Begegnungen an der Algarve

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 24.10.2005
Valmares ist ein fiktiver Ort in der Algarve, ein archaisches Fleckchen Erde, vom Touristenrummel der Strände eben erst erfasst. Hier stehen auf der einen Seite die Leandros, Unternehmer in dritter Generation - auf der anderen Seite die Matas, eine Großfamilie von den Kapverdischen Inseln. Einziges Bindeglied zwischen den zwei einander so fremden Universen ist die Titelfigur des Romans, Milene, eine eigenwillige junge Frau.
Die Kulisse mag manchem Leser der Portugiesin Lídia Jorge schon vertraut sein: Valmares, ein fiktiver Ort in der Algarve, ein archaisches Fleckchen Erde, vom Touristenrummel der Strände eben erst erfasst. Im Vordergrund sehen wir eine aufgegebene Konservenfabrik. Diese "Fábrica de Conservas Leandro", gegründet 1908, bildet die Bühne für ein doppeltes Familienporträt.
Auf der einen Seite stehen die Leandros: Unternehmer in dritter Generation, erfolgreiche Händler und Lokalpolitiker, machtbewusste Männer mit manchmal zwielichtigem Gebaren. Daneben ihre Frauen - so dünkelhaft kleinbürgerlich wie die Herren. Die Nelkenrevolution von 1974 brachte den Clan kurz aus dem Tritt, die Fabrik fiel in die Hände rebellischer Arbeiter; mittlerweile sind Stand und Ansehen wieder gefestigt.

Auf der anderen Seite finden wir die Matas, eine Großfamilie von den Kapverdischen Inseln. Der Archipel vor der Küste Westafrikas war bis zur Revolution portugiesische Kolonie. Die dunkelhäutigen Einwanderer haben die leere Fabrik gemietet, doch für die Leandros bleiben sie Eindringlinge.

Einziges Bindeglied zwischen den zwei einander so fremden Universen ist die Titelfigur des Romans, Milene, eine eigenwillige junge Frau. Die Waise wuchs bei Großmutter Regina auf, der Matriarchin des Clans. Den Tanten und Onkels gilt die verträumte und sehr direkte Milene als kindisch, zurückgeblieben. Im Sommer 1994, in der Gegenwart des Romans, verreisen alle Verwandten. (Urlaub außer Landes, das ist man sich schuldig.) Die Großmutter haben sie in ein Altersheim abgeschoben. Doch eines Tages verschwindet Regina; ihre Leiche findet man vor der "Fábrica de Conservas". Enkelin Milene verliert den Halt. Und so flüchtet sie aus ihrem Kreis in das vertraute Terrain der Kinderspiele, die Innenhöfe der Fabrik. Von den Matas – den Mietern - wird sie verblüfft und freundlich aufgenommen. Doch als sich zwischen Milene und dem Kranführer Antonino, einem Sohn der Matas, eine Romanze entspinnt, kommt es zum Zusammenprall der streng getrennten Welten.

Im Hintergrund der Familienhändel, über den Dächern der alten Fabrik, bewegen sich unaufhörlich die langen Arme der von Antonino & Co. bedienten Baukräne. Sie sind ein Symbol für die Umbrüche im Land nach 1974: Auch nach Valmares, noch in den abgelegensten Winkel Portugals greift die globale Ferienindustrie...

Seit ihren ersten, zu Beginn der Achtziger publizierten Büchern gilt Lídia Jorge (Jahrgang 1946) als herausragende Erzählerin. Mit "Milene", ihrem achten Roman, hat die Portugiesin nun erneut ein vielschichtiges, kunstvolles, dabei nicht leicht zu konsumierendes Werk vorgelegt; das Sittengemälde einer Gesellschaft im Wandel. Mit psychologischem Feingefühl erkundet sie einmal mehr die Rätsel von Herkunft und Identität. Für das Manuskript nutzte die Autorin auch den eigenen Lebenslauf – Lídia Jorge wuchs unter Frauen auf, in der Algarve (die Männer arbeiteten außer Landes). Einen Verweis auf den latent autobiographischen Charakter des Textes enthält schon die Widmung. "Vor allem für meine Familie, die es erträgt, daß ich in erster Linie andere Leben lebe", heißt es da. Und: "Die Welt ist eine lange Erzählung, doch die Fäden der Handlung, ob schlicht oder kompliziert, spinnen wir."

Lídia Jorge: Milene. Roman. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 2005. 543 S., 24,80 Euro.