nichts mit dem Krieg zu tun. Wir haben den Amerikanern nicht geholfen! Seit dem ersten Golfkrieg und wegen der zehn Jahre Wirtschaftsboykott glauben viele, dass wir Christen die Amis unterstützen und den Islam schwächen wollen, vor allem die terroristischen Gruppen. Vorher ging es uns Christen gut. Unsere Position als Kirche war sehr anerkannt, in Bagdad und im Norden in Mosul.""

Aber seit 2003 ist alles anders, seit dem umstrittenen Einmarsch der US-Truppen. Die Geschichte der Christen in dieser Region, die als Wiege des Christentums gilt, ist fast 2000 Jahre alt. Die größte Gruppe sind die Chaldäer, außerdem gibt es Assyrer, Syrer, Armenier und andere im alten Babylon. Aber jetzt haben zahllose Morde, Entführungen und die alltägliche Unsicherheit zu einem dramatischen Exodus geführt: Nach Angaben des UN-Flüchlingskommissariats UNHCR haben mehr als die Hälfte der 1,2 Millionen Menschen zählenden christlichen Minderheiten das Land bereits verlassen. Und es werden täglich mehr, die vor allem in den Nachbarländern Syrien und Jordanien Zuflucht suchen.

"Die größte Christenverfolgung der Gegenwart. Europa darf gejagte Assyro-Chaldäer nicht im Stich lassen! Rettet die Christen aus der Hölle des Irak!"

So titelte die "Gesellschaft für bedrohte Völker" in Göttingen schon vor zwei Jahren einen Bericht über die Lage im Irak. Weniger dramatisch in der Wortwahl, aber genau so engagiert in der Sache berichtet auch Caritas-Mann Rudi Löffelsend von seiner Arbeit. Der knapp 60-jährige Diözesanreferent ist schon sein halbes Leben lang bei der Caritas im Bistum Essen für Auslandshilfe zuständig. Er hat ein großes Herz für die Nöte der Flüchtlinge und ihre Schicksale, etwa das der sieben Waisenkinder, die Ostern 2008 nach Essen kamen.

Rudi Löffelsend: "”Im Sommer 2007 ist bei einer chaldäisch – christlichen Familie, die in einer Kleinstadt südlich von Bagdad gelebt haben, im sog. Todesdreieck, ne marodierende Truppe von Islamisten aufgetaucht: sieben Kinder, die Mutter vor dem Haus, und die dann die Mutter aufgefordert haben: "Du musst von deinem Glauben abschwören und musst sofort Muslim werden, sonst töten wir dich." Und dann hat die gesagt: "Auf keinen Fall." Und dann haben sie sie erschossen. Vor den Augen der Kinder.

Der Vater war hinter dem Haus am Arbeiten, und diese oder eine andere Gruppe ist dann ums Haus rum und hat den Vater gekidnappt wie man hier sagen würde, also gefesselt, geknebelt, Augen verbunden und in den Kofferraum geschmissen – und der war dann rund zehn, elf Monate in der Gewalt dieser Entführer, mit noch drei christlichen Männern. Die sind dann quer durch den Irak verschleppt worden immer an wechselnden Orten.""

Ein Ereignis, das auch für die Kinder zu einer Odyssée wurde, mit vielen Stationen und einer Petition ans Außenministerium bevor sie endlich zu ihren Großeltern nach Essen kamen. Und dann passierte das, was selbst ein hart gesottener Flüchtlingslobbyist wie Rudi Löffelsend ein "kleines Wunder" nennt. Der Vater tauchte lebend wieder auf und bekam 2009 schließlich auch ein Visum für Deutschland.

Der Hintergrund: Bereits im November 2008 haben die europäischen Innenminister beschlossen, ein Kontingent von 10.000 Flüchtlingen aus dem Irak aufzunehmen, darunter etwa die Hälfte Christen. Von den 2500, die Deutschland aufnimmt, kommen mehr als 500 nach Nordrhein-Westfalen, viele von ihnen nach Essen, wo die Kirchenbänke sich am Sonntagmorgen immer mehr füllen.

Ähnlich wie der chaldäische Priester Sami Danka meint auch Rudi Löffelsend, dass die christliche Minderheit bei vielen Irakern als fünfte Kolonne der USA gilt und deshalb als Sündenbock herhalten muss:

Rudi Löffelsend: "”Das liegt natürlich auch daran, dass innerhalb der amerikanischen Invasion viele sehr radikale evangelische Kleinstgruppen aus den USA mit einem sehr großen Willen zur Missionierung in den Irak eingefallen sind und sehr unsensibel da versucht haben zu missionieren und dat natürlich nicht differenziert wird, die Iraker also nicht in der Lage sind zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Christen zu differenzieren und dann natürlich auch diese unglückselige Geschichte zurückfällt auf die schon lange dort lebenden Christen. Also die Amerikaner haben mehr Unheil angerichtet, als Gutes getan, dat sach ich in aller Deutlichkeit.""

Psalm 137, ein Klagelied Israels aus dem Exil, das der Spanier Jordi Savall mit alten Instrumenten neu interpretiert hat.

Auch was derzeit im Irak geschieht, sind keine Einzelschicksale. Denn in den letzten zehn bis zwanzig Jahren sind Christinnen und Christen überall in der Welt immer mehr zur Zielscheibe von Übergriffen geworden: in muslimischen Ländern wie Irak, Iran, Sudan, Ägypten oder der Türkei ebenso wie in den wenigen verbliebenen kommunistischen Ländern: in Nordkorea, China und Vietnam etwa. Aber auch im hinduistischen Indien und im buddhistisch geprägten Sri Lanka gibt es brennende Kirchen und massive Verletzungen der Religionsfreiheit.

Schirrmacher: "Eine der grundlegenden Veränderungen ist, dass in den Sechziger-, Siebzigerjahren die Hauptverfolgung gegen alle Religionen, auch gegen das Christentum, von nicht religiösen – also von atheistischen Regierungen etc. ausging – während heute die Hauptverfolgung von Religionsgemeinschaften von Religionen selber ausgeht. Das ist statistisch gesehen eine ganz große Verschiebung und gibt dem ganzen natürlich auch eine ganz andere Dimension."

Der Theologe Thomas Schirrmacher, der von einer neuen Dimension der Verfolgung spricht, ist Leiter des kleinen Internationalen Instituts für Religionsfreiheit in Bonn, Sprecher für Menschenrechte in der konservativen Weltweiten Evangelischen Allianz und einer der bekanntesten evangelikalen Fürsprecher verfolgter Christen.

Weltweit werden rund 200 Millionen Christen in 50 Ländern diskriminiert und verfolgt, heißt es im jüngsten Märtyrer-Jahrbuch, dessen Herausgeber Schirrmacher ist. Gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte IGFM in Frankfurt und dem christlichen Nachrichtendienst idea in Wetzlar.

Der Band enthält einen grob differenzierten "Weltverfolgungsindex" der Hilfsorganisation "Open Doors" und zahlreiche Länderberichte mit Einzelbeispielen von Verfolgung, Misshandlung und Todesfällen. Eine erschütternde Bilanz in Bildern und Zahlen, die mit allen Mitteln aufrütteln will – und doch in anderen, ebenfalls engagierten kirchlichen Kreisen, Kopfschütteln hervorruft.

Schindehütte: "Ich kann die Zahl nicht bestätigen. Wir haben keine präzise Zahl und wir wissen auch nicht, wie man so eine Zahl ermitteln könnte."

... meint Martin Schindehütte, Auslandsbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland, der von Hannover aus die ganze christliche Welt bereist und eher auf Konferenzen und diplomatischem Parkett tätig wird. Religion als universales Grundrecht, diese Position hat auch die EKD sich auf die Fahnen geschrieben. Entsprechend der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1948, in der es heißt:

"Jeder Mensch hat das Recht auf Gewissens- , Gedanken- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat, durch Unterricht, Ausübung, Gottesdienst und Beachtung religiöser Bräuche zu bekunden."

Unabhängig davon, ob Grundsatzerklärungen verbreitet werden oder nicht nachprüfbare Zahlen von 200 Millionen verfolgten Christen wie im Märtyrer-Jahrbuch, Einigkeit besteht bei allen Kirchenvertretern darin, dass Diskriminierung und Verfolgung dramatisch zugenommen haben. Und dass von allen religiös Verfolgten weltweit der Anteil der Christen am größten ist - mit möglicherweise 80 bis 90 Prozent. Das Engagement für Religionsfreiheit steht deshalb bei den evangelikalen Herausgebern des Jahrbuchs ebenso auf der Tagesordnung wie beim EKD-Auslandsbischof, auch wenn jeder deutlich eigene Akzente setzt: Martin Schindehütte:

"Ich nehme Christenverfolgungen wahr. Sie sind selten staatlich systematisch, sondern meistens zwischen verschiedenen Gruppen. Sie sind religiös begründet, aber auch sozial begründet – etwa die Auseinandersetzungen und die Verfolgungen und die Toten in Orissa, in Indien.

Christen sind aktive Menschen, sie sind erfolgreiche Menschen, das hat etwas mit der Kultur zu tun, und das führt dazu, dass sie dann zu den etwas reicheren Menschen gehören, zu denen, die Erfolg haben, und dann treten soziale Spannungen auf, die aber religiös ummäntelt werden oder religiös aufgeladen werden."

Thomas Schirrmacher, der auch Mitglied der Kommission für Religionsfreiheit der Evangelischen Allianz ist, sieht noch einen weiteren wichtigen Grund für die Verfolgung von Christen:

"Grundsätzlich ist der Hintergrund das phänomenale Anwachsen des Christentums in den nichtwestlichen Ländern. In China, wo es zwischen 50 Millionen und 100 Millionen Christen inzwischen gibt, wären das 8 bis 10 Prozent der Bevölkerung.

In Indonesien ist das ganz ähnlich, da hat sich die Zahl der Christen prozentual innerhalb der letzen 20 bis 30 Jahre verzehnfacht. In Indien ist das zum Greifen, dass das Christentum sich von einer vergleichsweise kleinen, antiken Religion plus ein Christentum des Kolonialherren, gemausert hat zu einer völlig eigenständigen und großen Religion, die den größten Anteil unter den sozial Schwächsten hat, und das ist natürlich eine ganz neue Bedrohung ..."

... die vor allem Hindu-Nationalisten auf den Plan ruft – ein Bedrohungsszenario mit fatalen Folgen. Im August 2008 kam es im Bundesstaat Orissa zu antichristlichen Pogromen: bis zu 50.000 Menschen mussten fliehen, hunderte von Kirchen und Wohnhäusern wurden zerstört. Eine der schlimmsten Gewaltwellen in Indien seit langem, wo die Religionsfreiheit zwar in der Verfassung steht, trotzdem blieben Polizei und Provinzregierung in Orissa untätig.

John Fernandes: "Der unmittelbare Anlass war, dass ein Religionsführer der Hindus wurde umgebracht von den linksradikalen Maoisten, und die haben sich auch öffentlich dazu bekannt. Die Christen als Sündenböcke - das ist das Modell, der Trick, den die machen, die suchen unmittelbare Gründe, um die Minderheiten zu attackieren."

Meint der katholische Theologieprofessor John Fernandes aus dem südindischen Mangalore, der sich seit langem mit dem Dialog der Religionen und der Religionsfreiheit beschäftigt. Nach dem Studium in Innsbruck und der Promotion in Trier kehrte er nach Indien zurück. Heute ist der 73-jährige Fernandes Leiter eines Forschungslehrstuhls für Christliche Weltanschauung und ein kritischer Beobachter der religiösen Radikalisierung.

John Fernandes: "”Der sogenannte Fundamentalismus des Islam – das haben die Inder auch in Afghanistan gesehen mit den Taliban, und in Staaten wie Saudi-Arabien, Kuwait, Katar, also die Golfstaaten, wo viele Inder arbeiten gehen, die sahen dort, dass der Islam als Staatreligion anerkannt wird. So langsam wächst unter den Hindus der Gedanke, auch in Indien einen Hindu-Staat einzurichten. Pakistan hat den Islam als Staatsreligion, warum nicht wir?

Die andere Entwicklung ist die weltweite Globalisierung. Die Hindus haben jetzt langsam das Bewusstsein, dass jede Kultur und jede Religion von dieser großen Welle der Globalisierung – dass man einfach amerikanische Lebensweise, amerikanische Sprache, das Englische - ihre eigenen Sprachen überrollt, vor allem ihre Kultur und ihre Religion. Das ist eine Identitätsfrage eigentlich. Die wollen ihre Identität behaupten!""

Ebenso wie die Motive der Übergriffe weltweit vielschichtig sind, ist auch die Art der Übergriffe unterschiedlich. Diskriminierung oder Verfolgung - auch dazu gibt es viele Definitionen. Aber das grundlegende Muster - egal ob religiös oder ethnisch - ist nach Erfahrung von Thomas Schirrmacher immer dasselbe: eine Art Drei-Stufen-Muster.

Schirrmacher: "In der Desinformation, nehmen wir das Dritte Reich, die Juden, das ist ein typisches Beispiel: Erst mal müssen Desinformationen gestreut werden, damit die Bevölkerung überhaupt eine negative Haltung bekommt. Dann kommt die Diskriminierung, die meist noch auf rechtlichem Wege läuft: Bestimmte Dinge stehen einem nicht mehr zu, die eigentlich jedem zustehen. Und dann erst folgt der eigentliche Angriff auf Leib und Leben: angefangen von Gefängnis, Folter bis hin zum Töten."

Die alltägliche Christenverfolgung weltweit findet oft unter Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit statt, nur wenige Berichte von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen finden den Weg in die Medien. Das ändert sich allerdings schlagartig, wenn Deutsche unter den Opfern sind.

Und so haben in letzter Zeit vor allem zwei Fälle für Aufsehen gesorgt, und für kontroverse Diskussionen über die Rolle von Christen in islamischen Ländern: die Morde an drei Missionaren im türkischen Malatya 2007, die zuvor stundenlang gefoltert wurden, und die Ermordung von zwei deutschen Praktikantinnen im Juni 2009 im Jemen.

Während beim Jemen nicht klar ist, ob das Verbrechen tatsächlich einen religiösen Hintergrund hatte, sind die Motive der Mörder von Malatya, die kurz nach der Tat gefasst wurden, eindeutig: Es war der Hass auf Christen. Wolfgang Häde, selbst Pastor und Missionar in Izmit bei Istanbul, hat über die Ereignisse ein Buch geschrieben, denn sein Schwager ist einer der drei Toten.

Wolfgang Häde: "Was besonders in der Türkei auf Unverständnis trifft, das ist eben, wenn - wie mein Schwager Necati Aydin - wenn ein Moslem, zudem noch ein längere Zeit sehr überzeugter Moslem wie er, sich dann dazu entscheidet, Christ zu sein. Das empfinden Muslime dann als eine besondere Herausforderung.

Es ist ja wie ich in meinen Buch beschrieben habe: Der Necati hat nicht erst als er ermordet wurde zu leiden gehabt, der hat schon vorher sehr massive Schwierigkeiten von seiner eigenen Familie gehabt. Dann ist er einmal wegen Bibelverteilens ins Gefängnis gekommen, obwohl es überhaupt kein Gesetz dafür gibt! mit einem anderen Christen zusammen war er 30 Tage im Gefängnis, weil Leute ausgesagt haben, er hätte den Islam beleidigt, was überhaupt nicht stimmte."

"Mein Schwager - ein Märtyer" heißt das Buch von Wolfgang Häde, das 2009 erschienen ist. Der 51-jährige freikirchliche Pastor aus Hessen lebt bereits seit 2001 in der Türkei und hat die kleine evangelische Gemeinde in Izmit geleitet. Von den Morden in Malatya war er in doppelter Weise betroffen:

Zum einen durch verwandschaftliche Beziehungen: Necati Ayden war mit der Schwester von Wolfgang Hädes türkischer Frau verheiratet. Zum anderen stand der deutsche Pastor Häde selbst als nächster auf der Liste der Mörder. Von Malatya aus wollten sie nach Izmit weiter, um auch ihn zu töten. Deshalb lebte Häde monatelang unter Polizeischutz - mit einem freundlichen muslimischen Leibwächter. Das Land verlassen wollten er und seine Frau, die aus einer christlichen Familie stammt, samt Tochter trotzdem nicht.

Wolfgang Häde: "Damit Menschen in der Türkei wirklich verstehen, dass es nicht darum geht – da kommen ein paar Westler, die ihnen ihre Religion aufdrängen wollen oder man wird vielleicht sogar Christ, weil man dann Chancen hat, ins Ausland zu gehen, solche Erwartungshaltungen gibt es auch, sondern dass sie merken, Christ zu sein, Nachfolger Jesu Christi sein, heißt wirklich, dahin zu gehen, wo er das will, auch wenn das Schwierigkeiten mit sich bringt, dafür müssen wahrscheinlich auch ausländische Christen bereit sein, Probleme auf sich zu nehmen."

Wolfgang Häde ist ein unauffälliger, bedächtiger Mann in mittleren Jahren, mit nachdenklichem Blick hinter schlichten Brillengläsern. Einer, der trotz seiner Frömmigkeit weder zu blauäugigem Draufgängertum neigt noch zum Dramatisieren. Auch nicht auf die Frage, ob er selbst bereit wäre, als "Märtyrer" zu sterben.

Wolfgang Häde: "Ja, aber ich bin nicht so heldenhaft, dass ich sage: Wo wartet der nächste mit der Waffe? also ich sehne mich nicht danach. Aber für mich heißt Christsein, Jesus zu folgen, wohin er das will."

Der Tathergang des Massakers von Malatya am 18. April 2007 ist nicht eindeutig geklärt. Tatsache aber ist, dass mehrere junge Männer mit Messern und Schreckschusspistolen in die Räume des christlichen Zirve-Verlags eindrangen, wo sich Pastor Necati Aydin, der Lehrer Tilman Geske und Gemeindemitglied Ugur Yüksel vormittags zur Bibelstunde getroffen hatten. Während die Medien reißerische Berichte veröffentlichen, beschreibt Häde den Tathergang in seinem Buch bewusst nüchtern.

"Alle drei werden ... mit Messerstichen und Fußtritten am ganzen Körper gefoltert. Die gerichtlichen Autopsieberichte sprechen später von Würgespuren sowie sechs Messerstichen und -schnitten bei Necati, 16 Messerstichen und – schnitten bei Tilmann und 14 bei Ugur. Die Mörder vollenden ihre grausame Tat, in dem sie ihren Opfern von hinten – aufr ihnen knieend – die Halsschlagadern durchschneiden und sie verbluten lassen." (aus: Wolfgang Häde, Mein Schwager ein Märtyrer, S. 11)

Entsetzen und tiefe Erschütterung angesichts des Massakers bei vielen Menschen, aber auch kritische Fragen und eine gewisse Häme waren in deutschen Medien zu spüren. Sind manche Christen nicht selbst Schuld daran, wenn sie verfolgt werden? Und warum überhaupt müssen sie Menschen anderer Religionen missionieren, Bibeln verteilen und von Jesus reden?

Die Diskussion wiederholt sich im Juni 2009, als zwei junge Frauen im Jemen entführt und ermordet werden. Tagelang ein Thema auch in der Bundespolitik und in zahlreichen Nachrichtensendungen wie hier am 17. Juni.

ARD-Mediathek, Tagesschau vom 17. Juni 2009, 5.00 Uhr:
"Tagesschau-Trailer. Mindestens zwei Deutsche sind beim Geiseldrama im Jemen getötet worden. Davon geht die Bundesregierung aus. In der jemenitischen Provinz Saada waren am Montag drei Tote gefunden worden, darunter zwei deutsche Frauen."

Die beiden jungen Frauen kommen aus einer Baptistengemeinde bei Wolfsburg und sind Schülerinnen der Bibelschule Brake in Westfalen. Im Rahmen ihrer Ausbildung wollten sie ein dreimonatiges Praktikum in einem Krankenhaus im Jemen machen. Ein Land, dem das Auswärtige Amt in seinen Reisehinweisen ein "erhebliches Risiko terroristischer Anschläge" bescheinigt und "ein hohes Entführungsrisiko". Die Empfehlung:

"... von nicht unbedingt erforderlichen Reisen in den Jemen (wird) abgeraten."

Die beiden Frauen reisen trotzdem, denn sie sind beseelt von dem Gedanken zu helfen und die Welt zu verbessern, mit der Bibel im Gepäck, die die 26-jährige Rita S. als ihr Lieblingsbuch bezeichnet. Aber schon knapp drei Wochen später werden beide bei einem Ausflug entführt und getötet.

Die Verantwortlichen – Bibelschule, Kirche und Eltern – sehen sich schweren Vorwürfen ausgesetzt. Angesichts dieser Stimmungslage laufen die Opfer Gefahr, selbst zu Schuldigen erklärt zu werden. Denn in Deutschland hat Mission den schalen Nachgeschmack der Kolonialzeit und Religion gilt als Privatsache. So schreibt etwa die Berliner Zeitung vom 19. Juni in einem Kommentar:

"Auch zu viel Christenliebe macht blind. ... Die evangelikalen, christlich-fundamentalistischen Weltbeglücker einer Missions- und Agitationsstation (als Hilfseinrichtung getarnt) haben die Entsendung organisiert. Sie dürfen nicht freigesprochen werden. Ihr wahres Ziel ist es, anderen Menschen ihren Gott aus- und den eigenen als besseren einzureden; zu diesem Zweck haben sie die Frauen verheizt, fehlt bloß noch, dass sie sie zu Märtyrerinnen erklären."

Scharfer Protest gegen diese Art der Schuldzuweisung kommt sowohl von Vertretern der als fahrlässig gescholtenen evangelikalen Organisationen als auch vom Auslandsbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland, Martin Schindehütte.

"Es kann nicht sein, dass die Frage nach der Methode oder der Art und Weise der Mission überlagert, dass hier ein massives Verbrechen stattgefunden hat. Und dass in massiver Weise Menschenrechte verletzt worden sind. Das muss in der Presse zuerst stehen. Und wenn das gewürdigt ist, dann kommen wir miteinander in ein christlich - geschwisterliches Gespräch darüber, was möglicherweise an Anteilen bei uns selber liegen könnte, dass es dazu kommt. Aber das dreht ja nicht die Begründung um!"

Mission ist wichtig und richtig, meint Schindehütte, da gebe es keinen grundsätzlichen Dissens mit den Evangelikalen, wohl aber in Methoden und Einschätzungen.

Schindehütte: "Ich finde, man soll das Märtyrertum nicht suchen. Sondern Märtyrer wird man in einer Lage, in die man sich nicht bewusst begibt, sondern indem man in eine Lage kommt, wo man seinen Glauben bekennt und dafür sein Leben einsetzt. Wir sollten aufpassen und sorgfältig hinschauen, dass wir nicht so eine Art Märtyrerstrategie entwickeln. Gelegentlich habe ich die Sorge, dass das passieren könnte. Ich glaube, das ist nicht richtig."

Im christlichen Nachrichtendienst idea-Spektrum dagegen klingt eine andere Tonlage an: "Für mich sind diese beiden jungen Frauen echte Vorbilder", meint einer der Autoren. Und Chefredakteur Helmut Matthies schreibt in einem Kommentar (idea spektrum, 26/2009 v. 24. Juni).

Natürlich sollen Christen klug handeln und sich nicht in gefährliche Abenteuer stürzen. Andererseits: Hätten die Apostel und ihre Nachfolger so argumentiert, wären wir wohl bis heute noch Heiden.

Thomas Schirrmacher von der Evangelischen Allianz, der viele evangelikale Missionswerke und Entsendeorganisationen nahe stehen, fordert demgegenüber eine differenziertere Sicht. Und spielt den Ball geschickt an die Ankläger zurück.

Schirrmacher: "Selbstverständlich gibt es auch im Namen der christlichen Missionen Organisationen, aber vielmehr natürlich auch Einzelne, die sehr unsensibel vorgehen, die bereit sind, enorme Risiken einzugehen. Aber auf der anderen Seite, was ich bei der Diskussion nicht richtig finde ist, die Mission vom Rest zu isolieren. Wenn wir diese Frage stellen: Darf man in einem Land wie dem Jemen praktisch provozieren, dann muss das für alle gelten. Für Greenpeace, für westliche Journalisten, für Touristen. Dann sehe ich nicht ein, warum gerade die Missionare, die tatsächlich helfen, an die also engere Maßstäbe angelegt werden, als an Touristen, die sich zum Teil gerade in islamischen Ländern noch ganz anders benehmen."

Richtig oder falsch, sensibel oder unsensibel – bei den Mordfällen im Jemen und im türkischen Malatya hat das Verhalten der Ermordeten vermutlich nur bedingt zu ihrem tragischen Schicksal beigetragen. Denn in beiden Ländern gibt es islamische Fundamentalisten und Nationalisten. Sie sehen Christen als "Spione und Agenten des Westens" an und generell als "Ungläubige". Noch verachtenswerter erscheinen ihnen Moslems, die konvertieren und ihrerseits missionieren. So wie Necati Aydin in Malatya etwa. Aber auch der katholische Priester Andrea Santoro und der armenische Journalist Hrant Dink wurden in jüngster Zeit in der Türkei ermordet.

Ein schwer verständlicher Hass, denn in der Türkei gibt es unter 70 Millionen Einwohnern nur gut 100.000 Christen. Darunter etwa 3000 ehemalige Muslime, die zumeist evangelisch sind. Die Mehrzahl der türkischen Christen sind Orthodoxe und Katholiken mit ihrer langen Geschichte.

Generell gewährt der Staat zwar Religionsfreiheit, de facto sind Kirchen jedoch rechtlich nicht anerkannt, sie dürfen keine Immobilien besitzen, kein Bankkonto führen und keine Theologen ausbilden. Eine ständige Unsicherheit.

Der Alltag der Christen in vielen muslimischen Ländern wie der Türkei etwa ist voller Probleme, aber immerhin: es gibt einen Alltag. In anderen Regionen dagegen ist christliches Leben fast völlig erloschen.

In der russischen Teilrepublik Kabardino-Balkarien etwa, im Nordkaukasus. Ein kleines Land mit knapp einer Million Einwohnern, in einer Region mit Ländern wie Tschetschenien und Ossetien, die international als Pulverfass gilt. Anschläge von Rebellen auf Regierungsstellen oder Gewaltkriminalität sind in Kabardino-Balkarien an der Tagesordnung, ebenso wie Angriffe von Islamisten auf religiöse Minderheiten, auch wenn sie nicht missionieren. Das hat die orthodoxe Christin Elena jahrelang schmerzlich erlebt.

Elena: "Sie machen einem das Leben da unmöglich, das Leben wird uns zur Hölle gemacht. Man kann nirgendwo in Ruhe hingehen, man kann keine Kinder zum Kindergarten bringen - man wird nicht gleich verprügelt, aber es kann trotzdem jederzeit passieren, dass man auf der Straße angegriffen oder beschimpft wird. Viele Häuser von Christen und Kirchen sind angezündet worden, die Wahabiten haben schon ganz Orte kontrolliert und sogar versucht, die Regierung zu stürzen."

Wenn die 42-jährige Philosophiedozentin aus Kabardino-Balkarien von den Jahren der Verfolgung spricht, ist ihre Angst noch immer spürbar, als wäre das alles erst gestern gewesen. Und die schmale, dunkelhaarige Frau mit der leisen Stimme sitzt angespannt auf der Sofakante. Dabei lebt sie schon seit mehr als fünf Jahren in einer gemütlichen Kleinstadt im Rheinland. Der elfjährige Sohn geht auf’s Gymnasium und beide haben viele Freunde gefunden, die sich Anfang 2009 vehement gegen eine Abschiebung eingesetzt haben. Mit Erfolg.

Mittlerweile hat die nordrheinwestfälische Härtekommission entschieden, dass Elena und ihr Sohn bleiben dürfen. Der Fall ging mit vollem Namen und Details durch die Presse, aber die Angst ist zu Elenas Alter Ego geworden. Jetzt will sie zurück in die Anonymität. Auch in Deutschland leben Islamisten, fürchtet sie, und erzählt einige Details aus ihrer langjährigen Leidensgeschichte. Aus dem Russischen übersetzt und ergänzt von ihrer engagierten georgischen Freundin Tamara, die ebenfalls unerkannt bleiben möchte.

Elena: "”Sie haben uns gesagt, entweder gehen sie hier weg, oder wir bringen euch um - Russisch - Sie haben ihnen noch die Möglichkeit gelassen zu entscheiden, diese Wahabiten, die moslemischen Extremisten, die sie so lange terrorisiert haben. Sie ist mit dem Kind mal in den Aufzug rein gegangen und einer von denen – mit der Einkaufstüte hat er versucht, sie umzubringen, zu ersticken ja. – Und der Junge war dabei? – Ja.""

Aber das war nicht alles. Es gab auch Brandanschläge auf das Haus von Elenas Familie. Ihr Mann, ein hoher Beamter in der Verwaltung der Hauptstadt Naltschick, wurde so schwer zusammen geschlagen, dass er ins Krankenhaus musste.

Seinetwegen war sie Jahre zuvor der russisch-orthodoxen Kirche beigetreten. Heute gehört sie ihr mit großer innerer Überzeugung an und fährt regelmäßig zu den Gottesdiensten der Gemeinde nach Düsseldorf. Nach dem Studium promovierte Elena in Moskau und unterrichtete später Philosophie an der Universität von Naltschik. Lange Zeit wollte das gut situierte Ehepaar nicht ins Ausland fliehen, bis es dann doch zu gefährlich wurde.

Schindehütte: "Christenverfolgung beginnt für mich dort, wo aktiv versucht wird, Christen aus dem Land zu vertreiben, wo aktiv versucht wird, Christen einzuschüchtern, ihnen Angst zu machen, wo Christen bedroht werden an Leib und Leben. Davon unterscheiden muss man eine Situation, in der Christen zwar nicht aktiv bedrängt werden, aber ihnen werden still und heimlich – oder manchmal auch offensichtlich - die Lebensperspektiven genommen. Dann werden sie nicht aktiv bedroht, aber sie haben keine Zukunft mehr und dann verlassen sie diese Länder: Schule, Beruf, Ausbildung, keine beruflichen Chancen. Das ist übrigens die viel, viel größere Zahl, unter der Christen ihre Länder verlassen."

EKD-Auslandsbischof Martin Schindehütte hat die kaukasische Philosophin Elena nie getroffen, trotzdem kann er ihr Schicksal treffend beschreiben. Denn was Elena erlebt hat, ist ein globales Phänomen. Es hängt maßgeblich mit dem Anwachsen des islamischen Fundamentalismus zusammen und richtet sich auch gegen andere Minderheiten, religiöse oder ethnische etwa.

Schindehütte: "Das erleben wir massiv und dramatisch im Nahen und im Mittleren Osten, wo die Zahl der Christen in Ursprungsländern des christlichen Glaubens massiv zurückgegangen sind, weil die Menschen auswandern mussten, weil sie keine Chance mehr sahen. In der Türkei hat es Anfang des letzten Jahrhunderts 20 Prozent Christen gegeben, jetzt gibt es noch 0,15 Prozent Christen. Und das wenigste davon ist aktive Verfolgung, die Bedrohung von Leib und Leben gewesen, sondern einfach der Verlust von Perspektiven."

Für Elena aus Kabardino-Balkarien, die sich mittlerweile von ihrem Mann getrennt hat, begann die gesellschaftliche Ausgrenzung mit dem Zerfall der Sowjetunion, Anfang der 90er Jahre, als sie selbst Anfang 20 war. Experten sprechen von einer "ethnischen Explosion" in der Vielvölkerregion des Kaukasus. Im Machtvakuum, das Russland hinterließ, kam es zu zahllosen ethnischen Konflikten und einer islamischen Mobilisierung.

Nur langsam findet Elena jetzt mit einer gesicherten Aufenthaltserlaubnis ihr inneres Gleichgewicht wieder. Und hofft darauf, schon bald genügend Deutsch zu lernen, um wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können, oder in einer Beratungsstelle für Flüchtlinge. Und heute, wie fühlt sie sich?

Elena: "Und heute - Ruhe!"
"Hier habe ich wieder ein Leben wie in meiner Kindheit kennen gelernt, eine sorglose Kindheit wie in den früheren Zeiten der Sowjetunion. Nach all dem Elend habe ich mich hier wieder als Mensch gefühlt, als Frau und vollwertig, und ich habe viele nette Leute kennen gelernt. Aber das Wichtigste ist, dass mein Kind in Frieden aufwachsen kann und keiner kommt und will mich vor seinen Augen erwürgen - eine normale, zivilisierte Gesellschaft eben."

Wachsender religiöser Fundamentalismus ist einer der Hauptgründe für die Verfolgung und Vertreibung christlicher Minderheiten weltweit. Diese Entwicklung ist jedoch nicht nur in islamischen Ländern zu beobachten, sondern auch in anderen Religionen: bei fundamentalistischen Hindus in Indien etwa oder im mehrheitlich buddhistischen Sri Lanka.

Für den jungen Methodistenpastor Wesley Alexander aus Sri Lanka gehören Übergriffe mittlerweile zum Alltag. Er arbeitet in den Dörfern rings um die Provinzhauptstadt Anuradhapura.

Alexander: "”Zum Beispiel in einem kleinen Dorf leben 25 bis 30 christliche Familien. Deshalb haben wir haben angefangen eine Kirche zu bauen. Aber als wir soweit waren, das Dach drauf zu setzen, kamen buddhistische Mönche und andere Leute, die sie aufgewiegelt hatten, und haben protestiert und die Kirche angegriffen. Die Behörden haben dann als Kompromiss einen vorläufigen Baustopp verfügt und wir verhandeln jetzt wie es weitergeht. Das geschieht auch in anderen Regionen und andere Konfessionen sind genau so betroffen, Katholiken, Anglikaner, Baptisten oder Freikirchen etwa.""

Anuradhapura mit seinen berühmten Buddhastatuen, Höhlenmalereien und vor allem dem einzigartigen Bodhibaum, der ein Ableger von Buddhas Baum der Erleuchtung sein soll, ist ein Zentrum des Buddhismus auf der Insel. Hier sind mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Buddhisten, während es ansonsten landesweit etwa 70 Prozent sind, außerdem gibt es eine große hinduistische Minderheit, sieben Prozent Moslems und acht Prozent Christen. Der Buddhismus jedoch wird seinem Image als friedlicher Religion hier nicht gerecht. "Vor kurzem ist sogar einer unserer Pastoren ermordet worden, aber wir lassen uns nicht einschüchtern", sagt der Methodistenpfarrer Wesley Alexander und arbeitet trotzdem erfolgreich weiter daran neue Gemeinden zu gründen:

Alexander: "”Es gibt natürlich Leute, die Angst haben, aber es gibt auch viele, die zu unseren Heilungsgottesdiensten kommen. Alle Kirchen haben solche Gottesdienste, wo Leute mit Krankheiten und seelischen Nöten geheilt werden. Wir hören ihnen zu, begleiten sie und beten mit ihnen, dadurch lernen sie die Liebe Gottes kennen. Wenn es ihnen wieder besser geht, kommen viele weiter zur Kirche. Diese Erfahrung ist dann viel stärker als die Angst vor Verfolgung.""

Wachstum trotz Einschüchterung und Verfolgung - ein wenig erinnert das an die frühen Zeiten des Christentums im Römischen Reich. Aber während die jungen Gemeinden damals ganz auf sich gestellt waren, haben Kirchen wie die auf britische Kolonialzeiten zurückgehende Methodistische Kirche in Sri Lanka gute Auslandskontakte. Sie ist eine der international vernetzten 34 Mitgliedskirchen der traditionsreichen Vereinten Evangelischen Mission in Wuppertal, der VEM. Allerdings stoßen solche missionarischen Aktivitäten bei den deutschen Kirchen auch auf Ablehnung, wie Claudia Währisch-Oblau erlebt hat, Leiterin der Abteilung für Evangelisation bei der VEM:

"Wenn wir jetzt mal eine Situation nehmen wie Indien oder wie Sri Lanka -Gemeinden, die dort Übergriffe erleben, sind vor allen Dingen Gemeinden, die eine sehr stark evangelistische Ausrichtung haben. Sprich Gemeinden, die tatsächlich versuchen, Menschen in ihrer Umgebung, die Hindus, die Buddhisten sind, zum Christentum zu bekehren. Das ist etwas, was in deutschen Landeskirchen – EKD-Kirchen – nicht unbedingt so gerne gesehen wird. Da ist man ja oft mit dem Thema Mission, Evangelisation, eher vorsichtig, gerade wenn es andere Religionen gibt, die das nicht so gerne sehen, tendiert man, glaube ich, im landeskirchlichen Bereich eher zur Zurückhaltung.

Ich beobachte so ’ne Haltung die sagt: Ja, aber eigentlich sind diese Gruppen doch selber Schuld an ihrer Verfolgung, die sind ja zu aggressiv in ihrer Evangelisierung. Da tut man sich schwer, weil man schon eine Schuldzuweisung hat an die Gruppen, die Übergriffe erleben. Umgekehrt natürlich: Evangelikale Gruppe unterstützen gerade solche sehr aggressiv missionarischen Gruppen und sagen dann natürlich: Die erleben Verfolgung."

Eine Diskussion, die für viele Christen in Sri Lanka ebenso belanglos wie unverständlich ist. "Wir müssen doch von dem reden, wovon unser Herz voll ist", sagen viele von ihnen. Und dazu gehört untrennbar auch das soziale Engagement. Die Methodistische Kirche unterhält Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser ebenso wie Armenspeisungen, ländliche Entwicklungsprojekte oder Flüchtlingshilfe - unabhängig von der Religion der Empfänger.

Nach dem Ende des jahrzehntelangen Bürgerkrieges im Mai 2009 kommt den Kirchen jetzt außerdem eine Schlüsselrolle im Friedensprozess zu, in dem sie schon seit längeren engagiert sind - auf beiden Seiten - wie der verantwortliche Referent für Evangelisation bei den Methodisten erklärt.

Layasing da Silva: "Wir haben Tamilen und Singhalesen in Sri Lanka, die Tamilen sind Hindus und die Singhalesen meistens Buddhisten. Aber in der Kirche haben wir beide Gruppen. Das heißt, nur die Kirchen können die Versöhnungsarbeit machen und wir sind sehr engagiert darin, die beiden verfeindeten Gruppen zusammenzubringen. Das hat Auswirkungen auch auf die religiösen Führer, denn das ist eine Herausforderung für sie und sie wollen das unterbinden, aber wir machen trotzdem weiter und viele Leute werden Christen, weil sie die Liebe Gottes erkennen."

Zitat:
"Die Republik Sri Lanka räumt dem Buddhismus den vordersten Platz ein. Somit obliegt dem Staat die Pflicht, den Buddha Sasana zu schützen und zu fördern und gleichzeitig allen Religionen die durch Artikel 15 (1) und 15 (3) gewährten Rechte zu garantieren."

So heißt es in der srilankischen Verfassung von 1978. Formal herrscht zwar Religionsfreiheit, aber dem Buddhismus kommt eine Vorrangstellung zu. Um diese angesichts des Wachstums christlicher Kirchen zu erhalten, hat eine Partei buddhistischer Mönche schon 2005 ein restriktives Gesetz ins Parlament eingebracht: das Anti-Bekehrungsgesetz. Seitdem schwebt es wie ein Damoklesschwert über den Kirchen. Bisher ist unklar, wann und wie es verabschiedet wird, berichtet Claudia Währisch Oblau von der Vereinten Evangelischen Mission, die regelmäßig in Sri Lanka ist:

"Dieses Gesetz stellt eben vor allem auch unter Strafe, wenn man die Religion wechselt auf Grund materieller Vorteile. Was eine große Gefahr wäre, wenn dieses Gesetz durchkommt für die Sozialarbeit und die Entwicklungsarbeit unserer Mitgliedskirche, weil die machen fantastische Programme, wirklich gute Entwicklungs- und Flüchtlings-Wiederansiedlungsprogramme nach dem Bürgerkrieg dort. Und wenn Menschen in diesen Programmen Christen werden, dann würde das nach diesem Gesetz schon unter "Aha, sie haben das wegen des materiellen Vorteils getan (fallen)". Das heißt, die ganze Arbeit der Kirche wird dort in Frage gestellt."

Bei Verstößen drohen bis zu sieben Jahren Gefängnis und hohe Geldstrafen. Die Botschaft ist eindeutig: Das schnelle Wachstum der christlichen Minderheit in Sri Lanka, verbunden mit deren guten Auslandskontakten und internationalen Geldern, wird auch hier vom dominierenden Buddhismus als Bedrohung empfunden. Und es wird bekämpft. Mit jetzt schon deutlich spürbaren Auswirkungen, wie Pastor Wesley Alexander erzählt. 25"

Alexander: "”Wenn es verabschiedet wird, dann wird es wirklich schwierig für die Christen in Sri Lanka. Andererseits denke ich, in manchen Gegenden ist die Situation so, als gäbe es das Gesetz schon. Die Mönche kommen doch jetzt schon und greifen Kirchen an, sogar die Katholische. Sie zerstören die Heiligenfiguren, stehlen Bücher, Altartücher, sogar Orgeln, alles Wertvolle.

Kürzlich ist eine unserer Kirchen mitten in Colombo angegriffen worden, ganz in der Nähe einer Polizeistation. In aller Offenheit. Das heißt doch, obwohl das Anti-Bekehrungsgesetz noch nicht verabschiedet ist, erleben die Christen in Sri Lanka bereits Verfolgung, direkt oder indirekt.""

Christenverfolgung hat viele Gesichter: von massiven Übergriffen fundamentalistischer Gruppen wie in Indien, Sri Lanka und der Türkei, wo der Staat nur halbherzig eingreift oder sogar mit eigenen Gesetzentwürfen vorhandene Ressentiments noch schürt, bis hin zur systematischen Bedrohung und Vertreibung von Christen wie im Irak oder im Kaukasus. Ein weltweites Phänomen, das die christlichen Minderheiten auch deshalb besonders trifft, weil sie als verlängerter Arm des Westens gelten, als Statthalter einer Kultur, die wie ein Tsunami den Erdball überschwemmt. Auch die promovierte Theologin Claudia –Währisch Oblau, die zehn Jahre für die Kirche in China gearbeitet hat, sieht internationale Faktoren als Ursachen:

"Zum einen, dass christliche Kirchen wachsen und zwar fast überall auf der Welt, vor allem pfingstkirchlicher oder charismatischer Ausrichtung, die in der Regel relativ - aggressiv evangelisieren - das wird häufig als Bedrohung empfunden.

Ein zweiter Faktor hat etwas damit zu tun, dass generell Politik sehr stark betrieben wird mit Begriffen von Identität, und (dass) Religion da eine große Rolle spielt – kulturelle und religiöse Identität sehr eng miteinander verschränkt gedacht werden.

Ich glaube, es wird letztlich weniger an den USA hängen oder an Europa, sondern daran, ob es Kirchen in den unterschiedlichen Ländern gelingt, in der eigenen Kultur sich zu verwurzeln, im eigenen sozialen und politischen Umfeld, so dass sie nicht als Bedrohung wahrgenommen werden."

Genau aus diesem Grund will der indische Professor John Fernandes nicht, dass sich nur die Kirchen für verfolgte Christen einsetzen.

John Fernandes: "”Das würde denen vielleicht noch einmal ein Argument geben, dass die Christen hier in Indien sind international gesteuert. Das ist deren Argument jetzt: die Katholiken in Indien sind von Rom abhängig und die anderen von Amerika - die wissen nicht genau wie das zusammenhängt, Christen sind Amerika und England für die.""
Für Fernandes, der von der Befreiungstheologie geprägt ist, liegen die Ursachen der Gewalt maßgeblich in der sozialen Ungerechtigkeit weltweit: in der zunehmenden Verarmung vieler Menschen allgemein und im indischen Kastenwesen im Besonderen - religiöse Übergriffe als Ventilfunktion. Fernandes’ Plädoyer lautet:

"Die ganze Welt hier muss sich einschalten - nicht nur in Indien, sondern überall - wo im Namen der Religion einer diskriminiert wird! Das ist nicht nur eine religiöse Frage, es ist eine Menschenrechtsfrage!"

... und als solche gehört sie ganz oben auf die Tagesordnung, sowohl in der Politik als auch in der Kirche. Nicht um Stimmung zu machen oder Spenden einzuwerben, sondern weil die Religionsfreiheit wie der Atem zum Leben gehört. Und weil junge missionarische Kirchen ebenso betroffen sind wie traditionsreiche alte. EKD-Auslandsbischof Schindehütte hofft deshalb auf eine konzertierte Aktion:

"Ich hoffe sehr, dass die öffentlicher gewordene Debatte – und das kann man auch den evangelikalen Brüdern mitverdanken – dass sie deutlich macht, dass wir es hier mit einem grundlegenden menschenrechtlichen Problem zu tun haben.

Ich habe die Hoffnung, dass es uns gelingen kann, dass die Religionen untereinander zu einem gegenseitigen Respekt kommen, in dem solchen Versuchen fundamentalistisch und mit Gewalt andere Gläubige zu verfolgen, also auch Christen zu verfolgen, dass dem endgültig die Grundlage entzogen wird. Das ist meine Hoffnung. Und es gibt dafür Anhaltspunkte, aber keine schnellen Lösungen."