Behauptung der Individualität

02.01.2012
Nachdem die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews bis zum Abschluss der Highschool in einer mennonitischen Gemeinschaft gelebt hat, macht sie diese Welt nun zum Schauplatz ihrer Romane. So auch in ihrem aktuellen Roman "Kleiner Vogel, klopfendes Herz".
Es gibt gemütlichere Gegenden in der Welt als ausgerechnet den mexikanischen Bundesstaat Chihuahua. Er liegt im Norden des Landes und besteht vor allem aus Wüste. Die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews lässt ihren neuen Roman, "Kleiner Vogel, klopfendes Herz" in eben dieser staubtrockenen Gegend spielen - wo Männer zum Rodeo gehen und bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Revolver argumentieren. Wer also bei dem eher lyrischen Titel einen leichten Kitschverdacht hegte, wird sich enttäuscht sehen.

Im Original steht auf dem Buchdeckel auch schlicht "Irma Voth" - das ist der Name der 19-jährigen Ich-Erzählerin, einer Mennonitin, die immer genau das tut, was man nicht tun sollte. Es ist der dritte von Toews sechs Romanen, der sich mit dem Leben dieser religiösen Gemeinschaft beschäftigt.

In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlaubte die mexikanische Regierung kanadischen Mennoniten, sich in Chihuahua anzusiedeln. Heute leben dort ca. 50.000 Mitglieder dieser ältesten evangelischen Freikirche. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt überwiegend als Bauern, sprechen untereinander Plattdeutsch und beschränken den Kontakt zu nicht-mennonitischen Nachbarn auf das Nötigste.

Miriam Toews, 1964 in der Provinz Manitoba geboren, wuchs selbst unter Mennoniten auf. Und obwohl ihre Eltern, die Mutter Sozialarbeiterin, der Vater Lehrer, innerhalb der Gemeinde als sehr liberal galten, verließ Toews sie nach dem Abschluss der Highschool. Sie zog nach Montreal, studierte Journalismus, Englische Literatur und Film. Mittlerweile hat sie sich die Position einer der bekanntesten und beliebtesten Autorinnen in der jüngeren kanadischen Literatur erschrieben.

Den Bruch mit ihrer Herkunft durchlebt auch Toews‘ Hauptfigur Irma. Die Chance, ihrer Familie den Rücken zu kehren, bietet zuerst die Ehe mit einem Mexikaner, der Irma jedoch bald wieder verlässt. Dann erscheint in der Gegend ein Filmteam, für das sie dolmetscht. Der freundschaftliche Kontakt mit dem bunten Haufen bekiffter, manischer Kreativer ermutigt sie, sich gegen ihren autoritären, strenggläubigen Vater durchzusetzen.

Nach einem Streit flieht sie, gemeinsam mit ihren jüngeren Schwestern nach Mexiko City. Es gelingt den Mädchen, ein selbstverantwortliches Leben zu führen, Irma erkennt aber den Preis für das Glück: Sie ist verantwortlich für den Tod ihres Mannes, der von Drogenhändlern erschossen wird. Und sie ist mitschuldig an dem Tod einer älteren Schwester.

Sie führt ein Tagebuch, wodurch der Leser die Schmerzen ihrer Emanzipation, Selbstzweifel und Schuldgefühle kennenlernt. Auf berührende Weise aber verkörpert Irma auch die Kraft und die Leidenschaft, sich auf Wagnisse einzulassen, Individualität zu behaupten. Die Aufforderung zu Selbsterkenntnis und Verantwortung grundiert den Roman, ohne missionarisch zu wirken.

Miriam Toews beschreibt existentielle Krisen. Es gelingt ihr, die Seelennot ihrer Figuren sensibel darzustellen. Und zwar in salopper Alltagssprache. Ihr Gefühl für Komik, ihr bitterer Humor und Sarkasmus machen so selbst die Schilderung tragischer Ereignisse zu einem Lesevergnügen.

Besprochen von Carsten Hueck

Miriam Toews: Kleiner Vogel, klopfendes Herz
Deutsch von Christiane Buchner
Berlin Verlag, Berlin 2011
284 Seiten, 22,70 Euro
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