Recycling

Baustoffe retten aus Abrisshäusern

08:37 Minuten
Ein Abrisshaus, halb zerstört sehen wir in das Innere das Hauses.
Sie könnten viel mehr Materialien bergen, aber der Abriss setze ihnen zeitliche Grenzen, sagt Cécile Guichard. © Getty Images / Johner
Cécile Guichard im Gespräch mit Katja Bigalke · 12.12.2020
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Die Halbwertzeit von Gebäuden ist gar nicht so hoch. 60 Jahre für private Häuser, 30 Jahre für öffentliche Bauten. Statt zu sanieren, werden viele Gebäude abgerissen. Die Aktivisten von "Rotor Deconstruction" versuchen zu retten, was zu retten ist.
Katja Bigalke: Die Immobilie gilt ja gemeinhin als etwas Ewiges, etwas, das Bestand hat, das eigene Leben und das der Nachkommen überdauert. Aber schaut man sich die Zahlen an, dann sieht das etwas anders aus: Einfamilienhäuser haben eine Lebenszeit von gut 60 Jahren. Bei öffentlichen Gebäuden, Büro- und Industriebauten ist oft schon nach 30 Jahren Schluss. Da würde nämlich normalerweise eine Sanierung anstehen, weil die aber oft teurer ist als ein Neubau, wird das Gebäude einfach abgerissen. Und zwar meistens mitsamt aller Materialien und Baustoffen, die man eigentlich noch weiterverwenden könnte.
Seit einigen Jahren versucht eine Gruppe belgischer Aktivisten dagegen zu steuern, zu retten, was zu retten ist in diesen Abrisshäusern. Die Gruppe nennt sich "Rotor Deconstruction". Und dazu gehört auch Cécile Guichard. Was sind das denn konkret für Materialien, die sie da aus den Abrisshäusern bergen?
Cécile Guichard: Wir retten vor allem Materialien aus dem Innenausbau von Bürogebäuden, die abgerissen werden sollen: Glastrennwände, Elemente aus dem Sanitärbereich, Feuerschutz- oder Schallschutztüren. Alles Materialien, die einfach zu bergen sind. Aber wir haben zum Beispiel auch den Marmor-Saal vom Bahnhof Gare du Nord in Brüssel demontiert. Oder Türen und Türklinken der Societé Générale, Heizungsverkleidungen aus gebogenem Multiplex aus dem World Trade Center in Brüssel, das gerade renoviert wird.
Bigalke: Also das sind nicht so typische historische Baustoffe wie so ein altes Tor oder Fenster, sondern eher Gegenstände und Materialien aus der Nachkriegszeit?
Guichard: "Rotor Deconstruction" ist entstanden aus der Erkenntnis, dass es so etwas wie Baustoff-Recycling nicht mehr gibt. Das Geschäft hat sich auf historische Nischenprodukte reduziert, wie man sie vor allem bei Antiquitätenhändlern auf dem Lande findet, Geschäfte, die sich auf alte Steine oder gusseiserne Heizungen spezialisiert haben. Wir haben "Rotor Deconstruction" speziell für die Materialien aus Brüsseler Gebäuden gegründet, die auch für die Leute in Brüssel gedacht sind.

Die Zeit setzt Grenzen für die Bergung

Bigalke: Und das sind dann Materialien, die in erster Linie voll funktionsfähig sein müssen? Oder gibt es noch andere Kriterien bei der Auswahl rettungswürdiger Baustoffe?
Guichard: Also in der Branche der Zwischenhändler gilt die Regel: Jedes Material kann wiedereingesetzt werden, wenn man die Zeit dafür hat. Das ist die Herausforderung. Man könnte viel mehr Materialien bergen, aber die Zeit setzt uns Grenzen. Die Zeit zwischen der Entscheidung, etwas abzureißen und dem Abriss an sich, ist meist sehr kurz. Die Demontage, Transport, Lagerung und Instandsetzung – das alles kostet Zeit und Geld.
Und davon hängt auch ab, ob ein Material wieder eingesetzt wird. Als wir angefangen haben, haben wir wirklich alles, was wir konnten, geborgen. Heute müssen wir Entscheidungen treffen und versuchen, diese Prozesse zu optimieren.
Bigalke: Und gibt es da so übergeordnete Prinzipien, die Sie leiten?
Guichard: Ich glaube, das hat viele Aspekte. Ursprünglich hatte das natürlich ökologische Gründe – wir können nicht weiter in solchem Ausmaß Materialien wegwerfen und neue herstellen. Die Bauwirtschaft ist einer der größten Rohstoffverbraucher und gleichzeitig der größte Produzent von Abfall. Wenn wir etwas ausbauen, muss das leicht gehen. Zum Beispiel in Belgien gibt es eine Tradition von Steinzeug-Fliesen. Die sind sehr dick und sehr solide. Und die wurden befestigt mit Kalkmörtel. Diese Fliesen sind sehr einfach zu entfernen und das Material ist sehr resistent. Das lohnt sich.
Fliesen, die in den letzten Jahren eingesetzt wurden, sind viel dünner, die kann man nicht retten, die gehen kaputt. Dann spielen ökonomische Kriterien natürlich auch eine Rolle: Wenn dasselbe Material zum Beispiel neu billiger ist als gebraucht, dann werden wir kaum jemanden überzeugen können, mehr für ein Secondhand-Produkt zu bezahlen.

Neuware häufig qualitativ schlechter

Bigalke: Wie teuer sind denn so im Durchschnitt die Materialien, die Sie bergen?
Guichard: Zeit ist Geld. Der Preis kommt zustande durch die Arbeitszeit für den Abbau, den Transport und die Lagerung. So kommen wir im Schnitt auf 50 Prozent des Neupreises. Hochwertige Materialien dagegen sind verhältnismäßig günstiger, da kommen wir auf circa 30 Prozent des Neupreises. Wobei die Neuware qualitativ ja häufig schlechter ist.
Bigalke: Kann denn bei Ihnen jeder vorbeischauen und diese Dinge dann mitnehmen oder wie läuft das Geschäft?
Guichard: Wir haben mittlerweile einen Showroom, der täglich geöffnet ist im Zentrum von Brüssel. Profis, aber auch Einzelpersonen kaufen bei uns ein. Wir haben aber auch eine Internetseite, wo man quasi alles aus unserem Lager bestellen und sehen kann. Die wird ständig aktualisiert.
Bigalke: Und wer sind so typische Kunden bei "Rotor Deconstruction"?
Guichard: Wir haben Leute aus der Branche, aber auch Privatleute. Unter den Profis sind Designer, Architektur-Kollektive, Leute, die sich mit diesen ökologischen Fragen beschäftigen. Aber auch solche, die die historische und ästhetische Qualität der Materialien schätzen. Und dann haben wir auch Profis, die einfach nur gute Handwerker sind und die wissen, dass sie hier etwas finden, womit sie ihre Renovierung vollenden können zu Beispiel.

Regionalplan für Kreislaufwirtschaft in Brüssel

Bigalke: Manchmal werden Sie ja auch von den Unternehmen direkt kontaktiert, wenn die Materialien haben in Abrissgebäuden, die für Sie interessant sein könnten. Wenn ein Gebäude abgerissen wird, dann kann man nicht einfach da rein und diese Materialien holen, die einen interessieren – was muss man denn machen um diese Gebäude überhaupt betreten zu können?
Guichard: Die Situation hat sich sehr weiterentwickelt, seitdem wir angefangen haben. Wir mussten am Anfang mehr rumtelefonieren und die Gebäude auch finden. Heute werden wir angerufen und man bietet uns Materialien an – da ist die Herausforderung mehr die Frage der Zeit. Wir müssen Überzeugungsarbeit leisten, dass die sich die Zeit nehmen, die Baustoffe rauszuholen oder am besten gar nicht erst abzureißen. Das ist die größte Herausforderung: die Unternehmen, die Projektmanager zu überzeugen, sich Zeit zu lassen.
Bigalke: Und würden Sie sagen, Sie sind mit "Rotor Deconstruction" immer noch Einzelkämpfer, oder gibt es inzwischen auch wirklich umfangreich einen anderen Umgang mit dem Recycling von Baustoffen?
Guichard: Wir sehen schon, dass sich die Dinge verändern. Gerade auf Brüsseler Ebene – auch mit dem Regionalplan für Kreislaufwirtschaft. Wir bekommen viel Unterstützung von den Brüsseler Behörden und wir sehen, dass viele Initiativen entstehen. Ein europäisches Netzwerk ist entstanden mit "Rotor"– wir haben mit den Baustoffen angefangen. Inzwischen sind wir an Ausstellungen und Veröffentlichungen beteiligt, wir haben ein Projekt "Deconstruction" – also Demontage auf hohem Niveau.
Es gibt ein europäisches Netzwerk, mit dem der Baustoff-Kreislauf vereinfacht werden soll, eine Datenbank der Händler und Materialien. Es gibt mehr und mehr junge Initiativen von motivierten Leuten, die über den Wiedereinsatz auch von nicht so wertvollen Materialien nachdenken – wir haben schon Hoffnung. Wir sehen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln. Das braucht aber Zeit und vor allem viel Energie um unsere Art zu bauen zu ändern. Daher: Ich weiß nicht, worauf das langfristig hinauslaufen wird.
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