Bei Inklusion "ist ein übertriebener Optimismus nicht angemessen"

Bernd Ahrbeck im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 13.09.2012
Die gemeinsame Beschulung von Nichtbehinderten und Behinderten habe ihre Grenzen, warnt Bernd Ahrbeck. Der Berliner Erziehungswissenschaftler plädiert für eine "maßvolle Inklusion", die das Bedürfnis mancher Kinder nach Schonraum und sonderpädagogischer Förderung ernst nehme.
Stephan Karkowsky: Wie sollten deutsche Schulen umgehen mit behinderten Kindern? Seit langer Zeit bereits hatte ein Umdenken eingesetzt, eher weg von den Sonderschulen hin zu Integrationsschulen, wo Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam lernen. Die UN-Behindertenkonvention geht noch einen Schritt weiter: Statt Integration wird hier von Inklusion gesprochen, und das bedeutet wohl, es wird nicht mehr unterschieden zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern.

Nach der Sichtweise der Inklusionisten hat jedes Kind individuelle Bedürfnisse, auf die der Lehrer eingehen muss, also noch dem Motto: Jedes Kind ist besonders, alle sind behindert. Ein neuer Dokumentarfilm stellt ab heute in den Kinos eine solche Inklusionsschule vor. "Zu nett, um wahr zu sein" kritisiert Zeit Online den Film. Und auch wir wollen fragen: Wie gut ist denn die Idee der Inklusion wirklich?

Wir freuen uns da auf die Meinung von Professor Dr. Bernd Ahrbeck. Der Erziehungswissenschaftler beschäftigt sich an der Humboldt-Uni in Berlin mit dem Wandel von Erziehungskonzepten für verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche. Herr Ahrbeck, guten Morgen!

Bernd Ahrbeck: Guten Morgen!

Karkowsky: Darf man denn den Ausdruck verhaltensgestört überhaupt noch verwenden in dieser aufgeladenen Debatte? Oder stigmatisiert das die Kinder bereits?

Ahrbeck: Ob man es darf, weiß ich nicht, ich tu es gern, und dies aus gutem Grund. Die Klassifikation Verhaltensstörung ist die der ICD-10, also der Internationalen Klassifikation für seelische Erkrankungen und psychische Besonderheiten. Ich halte diesen Begriff für nicht diskriminierend, weil er beschreibt, dass bestimmte Kinder in ihrem Leben in bestimmte Probleme geraten sind. Schulisch sprechen wir von einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung. Es gibt Kinder, die massive Probleme haben mit ihrer Emotionalität im sozialen Verhalten, sie kommen nicht zurecht mit sich selbst, aber auch nicht mit anderen. Und weil sie nicht mit anderen zurechtkommen, wird ihre innere und äußere Situation schwierig. Ich habe keinen Vorbehalt dagegen, diese Begriffe zu verwenden, weil, sie beschreiben eine Realität, die es im Leben nun einmal gibt.

Karkowsky: Wir sind damit ja mitten in der Diskussion, welche Ausdrücke darf man überhaupt noch verwenden. Denn "verhaltensgestört", das bedeutet ja eine Störung, die voraussetzt, dass es einen Regelbetrieb des Normalverhaltens gibt, oder?

Ahrbeck: Ja, und das gibt es nun ganz sicherlich. Also, eine überbordende Aggressivität, Körperverletzung, eine Hyperaktivität von Kindern im ganz kleinen Alter schon vom Krankheitswert, das sind Dinge, die von den üblichen Erwartungen abweichen. Und es geht ja nicht nur um die Abweichung von der Erwartung, sondern auch um den intrapsychischen, also den seelischen Zustand des Kindes, ob ein Kind mit sich selbst gut zurechtkommt, ob es glücklich ist oder unglücklich mit diesem Zustand. Und zentral ist natürlich die Frage: Wie wird das weitere Leben dieser Kinder voranschreiten, wird es einen guten Weg nehmen? Und eine generelle Abkehr von fachspezifischen Begriffen, da können Sie sagen, vielleicht sollten wir den Oberbegriff der Verhaltensstörung nicht mehr verwenden. Aber um gezielt pädagogisch und mitunter auch therapeutisch arbeiten zu können, brauchen Sie fachspezifische Termini.

Karkowsky: Und die will ja die Inklusion weitgehend abschaffen. Die Inklusion bedeutet ja, man möchte gar nicht mehr Grenzen errichten zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, auch als Konsequenz aus den Fehlern, die man meint, in der Sonderpädagogik erkannt zu haben. Und das Ziel, so habe ich es verstanden, ist ein humanerer Umgang mit Behinderten und das Erlernen größerer Sozialkompetenz bei den Mitschülern. Da haben Sie doch auch nichts dagegen, oder?

Ahrbeck: Ja, dem kann man nur zustimmen. Es ist gut, im Prinzip ja erst mal gut, wenn behinderte und nicht behinderte Kinder zusammen lernen und sich entwickeln. Die Frage ist nur, wo es Grenzen gibt. Gerade bei den Kindern mit massiven Verhaltensauffälligkeiten, Störungen oder mit dem speziellen Förderbedarf, den ich nannte, dies kann natürlich auch für die nicht behinderten Kinder hoch belastend sein. Und die Kinder, die emotional und sozial besondere Schwierigkeiten haben, kommen relativ schnell in eine soziale Randposition, fühlen sich relativ schnell auch gemobbt und abgelehnt. Und die Diagnosestellung erfolgt in aller Regel erst dann, wenn dieser von mir soeben beschriebene soziale Prozess bereits stattgefunden hat. Das ist keine Folge der Diagnosestellung – diese mag sie noch ein wenig verstärken. Die Kinder kommen in Randpositionen, die für sie selbst sehr unerquicklich sind.

Karkowsky: Nun zwingt uns aber doch dieses Konzept der Inklusion, zu dessen Anwalt ich mich hier mal aufschwinge, über unser eigenes Bild von Normalität und Behinderung nachzudenken und es womöglich zu revidieren. Weggucken geht nicht mehr, Behinderte werden aus den Sonderschulen rausgeholt und damit stärker Teil des Alltags. Als pädagogisches Konzept klingt das erst mal gut.

Ahrbeck: Das ist ja auch gut. Ich befürworte ja sehr, dass Kinder, behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen. Ich befürworte auch sehr, dass die Unterschiedlichkeit von Kindern anerkannt wird. Aber ich möchte nicht übersehen, dass es auch spezielle Förderbedürfnisse gibt. Und diesen Förderbedürfnissen wird man nicht gerecht, wenn man alle Kategorien abschafft, die genau die Problematik dieser Kinder beschreibt. Und es gibt – das möchte ich ausdrücklich betonen – keine einhellige Definition von Inklusion und es gibt auch kein einhelliges Verständnis im Fachdiskurs darüber, wie mit diesen Begriffen umzugehen ist. Problematisch aus meiner Sicht ist eher, dass der öffentliche und zum Teil auch der fachliche Inklusionsdiskurs von wenigen Personen beherrscht wird, die ziemlich radikale Positionen einnehmen. Und dem ist dann zu widersprechen.

Karkowsky: Sie hören den Berliner Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Bernd Ahrbeck im "Radiofeuilleton". Wir reden über Inklusion. Herr Ahrbeck, welche Auswirkungen sehen Sie denn für die Praxis? Also, was bedeutet es für das Lehrerpersonal zum Beispiel, zunehmend mit behinderten Kindern in Normalschulen umgehen zu müssen? Werden die entsprechend geschult?

Ahrbeck: Na ja, das ist eine Aufgabe der Zukunft mehr. Denn, nun muss man natürlich sagen, Lehrerinnen und Lehrer sind immer schon mit schwierigen Kindern umgegangen, das ist ihr alltägliches Geschäft. Die Zahl der Kinder, die einen speziellen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, ist relativ gering, immer gewesen. Die sollen nun vermehrt hinzukommen und dort gibt es natürlich dann auch einen Weiterqualifizierungsbedarf für Lehrerinnen und Lehrer. Nun soll das Ganze ja nicht ohne Unterstützung von ausgebildeten Sonderpädagogen ablaufen, die hinzukommen. Aber die erhöhte Vielfalt wird Lehrer vor erhebliche Probleme stellen. Und zwar weniger im Grundschulbereich als in den nachfolgenden Jahren, wenn die Kinder sich immer unterschiedlicher entwickeln.

Karkowsky: Welche Auswirkungen sehen Sie denn für die Behinderten, wenn die plötzlich nicht mehr in speziell auf sie eingerichteten Schulen unterrichtet werden?

Ahrbeck: Sehr unterschiedliche. Für viele Kinder mag das gut sein, gemeinsam unterrichtet zu werden. Nun gibt es auch Gruppen von Kindern, die ausdrücklich gern untereinander bleiben, zum Beispiel Kinder, die gehörlos sind und sich primär über Gebärdensprache auseinandersetzen miteinander. Die sind kommunikativ sehr verloren in der Gemeinschaft der vielen, obwohl sie ja später in die Welt der Hörenden hinein müssen, aber da gibt es explizit Erklärung auch von Behindertenverbänden und Auffassungen der behinderten Kinder selbst, dass sie untereinander bleiben wollen.

Und für manche Kinder ist der viel gescholtene Schonraum einer speziellen Einrichtung – das muss ja nicht eine lebenslange Sonderschule sein, aber einer zeitweisen speziellen Einrichtung – durchaus von Vorteil. Also, für viele Kinder, die doch sehr deutlich lernbehindert sind, entlastet es, wenn sie in einer speziellen Gruppe sind. Und für die Gruppe, die mich besonders interessiert, die Kinder mit Verhaltensstörung, gilt das in besonderem Maße.

Karkowsky: Wie bewerten Sie denn die Auswirkungen auf die nicht behinderten Schüler, die zunehmend mit Inklusionsschülern konfrontiert werden?

Ahrbeck: Ach, ich denke, das ist im Grundschulbereich nicht so ein großes Problem. Man muss auch genau hinschauen, wo es wirklich schwierig werden könnte. Allein der Umstand, dass ein Kind körperbehindert ist, im Rollstuhl sitzt, gemeinsam beschult wird, macht wenig Probleme. Dass jemand langsam lernt, macht ja erst mal für die Klassengemeinschaft auch wenig Probleme. Schwieriger wird es dann, wenn es um spezielle Förderbedürfnisse geht und die Schule sich fragen muss, kann sie unter den Bedingungen von Inklusion alle Kinder wirklich gut fördern? Und diesbezüglich ist ein übertriebener Optimismus nicht angemessen. Wir haben ja eine Fülle von Erfahrungswerten, die sagen, die Modellprojekte funktionieren sehr viel besser als die großflächige pädagogische Praxis, und die empirischen Untersuchungen zur gemeinsamen Beschulung sind nicht nur mit positiven Ergebnissen zu versehen.

Karkowsky: Also, dann verstehe ich Sie richtig: Inklusion als einzig selig machendes Modell für die Zukunft ist verkehrt, man muss verschiedene Modelle für verschiedene Kinder haben?

Ahrbeck: Das ist meine Auffassung und das ist die Auffassung derer, die moderat für Inklusion plädieren, so wie ich es tue. Das ist keine radikale Auffassung, die auch dadurch eine Stärkung findet, dass Sie kaum Länder weltweit haben, auch nicht in Skandinavien. Diese Länder sind ja sehr integrationserfahren und auch -bereit. Auch diese verzichten in der Regel, zum Beispiel Finnland, nicht auf spezielle Einrichtungen. Die haben nur weniger ideologische Probleme damit, als es bei uns der Fall zu sein scheint.

Karkowsky: Hat denn Deutschland überhaupt eine andere Wahl als den Weg der Inklusion weiter zu gehen? Oder wie verstehen Sie unsere Pflichten durch den Beitritt zur UN-Kinderrechtskonvention?

Ahrbeck: Deutschland hat keine andere Wahl insofern, weil es ja vernünftig ist und gut ist, über eine stärkere gemeinsame Beschulung nachzudenken. Also, der Impuls, der durch die UN-Konvention geweckt wurde, ist ja wirklich nur zu unterstützen. Was die UN-Konvention genau besagt für die Organisation der Schule, ist offen. Es steht dort mit keinem Satz, dass spezielle Einrichtungen und Sonderschulen abgeschafft werden sollen. Es gibt dort einen berühmten Passus, der sagt, alle Maßnahmen, die behinderten Menschen helfen, dürfen nicht als diskriminierend bezeichnet werden.

Das hängt sehr von der politischen Couleur und von der Weltanschauung und den Intentionen ab, ob plädiert wird für eine Schule für alle als vermeintliche Konsequenz der UN-Konventionen. Ich behaupte das dies nicht so ist. Sehr viel günstiger wäre es, wenn wir ein differenziertes System hätten mit einer hohen Bedeutung auch der Meinung von Eltern und einer Entscheidungsmöglichkeit von Eltern, die sagen, wir wollen mehr für unser Kind im Speziellen den inklusiven Weg, und für manche Kinder – sicher für weniger als wir heute auf Sonderschulen haben – ist der andere Weg dann doch der bessere.

Karkowsky: Ab heute in den Kinos "Berg Fidel", der Dokumentarfilm über eine Inklusionsschule in Münster. Sie hörten zum Thema den Berliner Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Bernd Ahrbeck. Herr Ahrbeck, vielen Dank! Sein Buch heißt "Der Umgang mit Behinderung" und ist erschienen im Kohlhammer Verlag.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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