Bauhaus-Architektur in Haifa

Feature von Axel Doßmann · 01.06.2005
Seit 40 Jahren unterhalten die Bundesrepublik Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen. Beide Staaten verbindet nicht nur die schreckliche Geschichte des Holocaust. Es gibt auch kulturelle Verbindungen mit Deutschland und Europa, die heute noch in Israel sichtbar sind. Denn der Staat Israel ist aus der europäischen Ideenwelt heraus entstanden. Ablesen kann man das teilweise an den Werken israelischer Künstler in der Ausstellung "Die neuen Hebräer" im Berliner Martin-Gropius-Bau. Kuratiert hat sie Doreet LeVitte Harten.
Doreet LeVitte Harten: " Israel ist in viele Hinsichten ein Gesamtkunstwerk. Weil in 100 Jahren man hat ziemlich schnell wirklich eine besondere Kultur entwickelt, die basiert auf eine utopische Traum. Und dieser utopische Traum natürlich hat zu tun mit viele utopische Träume, die damals in Europa des 19. Jahrhundert gewesen, die sozialistische, und die liberalische (sic) und ... Und das hat funktioniert, merkwürdiger Weise, das hat für kurze Zeit in Israel funktioniert."

Die israelische Museumskuratorin Doreet LeVitte Harten betont, dass der heutige Staat Israel ohne die Utopien und Visionen der Anfangszeit nicht zu begreifen sei. Im späten 19. Jahrhundert, in den frühen Jahren des Zionismus, als die ersten Juden in Palästina siedeln, wird dieser historische Raum im Nahen Osten auch kulturell auf neue Weise entdeckt, verwandelt und neu definiert im Sinne der zionistischen Siedler.

Diese Juden der ersten drei Aliyahs, der großen Einwanderungswellen zwischen 1882 und 1923, kommen aus Osteuropa, aus Rumänien, Polen und besonders aus Russland - wie auch die Urgroßeltern von Doreet LeVitte Harten.
Doreet LeVitte Harten: " Die Familie meines Vaters und die Familie meiner Mutter kamen Anfang des Jahrhunderts. Die Familie meines Vaters war ziemlich reich und sie wollten nicht ihre Geld verlieren durch Revolution in Russland. Also nahm mein Großvater alle seine Kinder - und sie waren viel - und kam nach Israel. Die Familie meiner Mutter, das war andere Geschichte, da meine Großvater war ein Rabbi. Aber er wollte auch Kant und Schiller lesen, das durfte er nicht in der jüdischen Gemeinde in Lithuania. Also hat er gesagt, er kommt nach Israel. Da kann er nicht nur religiöse Schriften lesen, sondern auch die westliche Kultur. Das war für ihn so eine Art von Befreiung."

Eine Befreiung im doppelten Sinne: aus dem antisemitischen Umfeld, aber auch aus der Enge des orthodoxen Judentums. Palästina - das war zunächst eine Verheißung, ein europäisch geprägtes Versprechen, inspiriert von den Romanen und der science fiction des Wiener Juden Theodor Herzl.

Doreet LeVitte Harten: " Was Herzl wollte ist eigentlich, Klein-Europa in Israel zu bringen. Er hat gedacht, Juden brauchen einen Ort, aufgeklärte Juden. Er hat gesagt, die Leute würden Deutsch sprechen, sie wollen zu die Opera gehen, sie würden Kaffeekranz haben. Also Klein-Deutschland, Klein-Wien in Europa."

In seinem Buch "Alt-Neuland" von 1902 beschreibt Theodor Herzl, was Besucher erleben bei ihrer ersten Begegnung mit seinem utopischen Staat:

" Die Ankömmlinge staunten und starrten in das Gewühl. Es fand hier offenbar ein Verkehr aller Völker statt, denn man sah die buntesten Trachten des Morgenlandes zwischen den Gewändern des Okzidents. Chinesen, Perser, Araber wandelten durch die geschäftige Menge. Vorherrschend war freilich die Kleidung des Abendlandes, wie diese Stadt ja überhaupt einen durchaus europäischen Eindruck machte. Man hatte glauben können, dass man sich in einem großen Hafen Italiens befinde. Die Bläue des Himmels und des Meeres und das Leuchten der Farben gemahnten an die glückliche Riviera. Nur waren die Gebäude viel moderner und reinlicher, und der Straßenverkehr enthielt bei aller Lebhaftigkeit weniger Lärm."

In seinem Roman thematisiert Herzl den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Einer seiner Protagonisten merkt in einem Gespräch an:

" Nichts ist vollkommen auf Erden, also auch unsere neue Gesellschaft nicht. Wir haben ja keinen Staat, wie die Europäer ihrer Zeit. Wir sind eine Gesellschaft von bürgerlichen Leuten, die nur durch Arbeit und Bildung ihres Lebens froh werden wollen. Wir begnügen uns damit, unsere Jugend auch körperlich tüchtig zu machen. Wir bilden wie den Geist so den Leib unserer Jugend. Turn- und Schützenvereine genügen uns für diesen Zweck, wie sie in der Schweiz genügten. Auch haben wir Wettspiele nach englischem Muster: Kricket, Fußball, Rudern. Auch diese bewährten Dinge haben wir übernommen, und sie bewähren sich nun bei uns. Einst waren die Judenkinder bleich, schwach und scheu. Sehen Sie sie heute an! Die Erklärung dieser wunderbar scheinenden Verwandlung ist die einfachste von der Welt. Wir haben sie aus dumpfen Kellerlöchern, Elendshütten, Proletarierstuben an das Licht gebracht."

Diese Phantasie vom neuen Menschen, die Figur des neuen Hebräers, der sich im Orient ansiedeln soll: sie scheint die genaue Umkehrung der antisemitischen Karikatur des Juden zu sein.

Doreet LeVitte Harten: " Also man musste die neue Mann kreieren und man suchte ein Modell. Die Väter des Zionismus haben gesagt. Wenn die Jude ist Gelehrter, wenn die Jude arbeiten nicht auf Land, wenn die Juden ist physiognomisch mit eine krumme Nase und klein und hässlich, wir wollen ganz andere Art von Israeli oder Hebräer oder Juden haben. Also – wie soll der neue Hebräer aussehen? Er soll groß sein, er sollte Bauer sein, er sollte das Land arbeiten. In Kürze, er war fast wie ein ari(ani)sche Figur, das die nationalsozialistische Ideologie hat Sehnsucht nach. "

Theodor Herzl ermuntert seine Leser zu Beginn der Lektüre mit dem Motto:

"Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen."

Herzls jüdischer Staat soll Realität werden: eine friedliche europäische Oase, die alle Vorzüge Europas in den Orient überführt und dort sogar übertrumpft. Zusammen mit seinem kurz vor der Jahrhundertwende publizierten Buch "Der Judenstaat" gewinnen Herzls Visionen Einfluss auf die zionistische Bewegung. Die jungen Leute sollen die Rolle der Avantgarde übernehmen.

Vorbilder gibt es bereits: allen voran die "Freideutsche Jugend", die unter dem Namen "Wandervogel" bekannt wird. 1896 im Berliner Vorort Steglitz als Verein gegründet versammeln sich bis zum Ersten Weltkrieg bereits 25.000 deutsche Bürger in dieser Bewegung. Die meist jungen Männer wandern, stählen ihre Körper, musizieren und singen am Lagerfeuer, fernab der modernen Stadt, die als dekadent gilt. So soll der neue deutsche Mann geschaffen werden. Besonders antisemitisch-völkisch orientiert ist die österreichische Wandervogelbewegung. Juden sind bei ihnen nicht erwünscht.

Doch auch jüdische Jugendliche fasziniert die neo-romantische Idee. 1911 gründet sich in Wien unter dem Namen "Blau-Weiß" die jüdische Wandervogelbewegung. Nach dem Ersten Weltkrieg gewinnt die 1915 gegründete erste zionistische Jugendbewegung Einfluss auf die "blau-weißen" Wandervögel:

" Ha-shomer ha-za´ir. "

Die Zionisten adaptieren Stil und Rhetorik der deutschen Jugendbewegung, während die Wandervögel die zionistischen Lehren aufnehmen. Ganz im Jargon deutsch-nationaler Parolen erklären Mitte der 20er Jahre die Mitglieder von ha-shomer ha-za´ir:

" Die Jugendbewegung ist eine revolutionäre Bewegung. Vergeblich werden wir nach fertigen Menschen suchen, die schon so sind, wie wir sie brauchen. Es gibt sie nicht, sie müssen noch geschaffen werden, das ist der Kern unsrer Arbeit."

Die Historikerin Rina Peled spricht vom "Ideal des Muskeljuden". Sein Lebensziel soll nicht das jüdische Exil, die Diaspora sein, sondern Erez Israel. Jeder Jude soll sich auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten. Doch als die Pioniere tatsächlich als Siedler mit den Realitäten Palästinas konfrontiert sind, muss man das Konzept anpassen. Die neue Parole heißt jetzt:

"Die Kleider des Exils ablegen und die Kleider der Heimat anziehen."

Das Klischee vom Araber als einem physisch starken, erdverbundenen Mann dient als neues Modell und Vorbild - bis 1929 die bewaffneten Konflikte zwischen Juden und den heimischen Arabern ausbrechen.

Aus der freien Jugendbewegung wird eine zentral gesteuerte, politische Organisation, die stark marxistisch geprägt ist. Das Modell für das neue, sozialistische Kibbuz, die freiwillige Gemeinschaft der zionistischen Siedler, wird das Dogma vom sowjetischen Kollektiv. Die Folgen davon spürt in den 50er Jahren auch Doreen LeVitte Harten. Sie ist 1948 geboren, im Gründungsjahr von Israel:

Doreet LeVitte Harten: " Es war sehr politisch, es gab zum Beispiel Jugendbewegung, die gehörte zu MAPAM, das war die Partei ganz links orientiert. Wir mussten in meiner Schule wir haben jeden Freitag, wir kamen mit einem Blauhemd, das war die Uniform der Jugendbewegung. Wir mussten die Lied für Shabbat singen, am Samstag und direkt danach die Internationale. So, das war eine verrückte Mischung: ein bisschen Religion, aber Hauptsache sozialistische Ideen. Und das Bild von Stalin war an der Wand. Und wenn er starb, alle waren schrecklich traurig bei uns, weil er war der Sohn des Volkes. Er war Symbol der sozialistischen Bewegung."

Nach dem Holocaust gibt es ein neues Motiv für die Vision vom neuen Hebräer als Gegenbild zum Juden: Aus dem millionenfachen Mord an den Juden soll eine Lehre für die Mitglieder der neuen israelischen Gesellschaft gezogen werden:

Doreet LeVitte Harten: " Wir waren konditioniert, wir waren konditioniert. Es war absolut klar: wir sollen keine Juden sein. Weil Juden haben die Holocaust gemacht. Juden gehen wie Schafe zur Schlacht und all das, was man uns hat beigebracht. So solle uns nicht passieren. Und so waren wir die neuen Hebräer, die Anti-Bild, die Anti-Thesa von die Juden, die ein Opfer der Holocaust ist. Wir mussten die Beweis sein, dass es gibt was anderes. Wir sind nicht Juden, wir sind Israelis, wir sind die neuen Hebräer. "

Überlebende der Shoah, die sich nach Israel gerettet haben, werden nach dem Krieg mit dem Wort savon bezeichnet, also als Seife angesprochen. Diese Zuschreibung soll daran erinnern, dass aus den Gebeinen der Toten Seife hergestellt worden ist. Die Juden, die den deutschen Lagern entkommen sind: sie treffen für ihren traumatischen Erfahrungen in dieser israelischen Gesellschaft auf keine offene Ohren. Der junge Staat Israel sieht sich von neuen Feinden umringt, man braucht neue Helden, keine Opfergeschichten.

Erst nach dem Eichmann-Prozess ab Anfang der 60er Jahre, finden ganz allmählich auch die Überlebenden Gehör. Zugleich ändert sich die israelische Gesellschaft durch neue Einwanderungswellen. Bis zur Gründung des Staates Israel war die zionistische Gesellschaft sehr europäisch geprägt.

Moshe Zimmermann: " Da muss man aber selbstverständlich unterscheiden."

Der Jerusalemer Historiker Moshe Zimmermann.

Moshe Zimmermann: " Es gab dort Osteuropäer und Mitteleuropäer. Und für die deutschen Juden, für die Mitteleuropäer, galten die Osteuropäer als, in Anführungszeichen, kulturlos. Und für die Osteuropäer galten die Mitteleuropäer als "Jeckes", die eigentlich keine echten Israelis werden können, weil sie allzu deutsch sind, oder weil sie allzu mitteleuropäisch sind."

Gerade die deutschen Juden, die "Jeckes", haben große Anpassungsschwierigkeiten. Sie sind mehrheitlich Stadt- und Bildungsbürger, Kaufleute, Unternehmer, Intellektuelle, Musiker - von Landarbeit im Kibbuz sind sie kaum zu begeistern. Das ungewohnte Klima macht vielen zu schaffen.

Auch beim Essen gibt es Umstellungsprobleme. Man greift zur Selbsthilfe und etabliert europäisch sortierte Lebensmittelläden. Die ersten Kaffeehäuser entstehen in Erez Israel, denn die europäischen Einwanderer wollen wieder wie damals, "zu Hause", in Wien, Berlin oder Paris ihren Kaffee trinken.

Die vielleicht schwierigste Hürde: Alle müssen Hebräisch lernen. Denn das höchste Gebot der Zionisten lautet: "sich einordnen". Etwas liebevoller formuliert es das Jiddische. Man soll sich "zugewöhnen". Bereits Anfang der 30er Jahren ermahnen zionistische Broschüren die deutschen Auswanderungswilligen zur richtigen Einstellung:

"Der Zionismus will in Erez Israel einen jüdischen Menschen schaffen, der in der Arbeit und in der Natur tief verwurzelt ist, der das Ziel seines Lebens und den Sinn der Arbeit nicht in einem Aufstieg über andere Menschen sieht, sondern im Werk selbst, in der Schaffenslust und in der Arbeitsfreude. "
Eine solche zionistische Ideologie stellt eine Zumutung dar für jüdische Bildungsbürger und Kaufleute. Aber welche Alternative haben sie? Sie müssen froh sein, den Nazis entkommen zu können. Für manche ist Palästina nur Zwischenstation auf dem Weg in die USA. Aber wer in Palästina bleibt und die Gründung des Staates Israel erlebt, bemüht sich, ein "guter Israeli" zu werden.

Immerhin, es gibt viele europäisch geprägte Institutionen: die Parteien, die Gewerkschaft, das Parlament. Handwerk und Industrie europäisiert sich, Sauberkeit und Hygiene gewinnen an Wert in Palästina. Und: Überall sichtbar sind die Zeichen der westlichen und deutschen Avantgarde: die Bauhaus-Architektur. Palästina wird seit den 30er Jahren von vielen jungen europäischen Architekten als ein Laboratorium der Moderne begriffen.

Doreet LeVitte Harten: " Zum Beispiel: Wie man baut ein Kibbuz? Richard Kauffmann, der kam eigentlich aus Deutschland, hat gedacht, wie ein Kibbuz, eine Form, eine utopische Siedlung soll aussehen. Und er hat das auch entwickelt. Also das war wirklich ein Laboratorium.

Versuche, die in Europa waren mehr Theorien, aber in Israel konnte realisiert sein und deswegen bis heute die größte Sammlung der Bauhaus-Häuser, die Gartenstadt-Nachbarschaft, man findet in Israel. Das ist wie ein Klein-Museum. Haifa natürlich, Rehavia, das ist ein Nachbarschaft in Jerusalem, die ganze Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, man geht in ein lebendige Museum. Bis heute, das funktioniert."

Als der Bauhaus-Architekt Erich Mendelsohn 1934 nach Palästina kommt, muss er viele Gebäude entdecken, die seinen eigenen Stil nachahmen. Der Bauboom zuvor hatte bereits versucht, die Idee von Theodor Herzl, ein Stück Europa in Asien zu etablieren, auf radikale Weise architektonisch umzusetzen. Überall dominiert das Neue Bauen - ohne Rücksicht auf vorhandene orientalische Architektur. Und unter Missachtung von Bedürfnissen und Geschmack der arabischen Juden. Das Stadtbild von Haifa oder Tel Aviv, es wirkt wie eine Show westlicher Überlegenheit.

Doreet LeVitte Harten: " Die Architektur war verstanden durch die Periskop der utopische Sicht. Das war klar, dass Bauhaus und die Gartenstadt, dass alle Formen, die Architektur und utopische Sicht sofort würde realisiert werden. Weil die Architektur war Teil von die utopische Projekt. Man muss Israel wirklich verstehen als utopische Projekt und deswegen ich nenne das Gesamtkunstwerk. Weil sonst man kann das nicht verstehen, warum in so kurzer Zeit eine ernorme Anzahl von Bauhaus-Häuser wurden gebaut."

Erich Mendelsohn versucht mit seinen Bauwerken stärker zwischen westlicher und östlicher Kultur zu vermitteln. In Jerusalem verkleidet er seine Betonkonstruktionen meisterhaft mit dem goldgelben Jerusalemer Stein. Es entstehen zahlreiche private Wohnhäuser und große, berühmt gewordene Bauwerke wie das Universitätshospital oder die Anglo-Palästina-Bank in Jerusalem oder das Regierungskrankenhaus in Haifa.

Nach sechs Jahren aber treibt es Mendelsohn weiter, in die Vereinigten Staaten. Andere Künstler hingegen kommen nach Palästina oder Israel: Musiker aus Deutschland finden Engagements und alt-neue Partner, denn etliche der jüdischen Musiker aus Palästina haben ihre Ausbildung in Berlin oder Paris absolviert.

Trotz des Hebräischen, solche Melodien schaffen Vertrautheit in der noch unbekannten neuen Heimat. Sogar die größten europäischen Musiker zeigen sich mit Palästina solidarisch: 1938 kommt Arturo Toscanini. Toscanini, der große italienische Dirigent, reist mehrmals nach Erez Israel und spielt mit dem Palestine Orchestra Werke von Rossini, Franz Schubert, Beethoven, Tschaikowski, ja sogar Akte aus Richard Wagners Oper "Lohengrin"

Dieser Programmpunkt löst im Publikum zum Teil Unmut aus, weil bekannt ist, dass der Antisemit Wagner bevorzugter Komponist von Adolf Hitler ist. Gleichwohl: die Toscanini- Konzerte sind große Erfolge, das europäische Publikum ist dankbar. Musik ist eine willkommene Abwechslung in einem Alltag, der von Kriegen und Konflikten geprägt ist. Eine deutsche Jüdin, die sich in der Wüstenstadt Beer-Sheva eine neue Existenz aufbaut, berichtet 1958:
Frau: "Also hergekommen sind wir in 1949 mit meinem Mann. Was wir vorfanden, das ist sehr schwer zu erzählen. Oder eigentlich sehr leicht: beinahe gar nichts. Es gab da im Ganzen eine Hauptstraße, keine Trottoirs selbstverständlich, wenige Bäume, Häuser, die zum Teil zerschossen waren, zerstört waren. Wir zogen zum Beispiel in ein Haus herein, das hatte sogenannte 3-Zimmer-Stufen zwischen einem und dem anderen Raum. Im dritten Zimmer gab ein riesen Loch von 2 Meter auf 3! Hab ich gefragt, wozu das da war. Hat man behauptet, das hat man als Keller benützt.

Das Dach war auch aus corridated iron, wie heißt das Deutsche? Blech. Und auf dem Dach gab es Erde, damit es vor dem Regen schützt. Das hat es selbstverständlich nicht mehr, mein ganzes Bettzeug hat Rost bekommen und was das für eine Hausfrau bedeutet, das können Sie sich vorstellen.

Licht gab es nur fürs Krankenhaus, die Polizei und für die Armee. Wir hatten eine Petroliumlampe, von der ich nicht gewusst hatte, wie man das entzündet. Wasser gab's, in dem man es geschleppt hat, neun Monate, das war sehr lustig, davon hat man Muskeln bekommen."

Reporter: "Wie viel Menschen waren ungefähr hier, als sie hierher kamen?"

Frau: "Zweihundert."

Reporter: "Und wie viele sind heute hier?"

Frau: "Vierzigtausend. " (lacht). "Es klingt ein bisschen unwahrscheinlich, in neun Jahren, aber es ist wirklich so. "

Dieses Bevölkerungswachstum sind die Auswirkungen der sogenannten ersten demographischen Revolution in Israel. Nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders nach der Staatsgründung 1948 wandern Juden aus nordafrikanischen Ländern ein, aus dem Irak, aus dem Jemen.

Moshe Zimmermann: " Und da hat sich die Gesellschaft selbstverständlich radikal verwandelt. Und diese Gesellschaft kann nicht europäisch sein. Man versuchte anfangs über eine Schmelztiegel-Politik die Gesellschaft zu integrieren und zu europäisieren. Das ist aber nicht gelungen."

Innerhalb weniger Jahre verdreifacht sich die jüdische Bevölkerung in Israel und zugleich wächst der Anteil der orientalischen Juden. Wie werden sie wahrgenommen?

Reportage von 1958: "… aus Indien und aus Polen, aus Deutschland, der Tschechoslowakei, aus Ungarn, Österreich, den USA, Spanien und Italien. Sie sind alle Israelis – und die Gegensätze spielen kaum eine Rolle. "

Der RIAS-Reporter Peter Herz. Seine euphorisch-romantische Sicht auf die junge israelische Gesellschaft teilen auch viele jüngere Liberale und Linke im Nachkriegsdeutschland:

Reporter: "Im Volkshaus geben, das 1800 Menschen fasst, die Rumänen und Ägypter eine Party mit Musik und Tanz, sie treffen sich, um sich kennen zu lernen. Sie wohnen in verschiedenen Stadtvierteln, gewissermaßen nach Landsmannschaften, damit sich die verschiedenen Sitten und Gebräuche nicht allzu stark aneinander reiben. Langsam verschwimmen die Grenzen und die Vorurteile. Die Kinder spielen und lernen in der Schule das hebräische ABC, man heiratet untereinander, arbeitet im gleichen Betrieb und spricht Hebräisch. Die nächste Generation kennt keine Unterschiede mehr. "

Die Realität sieht anders aus. Die mittlerweile fünf Kriege, die Israel und die arabischen Nachbarn gegeneinander geführt haben, geben der jüdischen Gesellschaft selten Raum für Entspannung und offenen Austausch. Es herrscht permanent das Gefühl, belagert zu sein. Eine konstruktive Begegnung zwischen Palästinensern und Israelis findet nur in großen Ausnahmen statt. Die lokale arabische Kultur wird von Israelis bestenfalls als Folklore abgetan.

Unter dem Stigma der Araber werden lange Zeit auch die Juden aus Nordafrika verhandelt. Und die Säkularisierung der Gesellschaft schreitet mit der Amerikanisierung weiter voran - trotz erbitterter Abwehr orthodoxer und ultra-orthodoxer Kreise. In Israel weiß man in der Regel früher als in Europa, was gerade in den USA angesagt ist: in der Mode, in der Musik, in der Philosophie. Nicht zuletzt haben private Sender wie MTV dazu geführt, dass auch Elemente der orientalischen Kultur aus der Underground-Nische in die kommerzielle Öffentlichkeit gelangen können:

In den 80er Jahren erreichen sogar deutsche Gruppen und Interpreten wie die "Einstürzenden Neubauten", Nina Hagen, deutscher Punkrock oder die Hits der "Neuen Deutschen Welle" die weltoffene israelische Jugend.

Moshe Zimmermann: " Also was wir im Moment haben, ist: manche werden sagen, ein Misch-Masch, andere werden sagen, eine multi-kulturelle Art von Assimilation, die drei Elemente in sich trägt, in sich assimiliert: ein europäisches Element, ein arabisches Element oder orientalisches Element und ein amerikanisches Element. Und das ist etwas, was dieser Gesellschaft ihre Besonderheit gibt."

Nach 1990 kommen die Russen aus dem zerfallenen Sowjetreich. Sie machen heute fast 20 Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung in Israel aus. Der Historiker Moshe Zimmermann zieht den Vergleich mit den ersten großen osteuropäischen Einwanderungswellen.

Moshe Zimmermann: " Die russische Sprache, die russische Kultur, die russische Vergangenheit ist seit Beginn der 90er Jahre stärker präsent in Israel. Nur ist diese russische Gemeinschaft, diese russische Kultur eine andere als in den 20er Jahren und am Ende des 19. Jahrhundert. Die ist sehr bewusst russisch, die spricht russisch, versucht sich nicht zu assimilieren, hat selbstverständlich die Erfahrung des Stalinismus hinter sich in Osteuropa und schafft somit eine neue Einstellung zu allen gesellschaftlichen Themen."

Angelika Timm: " Ich habe auch Studenten in meinen Seminaren, die in den letzten zehn Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind, wo ich mitunter durchaus höre: Na ja, wir haben geglaubt, dass wir in ein westlich geprägtes Land kommen, und dann haben wir festgestellt, Israel ist eigentlich doch sehr orientalisch. "

Die deutsche Nahost-Expertin Angelika Timm ist Gastdozentin in Jerusalem:

Angelika Timm: " Von Studenten, die aus dem orientalisch-jemenitischen Umfeld kommen, höre ich immer wieder: Israel, gerade Tel Aviv, das ist West-Europa, das ist eine Gesellschaft, die unseren Werten, unseren traditionellen Vorstellungen überhaupt nicht entspricht. "

Irritierend ist für die säkularen Russen die Religiosität in Israel, die sichtbar in den Alltag eingreift: kein Verkehr am Shabbat, die Läden bleiben geschlossen. Viele haben aber auch unerwartet große Schwierigkeiten, Arbeit zu finden und den aus der Sowjetunion gewohnten Lebensstandard zu erhalten. In Seminaren erforscht Angelika Timm mit ihren Studenten auch das deutsch-israelische Verhältnis. Eine Studentin hat Interviews mit vier Generationen ihrer Familie geführt.

Angelika Timm: " Ihr Urgroßvater ist in den 30er Jahren mit Ihrem Vater, der damals noch ein kleiner Junge war, nach Palästina eingewandert und ist dort geblieben. Was mich sehr verwundert und angerührt hat: er sprach immer noch nicht hebräisch. Das Interview - sie spricht nur hebräisch - musste mit Hilfe ihres Großvaters, der jiddisch sprach, mit dem Urgroßvater geführt werden. Und dieser Ur-Großvater sprach in ganz berührender Weise von Deutschland, von seinen deutschen Wurzeln, von der deutschen Kultur, die für ihn nach wie vor wichtig ist. Der Großvater, der als Kind nach Palästina eingewandert war, fühlt sich voll und ganz zu Hause in Israel und sagte: Deutschland, ja, wie ich immer gehört habe, ein sehr schönes Land. Aber ich würde nie hinfahren."

Der Vater der Studentin arbeitet als Manager und unterhält Beziehungen zu deutschen Firmen. Für ihn sind Reisen nach Deutschland so selbstverständlich wie nach England oder in die USA.

Angelika Timm: " Und ihr Cousin, also die vierte Generation sagt: Doch, an Deutschland fasziniert mich Mercedes, die Wirtschaftsentwicklung, Fußball finde ich auch ganz spannend. Also wenn ich studieren kann, werde ich versuchen, tatsächlich einen Studienplatz in Deutschland zu bekommen. Also hier hat sich der Kreis irgendwo geschlossen, es sind Animositäten da, es sind aber auch Bezüge da. Und das fand ich sehr spannend, gerade in dieser Geschichte einer Familie."

Doreet LeVitte Harten, 1948 in Israel geboren, lebt seit 24 Jahren in Deutschland. Die Liebe zog sie hier hin. Lange hat sie gebraucht, bis ihr Deutschland eine zweite Heimat wurde:

Doreet LeVitte Harten: " Ich sage immer zu Leuten, die sagen: Warum braucht man Israel, das ist so ... das macht so viele Probleme… Ich sage: Wir brauchen Israel genauso wie ein Deutscher braucht Deutschland und wie ein Franzose braucht Frankreich. Das brauchen wir.

Ich bin ganz kritisch gegenüber die jetzige Regierung und natürlich bin ich ganz gegen die Siedlungspolitik usw. usf. Aber eins muss ich sagen: ich würde nicht einen Tag in Deutschland sein, wenn ich hätte nicht gewusst, dass Israel existiert. Das ist meine Sicherheit, dass wenn etwas passiert, ich kann immer zurückkommen. "

Dass Politiker und Journalisten die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen gerne mit der Hoffnung auf Normalisierung beschreiben, findet sie obszön. Nach dem Mord an Millionen Juden eine Normalität zwischen Deutschen und Juden zu beschwören: das beleidige die Toten.

Doreet LeVitte Harten: " Aber Normalisierung kann stattfinden zwischen Deutschen und Israeli, weil da begegnen wir uns als Bürger zwei souveräner Länder. "

Mit der Ausstellung "Die neuen Hebräer" im Berliner Martin-Gropius-Bau macht die Kuratorin Doreet LeVitte Harten ein überzeugendes Angebot für eine solche Begegnung: eine Zeitreise voller Widersprüche und Sehnsüchte nach Frieden und Gerechtigkeit durch weit mehr als hundert Jahre Kunst und Kultur aus Palästina und Israel.

Warum aber wendet sich diese Schau israelischer Kunst ausgerechnet an Deutsche?

Doreet LeVitte Harten: " Die Deutschen, sie wollen ihre Juden zurück. Sie wollen ihre Hannah Arendt, sie wollen ihren Rosenzweig, sie wollen ihren Leo Baeck. Das kriegen sie nicht. Aber sie kriegen uns Israelis und vielleicht ist nicht so eine schlechte Sache. Und vielleicht man konnte zwischen die Israeli und die Deutsche diese wunderbare Dialog, der hat damals stattgefunden, man könnte das noch mal erneuern, und das wird von uns bessere Menschen machen, so denke ich. "
Theodor Herzl
Theodor Herzl© AP
Bau eines Kibbuz in West-Galiläa, 13.2.1949
Bau eines Kibbuz in West-Galiläa, 13.2.1949© AP Archiv
Gebäude im Bauhaus-Stil in Tel Aviv
Gebäude im Bauhaus-Stil in Tel Aviv© AP Archiv
Der Russische Präsident Wladimir Putin besucht die Jerusalemer Altstadt
Der Russische Präsident Wladimir Putin besucht die Jerusalemer Altstadt© AP