Menschen mit Behinderung in Kenia

Der Blinde hilft dem Lahmen

Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe auf dem Übungsacker
Gemeinsam wird das Feld bestellt: Pharis Karani (vorne rechts) mit den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe. © Bettina Rühl
Von Bettina Rühl  · 20.01.2019
"Manche sagen, wir sind verhext" - in Kenia müssen Behinderte nach wie vor mit Ausgrenzung und Stigmatisierung rechnen. In einem Dorf im Zentrum des Landes haben sie und ihre Angehörigen die Chance auf ein würdiges und selbstbestimmtes Leben.
Im Schatten eines Mangobaumes sitzen etwa zwanzig Frauen und Männer auf einfachen Plastikstühlen. Ich und Peter Murage werden schon erwartet, Murage ist Berater für biologische Landwirtschaft. Um uns herum: einfache Hütten aus Holz oder Lehm, Gemüsefelder, Wiesen. Vor den Hütten laufen Hühner herum. Alle Anwesenden sind Mitglieder des Ngakandu Disability Projects, einer Selbsthilfegruppe von Behinderten im Zentrum Kenias. Die Mitglieder nennen ihre Namen, manche geben einen kurzen Hinweis auf ihre Beeinträchtigung. Ein paar von ihnen sprechen so leise, dass sie kaum zu verstehen sind. Sie sind öffentliche Aufmerksamkeit nicht gewöhnt, in Kenia gilt Behinderung bis heute als Stigma.
Fast schüchtern wirkt auch die 51-jährige Philis Wakanyei, die Schatzmeisterin der Gruppe. Sie sieht auf einem Auge gar nichts und auf dem anderen nur wenig. Die 50-jährige Mary Waruguru ist seit einem Schlaganfall teilweise gelähmt und trägt einen Arm in einer Binde. Lucy Nangiku hat seit der Geburt eine verkrüppelte Hand. Der 44-jährige Joseph hat zwei Kinder mit einer schweren Hirnschädigung, einer Zerebralparese. Nachdem sich alle vorgestellt haben, sagt Karani ein paar Worte über sich selbst. Mit klarer, deutlicher Stimme. Sollte Karani mit seiner Behinderung je ein Problem gehabt haben, muss das schon lange her sein. Karani zeigt auf eine Stelle seitlich an seiner Stirn. Sie stammt von einem Unfall mit einem Eselskarren.
"Das Blut ist nach innen gelaufen und hat sich im Muskel verklumpt. Das hat der Arzt mir erklärt", erzählt Karani. "Dadurch wurden die Sehnerven verletzt. Ich bin über Nacht im Krankenhaus geblieben, das war am 24. Juni 1985. Als ich am Morgen des 25. Juni aufwachte, stellte ich fest, dass ich nichts mehr sehen konnte."

"Ich fand mich selbst wertlos"

Er ist damals 37 Jahre alt, Vater von drei Kindern und Lehrer, bringt erwachsenen Analphabeten Lesen und Schreiben bei. Karani verdient zwar nicht viel, aber die Familie kommt über die Runden, weil er und seine Frau ein kleines Stück Land haben, auf dem sie Mais, Bananen und Gemüse anbauen. Dass er plötzlich nichts mehr sehen kann, ist für Karani ein Schock.
Pharis Karani und seine Frau Margret Wanjiku vor ihrem Haus.
Pharis Karani und seine Frau Margret Wanjiku© Bettina Rühl
Er hat damals keine Ahnung, wie er und die Familie in Zukunft überleben sollen: "Ich fand mich selbst wertlos und dachte, es wäre besser, wenn ich bei dem Unfall gestorben wäre. Dann kam ich in ein Reha-Zentrum, da lernte ich einen Jungen kennen, der blind auf die Welt gekommen war. Er fragte mich, welche Farbe Milch hat. Außerdem sollte ich ihm den Unterschied zwischen Weiß und Schwarz beschreiben. Da habe ich begriffen, dass es mir gar nicht so schlecht geht, jedenfalls besser als ihm, weil ich immerhin mal sehen konnte."
Karani spricht mir zuliebe Englisch. Damit die Mitglieder dem Gesagten auch folgen können, wechselt Karani zwischen Kikuyu und Englisch. Wer nicht alles versteht, wartet geduldig, bis es weitergeht.
"In dem Reha-Zentrum gab es auch einen Psychologen, der hat mir empfohlen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, um unsere Schwierigkeiten gemeinsam anzugehen. Als ich in mein Dorf zurückkam, stellte ich fest, dass es bei uns wirklich noch keine Selbsthilfegruppe gab. Ich habe einige Behinderte angesprochen und vorgeschlagen, dass wir uns zusammentun, um uns auszutauschen und nach Lösungen für unsere Probleme zu suchen."
Inzwischen hat die Gruppe 25 Mitglieder. Etliche von ihnen können nicht selbst zu den Versammlungen und Seminaren kommen, stattdessen sind ihre so genannten "caretaker" da, ihre Beschützer.
Jetzt übernimmt Peter Murage. Er arbeitet für die Organisation Biovision, die Bauern in biologischer Landwirtschaft berät. Wer etwas lernen möchte, kann ihn um eine Schulung bitten – die besondere Zusammensetzung der Gruppe spielt für ihn keine Rolle. Heute geht es um die richtige Aussaat von Mais, um den nötigen Abstand von Reihen und Saatkörnern. Der Abstand zwischen zwei Furchen soll 75 Zentimeter groß sein, sagt Murage, damit die Maispflanzen später nicht zu eng stehen. Murage hält einen Ast in der Hand und macht vor, wie er den richtigen Abstand zwischen zwei Maispflanzen abmisst: Es sind anderthalb Schulterbreiten. Viele aus der Gruppe machen mit. Auch Karani hört zu. Er kann Murages Demonstration zwar nicht sehen, dafür aber ertasten.

Anderthalb Schulterbreit als Maß

"Als er uns das zum ersten Mal gezeigt hat, habe ich anschließend das Zuckerrohr in die Hand bekommen, an dem er das demonstriert hat. Er hatte eine Markierung gesetzt, die konnte ich fühlen. Danach habe ich das auf unserem Gemeinschaftsfeld ausprobiert, und es war für mich einfach, Furchen im richtigen Abstand zu graben. Seitdem mache ich das auch zu Hause so, und zwar ich selbst - statt meiner Frau zu sagen, wie sie es machen soll."
Das Gemeinschaftsfeld liegt nur ein paar hundert Meter entfernt. Eigentlich gehört es Philis Wakanyei, der Schatzmeisterin der Selbsthilfegruppe. Die 50-Jährige mit der stark eingeschränkten Sehkraft geht so zielstrebig auf das Feld zu, als würde sie es sehen. Der blinde Karani wird von Rebecca Wangeci geleitet, seiner Stellvertreterin. Sie sieht auch wenig, aber immer noch genug, um für sie beide den Weg zu finden.
Am Feld angekommen, fängt Karani an zu messen. Er spannt ein Seil entlang des Feldrains. Dafür ertastet er den Unterschied zwischen der blanken Erde und dem Gras, das neben dem Feld wächst. Währenddessen gucken die anderen zu oder tauschen sich aus. Es macht ihnen nichts aus zu warten, bis sie an der Reihe sind.
Das Wetter ist angenehm, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Das Dorf Gitwe liegt im Zentrum von Kenia, etwa 1500 Meter über dem Meer. Weil es hier auch ausreichend regnet, sind die Bäume und Büsche rund um das abgeerntete Feld satt grün und üppig. Auch Murage schaut Karani zu. Er hat großen Respekt für den 60-Jährigen: "Er braucht keinerlei Hilfe. Er kommt sogar alleine von zu Hause hierher, und er geht auch alleine zu seinem Arbeitsplatz."
Pharis Karani vor einer der beiden Hütten, in denen er mit seiner Frau wohnt.
Pharis Karani ist 60 Jahre alt, mit 37 verlor er über Nacht sein Augenlicht. © Bettina Rühl
Karani hat sich nach seinem Unfall zum Schuster umschulen lassen, als Lehrer kann er seit seiner Erblindung nicht mehr arbeiten.
"Die Sache ist die", sagt er. "Wenn man sich wegen seiner Behinderung selbst ablehnt oder kein Selbstvertrauen hat, wird man nichts schaffen. Aber wenn man sich und seine Situation akzeptiert, kann man jedes Problem lösen. Ich finde es wichtig, selbstständig zu sein. Das versuche ich, auch unseren Mitgliedern und der Gesellschaft klar zu machen: Behinderung bedeutet nicht Unfähigkeit. Egal in welcher Lage du bist, solltest du arbeiten. Auch, um andere zu ermutigen, die in einer ähnlichen Lage sind. Eine Behinderung ist nicht das Ende der Welt. Das Leben geht weiter, und man muss seinen Alltag bewältigen. Egal, in welcher Lage man ist."
Damit wendet sich Karani wieder der Feldarbeit zu. Er und die Schatzmeisterin Philis Wankayei mischen jetzt zusammen die Erde mit Kompost, um den Boden für die Aussaat von Mais vorzubereiten. Damit Karani auf dem Feld die Orientierung behält, setzt er immer genau einen Fuß vor den anderen. Die Stimmung ist gelöst, die Gruppe arbeitet gerne zusammen. Etwas abseits bleiben nur Jacintia Wawita und ihre Tochter Dawida. Beide sind geistig beeinträchtigt, die 26-jährige Dawida kann fast nicht sprechen. Dabei hat sie selbst schon drei Kinder – niemand weiß, von wem. Das jüngste hat sie heute mitgebracht und stillt es gerade im Schatten eines Baumes. Verwandte und Dorfbewohner kümmern sich um die Familie. Und wenn Jacintia und Dawida jedes Mal wieder genau gezeigt bekommen, wie es geht, können sie bei der Feldarbeit helfen.

Der Blinde navigiert

Nicht alle Mitglieder von Karanis Selbsthilfegruppe haben selbst eine Behinderung. Einige – wie Wachira – vertreten Angehörige, die Unterstützung brauchen. Heute besucht Karani Wachira und seine Frau nach dem Treffen. Normalerweise geht er die drei Kilometer zu Fuß. Heute nehme ich ihn ausnahmsweise mit dem Auto mit. Während der Fahrt sagt er mir immer wieder, wann ich abbiegen muss. Obwohl er doch gar nicht sehen kann.
Wachira und seine Frau wohnen auf einem kleinen Grundstück mit üppigen Bananenstauden und einem kleinen Kürbisbeet. Hühner laufen herum, eine Ziege liegt unter einer Bananenstaude und käut wieder. Die Lehmhütte der Wachiras sieht aus, als hätte sie unter den letzten Regenfällen ziemlich gelitten und müsste mal ausgebessert werden. Im Näherkommen macht sich Karani bemerkbar. Weil es keine Klingel gibt, ruft er auf Kikuyu "klopf klopf". Wachira heißt uns willkommen. Karani fragt, ob seine Frau auch da ist. Die 39-jährige Anne sitzt auf dem Sofa, neben ihrer neunjährigen Tochter Grace.
Anne Wangari Wachira und Joseph Wachira Murimi mit ihren drei Kindern.
Drei Kinder, davon zwei behindert: Anne Wangari Wachira und Joseph Wachira Murimi © Bettina Rühl
In dem kleinen Wohnzimmer stehen drei Sofas, ein niedriger Tisch und ein Wohnzimmerschrank, in dem die Familie das Geschirr, ein paar Trockentücher und Kerzen aufbewahrt. Auf einem Sofa schläft ein Kind: David. Er ist nicht behindert, aber heute krank. Neben dem vierjährigen David schläft sein jüngerer Bruder.
"Das ist Jonathan. Jonathan ist ein Jahr alt, und der Arzt sagt, dass er eine infantile Zerebralparese hat, sein Hirn ist also geschädigt. Er kann nicht sitzen, seinen Kopf nicht allein halten. Er kann nicht gehen und mit den Händen nichts greifen."
Die älteste Tochter Grace sitzt im Rollstuhl. Sie nimmt keinen Anteil an dem, was um sie herum geschieht, ist aber immer in Bewegung. Grund dafür sind Muskelkrämpfe. Grace und ihr Körper scheinen unentwegt miteinander zu kämpfen.

Nachbarn halten Behinderung für Fluch

Anne Wachira holt Becher aus dem Wohnzimmerschrank und bietet Tee an, den sie schon vorbereitet und in einer Thermoskanne warm gehalten hat. Sie ist eine warmherzige Frau mit einem weichen Gesicht und freut sich ganz offensichtlich über den Besuch. Seit Grace auf die Welt kam, haben sie und ihr Mann nicht unbedingt die besten Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht:
"Manche haben Angst vor uns, andere verstehen einfach nicht, was mit unseren Kindern los ist. Manche sagen: Das ist ein Fluch. Wieder andere, dass wir verhext sind. Manche sagen, wir hätten solche Kinder, weil der Brautpreis nicht vollständig bezahlt worden sei."
Das vergangene Jahr sei für die Familie besonders hart gewesen, sagt Anne. Alle Familienmitglieder waren krank. Joseph, der bisher als Maurer gearbeitet hat, ist vor fünf Monaten von einer Leiter gefallen und hat sich ein Handgelenk gebrochen. Seitdem kann er nicht mehr arbeiten, die wirtschaftliche Not der Familie ist noch größer geworden. Pharis Karani sitzt auf dem Sofa und hört zu. Joseph ist ihm dankbar:
"Er hilft uns und gibt uns Rat. Er stellt auch Kontakte her, wie zum Beispiel zu Peter Murage, der uns dann zeigt, wie wir uns selbst helfen können. Und wie wir den Ertrag von unseren Feldern steigern können. Er hat auch dafür gesorgt, dass wir einen Rollstuhl für unsere Tochter bekommen haben. Er tröstet uns, hört sich unsere Sorgen an. Und er bringt uns in Kontakt mit anderen Menschen, die unter denselben Schwierigkeiten leiden wie wir."
Grace Wangari Wachira in ihrem Rollstuhl
Im ständigen Kampf mit ihrem Körper: Grace © Bettina Rühl
"Wachira ist zu uns gekommen und hat gefragt, ob er Mitglied unserer Gruppe werden kann. Er hat uns von seinen Kindern erzählt, da haben wir ihn aufgenommen. In diesem Jahr haben wir der Familie nach der Ernte etwas von dem Mais gebracht, den die anderen geerntet haben. Das machen wir immer so: Nach jeder Ernte teilen wir mit denjenigen, die am meisten Schwierigkeiten haben. Oft geben wir mehreren Mitgliedern etwas, aber diesmal haben wir dieser Familie alles gebracht. Auch um ihnen zu zeigen, dass sie zu uns gehören."
Geld und das tägliche Überleben sind überhaupt ein wichtiges Thema in der Gruppe, dem Ngakandu Disability Project. Denn Behinderung gilt in Kenia nicht nur weiterhin als Stigma, viele Behinderte sind außerdem arm. Karani macht also Lobbyarbeit für Menschen mit Behinderungen. Und er hilft einzelnen dabei, ihr Recht auf materielle Unterstützung einzufordern. Er weiß, wer Anspruch auf einen Rollstuhl oder andere Hilfsmittel hat, hilft beim Papierkram. Nur durch sein Wissen und seine Zähigkeit haben es Grace’ Eltern geschafft, einen Rollstuhl für ihre Tochter zu bekommen.

Zwei Stunden fürs Füttern

Für Grace ist Essenszeit, Anne setzt sich auf das Sofa, seitlich neben den Rollstuhl. Grace habe Probleme beim Schlucken, sagt ihre Mutter. Dann bindet sie ihrer Tochter ein Handtuch um und bereitet das Essen vor: Von einer Art Donut bricht sie klitzekleine Stückchen ab, die sie in Tee einweicht und ihrer Tochter dann in den Mund steckt.
"Sie schafft ein bis zwei Donuts", sagt sie. "Ich brauche zum Füttern immer zwei Stunden. Grace kann ja nur ganz, ganz kleine Stückchen schlucken."
Nach dem Essen schiebt Anne ihre Tochter vor das Haus. Eine knifflige Übung, den großen Rollstuhl aus der engen Hütte zu kriegen. Im Garten ist es nicht viel einfacher. Der Weg zwischen Hütte und Kürbisbeet ist schmal. Außerhalb des Grundstücks ist es noch schwieriger: Die Wege sind holprig, asphaltierte Straßen selten. Aber Anne hat ja ohnehin kaum Zeit, das Grundstück zu verlassen. Außerdem sitzen sie und ihr Mann mit ihren Kindern geradezu fest: Die Familie hat kein Auto, einen Fahrtendienst gibt es nicht – wie sollten sie sich mit ihren Kindern bewegen? Umso dankbarer sind sie dafür, wenn Mitglieder aus der Gruppe sie besuchen.
Die Familie hat zwei Hähne und fünf Hennen und zurzeit auch etliche Küken. Die ziehen sie auf, um die Hühner zu verkaufen, und manchmal essen sie eins selbst. Genauso machen sie es mit den Eiern. Die Ziege, die gerade Bananenblätter frisst, verdanken sie einem Mikrokredit ihrer Gruppe. Das Tier ist für die Familie wertvoll, weil es Milch gibt. Jedes Mitglied muss bei der Aufnahme 500 Kenianische Shilling zahlen und 150 Shilling pro Monat – ungefähr 1,30 Euro. Von dem, was dadurch zusammen kommt, baut die Gruppe ein eigenes Sozialsystem auf. Sie vergibt Mikrokredite an Mitglieder, kümmert sich um Notfälle, zahlt auch die monatliche Miete einer Witwe, die weder Geld noch Verwandte hat – ihre bescheidene Hütte kostet neun Euro im Monat. Manchmal kriegt jemand einen Zuschuss zum Schulgeld seiner Kinder oder eben im Notfall Lebensmittel, wie die Wachiras.
Simon Kibara vor seiner Werkstatt.
Simon Kibara ist 62 Jahre alt und gehbehindert.© Bettina Rühl
Dann, am späten Nachmittag, will mir Karani noch einen Freund vorstellen, den Schreiner Simon Kibara Njau. Als der unser Auto auf dem Weg hört, der zu seinem Grundstück führt, kommt uns Kibara entgegen. Karani steigt aus und die beiden Männer gehen nebeneinander zu Kibaras Werkstatt und Wohnhaus. Kibara, der ein Bein nachzieht, hat Karanis Hand genommen - der Lahme führt den Blinden.
Der 62-jährige Schreiner gehört seit drei Jahren zu der Gruppe. Auf seinem Grundstück stehen ein hölzernes Wohnhaus und der Schuppen, in dem er arbeitet. Auf einem kleinen Grasstück weidet seine Kuh.
"Ich habe mich der Gruppe angeschlossen, weil man zusammen immer stärker ist. Konkret wollte ich mir eine Werkzeugmaschine kaufen und hatte dafür nicht genug Geld. Die Gruppe hat mir einen Kredit gegeben, zusammen mit meinem Ersparten hat es gereicht."

Ein Kleinkredit für eine Maschine

Bis dahin musste Kibara die Maschinen von Kollegen nutzen, wenn er einen Auftrag hatte. Dafür musste er jedes Mal bezahlen. Jetzt braucht er niemanden mehr zu fragen, ob eine Maschine frei ist, er kann einfach in seine Werkstatt gehen. Und er vermietet seine Maschine nun seinerseits an andere Schreiner, was ihm zusätzliches Einkommen bringt. Den Kredit, immerhin fast 300 Euro, hat er schon zur Hälfte abgezahlt.
Schreiner Simon Kibara in seiner Werkstatt.
Der Lahme: Schreiner Simon Kibara in seiner Werkstatt.© Bettina Rühl
Kibara schließt die Tür zu seiner Werkstatt auf. Der Schreiner trägt keinen Blaumann, sondern eine Anzughose und ein helles Hemd mit kurzen Ärmeln. Ein gepflegtes Äußeres scheint ihm wichtig zu sein. Im Schuppen versinken die Füße beim Gehen in frischen Sägespänen – der Schreiner scheint ausreichend Arbeit zu haben. Seine neue Maschine steht in der Mitte des Raumes. Kibaras Gesichtsausdruck ändert sich, sobald er an der Maschine steht. Er ist jetzt sehr konzentriert, arbeitet präzise. Geübt spannt er ein Brett ein und fängt an zu hobeln. Die Platte eines Beistelltisches, den ein Kunde bestellt hat. Der Schreiner ist einer, der mehr in die Gruppe hineingibt, als er herausholt.
"Wir wollen unseren Mitgliedern klar machen, dass niemand zum Bettler werden muss, nur weil er eine Behinderung hat. Außerdem setze ich mich in der Gesellschaft für die Bedürfnisse von Behinderten ein. Ich gehöre beispielsweise als Behindertenvertreter zum Aufsichtsrat einer Grundschule. In dieser Rolle rede ich mit vielen Eltern, vor allem den Eltern behinderter Kinder. Diejenigen, die ihre Kinder zu Hause verstecken wollen, ermutige ich, sie in die Schule zu schicken."
Kibara scheint in sich zu ruhen und vermittelt Stärke. Er fühlt sich von der Gemeinschaft respektiert: "Darüber bin ich glücklich. Ich bin stolz darauf, dass die Menschen mich so akzeptieren wie ich bin. Sie geben mir Aufträge und behandeln mich wie jeden anderen auch."
Zum Abschluss meines Besuchs möchte mir Karani noch zeigen, wo er seine Schusterwerkstatt hat - denn die Landwirtschaft ist ja nicht seine einzige Beschäftigung. Und wieder lotst er mich durch seine vertraute, waldreiche Umgebung. Die rote Erde ist fruchtbar, Mais und Bananenstauden wachsen üppig. Unser Ziel ist eine Zeile mit kleinen Läden am Rand der Landstraße. Mit Hilfe seines Blindenstockes absolviert Karani mühelos die letzten zwanzig Meter, nachdem ich das Auto abgestellt habe.
Karani geht durch einen Kiosk, in dem Hühner zerlegt und verkauft werden, und holt sein Schusterwerkzeug aus einer Kammer: eine Metallbox, in der er Nadeln und anderes Werkzeug hat. Außerdem eine große Plastiktüte mit Faden, Lederresten und einem Paar Schuhe, das ihm ein Kunde zum Reparieren gegeben hat. Dann geht er zurück und setzt sich auf eine Bank vor der Ladenzeile. Karani greift in den Plastiksack und holt ein Paar schwarze Lederschuhe heraus. Sie haben ganz offensichtlich schon ein langes Leben hinter sich, aber der Besitzer will oder kann sich noch nicht von ihnen trennen. Die Arbeit geht im leicht von der Hand. "Wenn man nicht sehen kann, werden die anderen Sinne gestärkt: das Fühlen, Tasten, Hören, Riechen und Schmecken."
Der blinde Schuster Pharis Karani sitzt auf einer Bank und flickt eine Sohle.
Schuhe reparieren kann Pharis Karani auch, ohne sie zu sehen.© Bettina Rühl

Vertraute Berührungen

Ein Nachbar setzt sich zu ihm. Josef hat hier einen kleinen Laden, in dem er Macadamia-Nüsse verkauft. Die Bank, auf der Karani immer arbeitet, steht neben Josefs Ladentür.
"Wenn du ihn heute begrüßt und dann vielleicht noch zwei oder drei Mal, brauchst du beim nächsten Mal noch nicht einmal den Mund aufzumachen, damit er dich erkennt. Er braucht dich nur zu berühren und sagt deinen Namen. Wenn wir uns begegnen, brauche ich kein Wort zu sagen. Er berührt mich kurz an der Schulter und sagt: 'Hi Josef, wie geht es dir?" Er weiß alles. Seine Sinne sind sehr, sehr stark. Er ist einfach wunderbar!"
Pharis Karani strahlt. Dann macht er sich auf den Heimweg, er wohnt zwei Kilometer entfernt. Die schafft Karani locker, zu Fuß und allein.
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