Begegnungen mit dem Komponisten und Theologen Dieter Schnebel (3/5)

Alles Bedeutende bewegt sich am Rande

Dieter Schnebel
Der Komponist und Theologe Dieter Schnebel im Studio © Carolin Naujocks
Moderation: Carolin Naujocks · 13.06.2018
Am Pfingstsonntag 2018 starb Dieter Schnebel im Alter von 88 Jahren. Zwischen November und Februar 2018 war er für eine Gesprächsreihe zu Gast im Deutschlandfunk Kultur. Diese "Begegnungen mit Dieter Schnebel" sind nun zum Vermächtnis geworden.
Es sind die einfachen Dinge, die Dieter Schnebel interessierten. Das galt sowohl für seine Musik als auch für seine Theologie. Dabei ging es nicht um Understatement, sondern Schnebel war sich dessen bewusst, dass es allein die ganz elementaren Sachen sind, unsere fünf Sinne und unsere konkreten Beziehungen zu anderen Menschen, die unsere Existenz ausmachen.
Zwei Lehrer habe er gehabt, ohne je eine Kompositionsstunde bei ihnen genossen zu haben: Karlheinz Stockhausen und John Cage. Dabei ist der Berliner Komponist und Theologe Dieter Schnebel selbst einer der bedeutendsten experimentellen Komponisten geworden.
Zu Beginn der 1950er Jahre hatte Dieter Schnebel die Neue-Musik-Szene als Außenseiter betreten. Es war die Zeit der Experimente und der musikalischen Neuanfänge. Darmstadt hieß der Ort, auf den alle blickten, denn die 1948 dort gegründeten Ferienkurse für Neue Musik wurden zum Konsolidierungszentrum des zeitgenössischen Musikschaffens und zum Synonym für die musikalische Avantgarde schlechthin. Hier wurden serielle Verfahren zur stufenweisen Durchorganisation des musikalischen Materials entwickelt – es entstand eine ästhetische Strömung, die als Serialismus in die Musikgeschichte einging.
Selbst tief im seriellen Denken verwurzelt – das in den Nachkriegsjahren einen ästhetischen Neuanfang garantieren sollte – hat sich Dieter Schnebels Komponieren nicht allein auf das rationale Organisieren akustischer Messgrößen (Tonhöhe, Dauer, Lautstärke) beschränkt. Vielmehr hat er früh schon das serielle Strukturieren auf komplexere Zusammenhänge, auf dynamische Prozesse, ausgeweitet. Immer sind diese Vorgänge konkret, denn "Klangvorgänge" stehen bei Dieter Schnebel für "Lebensvorgänge". Und weil echte Lebensvorgänge nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar und fühlbar sind, ist Dieter Schnebels experimentelle Musik konsequenterweise beim Visuellen, beim Theater angekommen. Doch erzählt dieses Theater keine traditionellen Geschichten; was sich dort ereignet, sind die Klangvorgänge selbst.
In den inzwischen über 70 Jahren kompositorischer Arbeit hat Dieter Schnebel ein schier unüberschaubares Werk geschaffen, das zugleich akribisch in Werkgruppen strukturiert ist: Phonetische Musik, Sichtbare Musik, Organische Musik, Psychoanalytische Musik, Experimentelles Theater usf. mit vielen Ableitungen und Seitenlinien, z.B. "Sichtbare Musik", "Zeichen-Sprache" und "Schau-Stücke".
Die unerwarteten Beziehungen, die aus diesem systematisch-experimentellen Vorgehen resultieren, machen das ebenso überraschende wie befreiende Moment seiner Musik aus. Denn Dieter Schnebels Komponieren bedeutet immer auch einen Emanzipationsprozess.
In fünf Gesprächen berichtet Dieter Schnebel von seinem Leben zwischen experimenteller Musik und kritischer Theologie, von den tragischen und komischen Seiten des Lebens.
Die heutige, dritte Sendung handelt von den 1968er Jahren, die Dieter Schnebel in Frankfurt/M. erlebte. Schnebel erzählt von der Freundschaft mit dem Frankfurter Philosophen, Soziologen und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno, von seiner Verehrung für den Philosophen Ernst Bloch und von den Fluxus-Abenteuern von La Monte Young bis Nam June Paik.
Der Philosoph und Schriftsteller Ernst Bloch
Der Philosoph und Schriftsteller Ernst Bloch (undatiert)© dpa / picture alliance
Begegnungen mit dem Komponisten und Theologen Dieter Schnebel (3/5)
Klangvorgänge – Lebensvorgänge
Carolin Naujocks im Gespräch mit Dieter Schnebel
(Teil 4 am 20. Juni 2018)
Mit Ausschnitten aus folgenden Kompositionen:

Hanns Eisler

"Vorspiel und Gedanken über die rote Fahne"

Sogenanntes Linksradikales Blasorchester


Dieter Schnebel

"Atemzüge" für mehrere Stimmorgane und Reproduktionsgeräte (1970/71)
aus: Maulwerke

Carla Henius
Gisela Saur-Kontarsky
William Pearson
Einstudierung: Dieter Schnebel


Dieter Schnebel

"Maulwerke"

Die Maulwerker

"Gesellschaftliche Relevanz von Musik"
Gesprächsrunde mit Theodor W. Adorno (Philosoph und Soziologe), Ludwig Finscher (Musikwissenschaftler) Hans G Helms (Komponist, Dichter, Ideologiekritiker) und Dieter Schnebel (Komponist und Theologe)
Sendung vom 13.10.1969, Hessischer Rundfunk

Öffentlicher Vortrag von Ernst Bloch
Hessischer Rundfunk

Giacinto Scelsi

Streichquartett Nr. 4 (1964)

Streichquartett des Klangforum Wien


Terry Riley
"In C" (1964) für Klavier und Instrumente
Arbeitsgemeinschaft Neue Musik am Oskar von Miller-Gymnasium, München

Leitung: Dieter Schnebel


Dieter Schnebel
2. Streichquartett mit Stimmen "Erinnern - Wiederholen - Durcharbeiten"

Katarina Raisinski, Stimme
Michael Hirsch, Stimme
Quatuor Diotima


La Monte Young
Composition 1960 Nr. 7 für Stimmen und Instrumente (To be held for a long time) (1960)

Arbeitsgemeinschaft Neue Musik am Oskar von Miller-Gymnasium, München
Leitung: Dieter Schnebel


Ludwig van Beethoven
Sonate für Klavier Nr. 14 cis-Moll, op.27 Nr. 2

Friedrich Gulda, Klavier


Franz Schubert
Sonate für Klavier G-Dur, D 894 (op.78)

András Schiff, Klavier


Dieter Schnebel
Schubert-Phantasie für geteiltes großes Orchester (1978/rev. 89)
aus: Re-Visionen I (I, 5)

Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt
Leitung: Zoltán Peskó


Dieter Schnebel
"Diapason" (1976-77)
Kanon à 13 für ungleichartige Instrumente bzw. Instrumentalgruppen

SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden
Leitung: Ernest Bour

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