Bedrohung durch zwanghafte Gedanken

10.08.2008
Wenn ein Mensch lange grübelt, ob er eine andere Person in einer bestimmten Situation verletzt hat, könnte es sich um einen Zwangskranken handeln. Das Buch "Zwangsstörungen" zeigt auf, worauf es für Betroffene in der Therapie ankommt. Angehörige lernen, was in diesen Menschen vorgeht und was sie mit ihnen tun oder besser nicht tun sollten.
Sicher ist immer noch nicht sicher. Noch einmal nachschauen, ob der Herd ausgeschaltet oder die Haustüre wirklich abgeschlossen ist - solche kleinen Tics kennt jeder. Nach Meinung von David Althaus, Nico Niedermeyer und Svenja Niescken zeigen sie das Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit.

Zu einer krankhaften Zwangsstörung würden solche Verhaltensweisen, wenn Betroffene sie aus einem inneren Drang heraus immer wieder ausführen müssen, ohne sich gegen sie wehren zu können. Im Unterschied zu einem Tic komme hinzu, dass die Patienten von "aufdringlichen Gedanken, Impulsen und Bildern gepeinigt” würden. Zwangshandlungen dienten dazu, die Bedrohung durch zwanghafte Gedanken zu mildern.

Zum Beispiel wäscht sich jemand zigmal am Tag und jedes Mal 20 Minuten die Hände, weil er denkt, sich irgendwo infiziert zu haben. Oder er kann aus derselben Angst heraus keine öffentliche Toilette betreten. Eine Patienten, von der die Autoren in ihren vielen Fallbeispielen berichten, betet sechs Mal das Vaterunser, um den Gedanken zu beruhigen, der Mutter könne etwas zugestoßen sein. Weil sie nicht sicher sein kann, ob es auch wirklich sechsmal war, muss sie wieder von vorne anfangen.

Den psychologischen Hintergrund der Zwangsstörung leuchten die Autoren mit einer interessanten Beobachtung aus: Die Betroffenen sind fundamental in ihrem Erleben verunsichert. Sie wissen, dass sie das Licht ausgeschaltet haben, aber sie fühlen nicht, ob es auch so ist. Sie bewerten ihre eigene Wahrnehmung als unzuverlässig. Daraus entsteht eine Angst, die mit scheinbar sinnlosen Handlungen neutralisiert wird. Auf Dauer ist diese Strategie nicht erfolgreich. Die Folge: Die Patienten leiden nicht nur an dem, was sie bedroht, sondern auch an dem, was sie zwanghaft dagegen tun.

Kaum einer findet aus diesem Teufelskreis alleine heraus. Daher verstehen die Autoren ihr Buch auch nicht als Ratgeber, mit dessen Hilfe man sich selbst helfen kann. Vielmehr als ein Buch zur Aufklärung über die Zwangsstörung und über die Therapie, die gegen sie hilft und zu der es der kompetenten Begleitung durch einen Psychotherapeuten bedarf.

In den letzten Jahren boomen Sachbücher über Zwangsstörungen. Nur zur Depression wird ähnlich viel geschrieben, im Unterschied zu anderen seelischen Erkrankungen. Das kann damit zu tun haben, dass Depressionen und Zwänge zu den häufigsten seelischen Störungen zählen. Aber wahrscheinlich auch mit etwas anderem: Menschen, die einen Psychotherapeuten aufsuchen, leiden meist an komplexen Beschwerden, die sich schwer allgemein beschreiben lassen. Der krankhafte Zwang hingegen lässt sich als einzelne Symptomatik gut darstellen.

Und es gibt zu seiner Behandlung eine anerkannte Standardmethode: Die Patienten setzen sich mit Hilfe eines Therapeuten den angstauslösenden Situationen aus, ohne ihr gewohntes Zwangsverhalten auszuführen. Der Sinn dessen ist, die verlorene Kontrolle zurückzugewinnen, zu lernen, dass die Anspannung auch so vergeht und sich mit den ängstigenden Gefühlen selbst zu beschäftigen.

Die Darstellung dieser verhaltenstherapeutischen Methode bildet das längste Kapitel des Buches. Etwa 80 Prozent der Patienten profitieren von dieser Behandlung. Im Unterschied zu Medikamenten, die Zwänge lindern können, kommt es nach dieser Therapie weit seltener zu einem Rückfall. Allerdings, so warnen die Autoren, gibt es nicht viele Therapeuten, die diese Methode der "Reizkonfrontation” beherrschen und bereit sind, sie mit dem Patienten in seinem Lebensalltag durchzuführen.

Das Buch ist so geschrieben, dass jeder es lesen kann und gut informiert wird. Betroffene erfahren, worauf es in der Therapie ankommt und worauf sie bei der Suche nach einem geeigneten Psychotherapeuten zu achten haben. Angehörige lernen, was in Zwangskranken vorgeht und was sie mit ihnen tun und besser nicht tun sollten.

Rezensiert von Ulfried Geuter

David Althaus/Nico Niedermeier/Svenja Nieschke, Zwangsstörungen. Wenn die Sucht nach Sicherheit zur Krankheit wird,
C. H. Beck, München 2008, 247 Seiten, 19,90 Euro