Bedrohte Bäume

09.07.2012
Ein Mann fällt eine Fichte mit goldenen Nadeln und verschwindet spurlos. Er konnte die Waldvernichtung nicht mehr ertragen. John Vaillant reiht sich mit "Am Ende der Wildnis" in die große Tradition der amerikanischen Liebe zu Realismus und Naturalismus ein. Sprache und Natur scheinen ineinander zu versinken.
Mitten in der einsamen Weite der Haida Gwaii Inseln vor der Pazifikküste Kanadas breitete ein Baum seine Zweige aus, wie ihn die Natur nur einmal erschuf: Hoch wie sechzehn Häuserstockwerke, sechs Meter im Umfang trug die Fichte keine grünen, sondern leuchtend goldene Nadeln. Was Wissenschaftler steril als Mutation bezeichnen, galt der Kultur der einheimischen Haida als Ehrfurcht gebietende, mystische Schenkung der Götter. Dann kam ein Mann vorbei, Ende der neunziger Jahre. Er legte seine Axt an den 300 Jahre alten heiligen Baum und schlug ihn tot. Danach stieg er in ein Boot und ging spurlos verloren.

Noch vor seinem Bestseller um einen menschenfressenden Tiger schrieb der US-Autor John Vaillant den Umwelt-Thriller "Am Ende der Wildnis", der jetzt auf Deutsch zu lesen ist. So wunderschön doppelsinnig der deutsche Titel des Buches daherkommt, führt der Untertitel doch ein wenig in die Irre: "Die wahre Geschichte vom Verschwinden des Grant Hadwin" weiß John Vaillant eben nicht zu erzählen, denn die Spur seines Anti-Helden - eines unsteten Mannes, zerrissen zwischen Einsamkeit, Holzfällermachismo, Alkoholexzessen und ökologisch-religiös inspiriertem Läuterungspathos - verliert sich auch für ihn in den kanadischen Wäldern. Setzte sich Grant Hadwin nach dem Baum-Killing nach Sibirien ab? Wurde er von geschockten Haida-Indianern ermordet? Ertrank er bei seiner Flucht in tückischen Gewässern?

Eher locker umkreist John Vaillant diese Fragen, weitet die Geschichte des mysteriösen Verschwindens aus zu einem Epos so überwältigend und imposant wie die kanadische Wildnis, von deren Ende er singt. Und eben deshalb trifft der englischsprachige Untertitel auch die Seele dieses Buches, das sich in die große Tradition der amerikanischen Liebe zum Realismus und Naturalismus einreiht - Jack London, Mark Twain, Walt Whitman, Truman Capote, sie alle klingen an. "A True Story of Myth, Madness and Greed" - eine wahre Geschichte über Mythen, Wahnsinn und Gier - genau das legt John Vaillant hier vor.

Auf fünf, sechs Seiten kann dieser Autor einen Baum, einen Berg, einen Fluss so vibrierend und dicht beschreiben, dass Sprache und Natur ineinander zu sinken scheinen. Die unwiederbringliche Schönheit der nördlichen Regenwälder mit ihren himmelhohen Bäumen, an denen sich Sägen und Bagger auf der Suche nach billigem Holz so lange zu schaffen machen werden, bis nur noch Ödnis bleibt, das Leben der Holzfäller in Erbärmlichkeit und Euphorie, Baum gegen Mann, Mann gegen Baum, zerquetschte Leiber auf beiden Seiten - das sind die eigentlichen Protagonisten dieses dokumentarischen Romans.

Grant Hadwin konnte die Waldvernichtung nicht mehr ertragen, darum schlug er die Fichte um: Er wollte ein Zeichen setzen. Forstfachleute haben einen kleinen Ableger ziehen können, ein dünnes Etwas, mehr ein aus dem Boden kriechender Ast als ein Baum. Hinter doppeltem Stacheldraht kann man das heute betrachten. Die Nadeln des dürren Imitats glänzen golden, während es der Wildnis draußen für immer an den Kragen geht. Ein großartiges Buch.

Besprochen von Susanne Billig

John Vaillant, "Am Ende der Wildnis - Umweltaktivist oder Ökoterrorist? Die wahre Geschichte vom Verschwinden des Grant Hadwin"
Aus dem Englischen von Teja Schwaner
Karl Blessing Verlag, München 2012
368 Seiten, 19,95 Euro
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