Bauboom in Istanbul

Gentrifizierung auf Türkisch

Blick auf eine Baustelle und den Bosporus im türkischen Istanbul
Blick auf eine Baustelle und den Bosporus im türkischen Istanbul © picture alliance / dpa / Friso Gentsch
Von Ceyda Nurtsch · 15.09.2015
Für große Bauvorhaben werden in Istanbul ganze Stadtviertel abgerissen, Bewohner enteignet. Die Bauindustrie soll die Türkei unter die zehn führenden Wirtschaftsnationen katapultieren. Doch gegen die Projekte regt sich Widerstand.
Der Kızılay Platz im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa am frühen Abend. Es herrscht ein reges Treiben. Menschen sitzen in den Cafés, Kinder spielen. Über den Platz geht ein Mann, den hier alle kennen: Ayhan Küçükboyacı. Aber die meisten sagen Balık Ayhan zu ihm – also Fisch-Ayhan, ein Spitzname, weil er spät, aber dann umso besser schwimmen konnte. Balık Ayhan ist 50 Jahre alt, die schwarzen Haare hat er zu einem Mittelscheitel gekämmt. Balık Ayhan ist Roma, hier geboren und aufgewachsen. Er zählt zu den bekanntesten Roma-Musikern der Türkei und setzt sich für den Erhalt seiner Kultur und des bunten Viertels ein.
Hier ein Café, dessen Chef aus Sivas am Schwarzen Meer kommt, daneben ein Frühstücksladen, der Besitzer stammt aus Akseki aus der Südtürkei, ein Laden von Bauern aus dem Umland, ein Roma-Café. Kasımpaşa ist ein Viertel der Zugewanderten. Aber nicht nur. Zu den prominenten Einheimischen gehört der Staatspräsident Tayyip Erdogan. Er stammt aus diesem Istanbuler Stadtteil und spielte auch im örtlichen Verein Fußball, bevor er seine Karriere als Politiker begann. Kasımpaşa gilt als rau und schmuddelig. Hier gibt es die "harten Kumpels", erzählt Musiker Ayhan, aber auch Brüderlichkeit. Viele Roma leben hier. Dass sich hier seit Jahren nicht viel verändert hat und Roma wie Nichtroma unbehelligt leben können, liegt auch daran, dass Kasımpaşa bislang ein Dasein im Windschatten des schillernden und traditionsreichen Stadtteils Beyoğlu führt, mit seinem Taksim-Platz und der Istiklal-Straße, der einstigen Grand Rue de Pera, nur ein paar Autominuten entfernt.
"Sie wissen, jede Stadt hat ihre Vitrine. Die Vitrine von Istanbul ist Beyoğlu. Aber diese Vitrine hat ihre verborgenen Schubladen und Kasımpaşa ist eine von ihnen."
Diese "Vitrine Istanbuls" – der Stadtteil Beyoğlu - war einer der ersten Orte, der von dem sogenannten "urbanen Transformationsprojekt" der AKP-Regierung betroffen war. Im Sommer 2013 war es so zu den sogenannten Gezi-Protesten gekommen, die als Reaktion auf ein geplantes Einkaufzentrum begannen. Das Bauvorhaben wurde vorerst auf Eis gelegt, dafür laufen viel größere Projekte auf Hochtouren. Riesige Bauvorhaben wie ein dritter Flughafen, eine weitere Brücke zwischen Europa und Asien, ein Kanal parallel zum Bosporus, ebenso wie die radikale Sanierung ganzer Viertel. Sie alle sind Teil eines gigantischen Abriss- und Erneuerungsprojekts in Kooperation zwischen öffentlicher Hand und Privatinvestoren.
Ganz Istanbul wird umgekrempelt, soll schicker und moderner werden. Mit den rund 15 Millionen Autos täglich und tausenden von Fluggästen aus aller Welt sind die bisherigen Kapazitäten erschöpft. Wie damit umgehen? Zu dieser Frage forscht und lehrt Yaşar Adanalı. Der türkische Wissenschaftler promoviert derzeit im Bereich internationale Urbanistik an der Technischen Universität Berlin. Seit Jahren beobachtet er die Stadtpolitik der AKP kritisch
"Die Menschen, die in diesen Vierteln lebten, ihre Bedürfnisse, ihre Realität, ihre Sorgen und auch die Besonderheiten des Ortes wurden ignoriert. Die gesamte Bausubstanz wurde abgerissen. Daher ist das, was unter dem Namen urbane Transformation betrieben wird, nichts anderes, als das radikale Abreißen und Neuerrichten in der Stadt."
Gemeinsam mit seiner Gruppe "Beyond Istanbul" versucht Adanalı auf wissenschaftlicher Ebene diesem Trend entgegenzuwirken. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Darmstadt macht er in themenorientierten Exkursionen Studenten auf die Veränderungen in Istanbul aufmerksam. Er spricht zum Beispiel über die ökologischen Auswirkungen der Megabauprojekte. Außerdem erstellt er mit seinem Team besondere Stadtpläne im Internet. Etwa eine Karte, die zeigt, wo Gentrifizierungs-Gegner aktiv sind.
Nur ein Ziel: Profite erwirtschaften
Eine von diesen Gegnern des rasanten Wandels in Istanbul ist die Betriebswirtin Funda Oral. Die Frau mit den kurzen schwarzen Locken sitzt in einem Park. Zehn Minuten mit der klimatisierten U-Bahn vom Taksim-Platz entfernt, im Businessviertel Levent - mit Blick auf die verglasten Fassaden der Hochhäuser. Hier arbeitet sie in einer Anwaltskanzlei und hat kurz Mittagspause.
Nach Feierabend ist Funda Oral Stadtaktivistin und setzte sich unter anderem früher ein gegen den Abriss des Roma-Viertels Sulukule, der ältesten Roma-Niederlassung der Welt. 2005 fuhren hier die ersten Bulldozer in Begleitung der Polizei ein, die Bewohner wurden zwangsumgesiedelt in das 70 Kilometer entfernte Taşoluk. Es kam zu tragischen Bildern und großem Protest.
Gemeinsam mit anderen Aktivisten gründete Funda Oral die "Plattform Sulukule" und versuchte, den Abriss des Viertels zu verhindern – vergeblich. Heute noch leitet sie das Künstleratelier für Roma Kinder.
"Das Viertel wurde mit dieser Einstellung abgerissen: Was gibt es da schon, nichts als Schande. Das sagten damals wörtlich der damalige Bürgermeister und Ministerpräsident. Abartig und eine Schande. Das konnten wir absolut nicht akzeptieren. Deswegen wollten wir den Menschen die Möglichkeit geben, sich in der Art, in der sie am stärksten sind, Gehör zu verschaffen, nämlich der Kunst."
Mit dem Abriss dieses historischen Viertels – dieser ältesten Roma-Niederlassung der Welt - verschwand ein Stück Istanbuler Geschichte und die Identität eines Volks, sagt sie. Dass im Nachhinein das türkische Verfassungsgericht den Abriss für illegal erklärte, änderte nichts. Heute leben in den neu gebauten charakterlosen, gelben Reihenhäusern vornehmlich syrische Flüchtlinge. Zur Stimme des Widerstands wurde das Musiktrio "Tahribad-ı İsyan", wörtlich "Rebellion gegen Zerstörung". Seither rappen die drei Jugendlichen gegen die Gentrifizierungspolitik an.
Heute Sulukule, morgen Okmeydanı, Balat, Tarlabaşı, Gezi-Park heißt es bei dem Rap-Trio. Trotz allem denkt die Aktivistin Funda Oral nicht, dass ihre Arbeit in den vergangenen zehn Jahren umsonst war.
"Zumindest haben wir auf die Angelegenheit der Roma aufmerksam machen können. Wir haben gezeigt, dass die Roma ein eigenes Niederlassungsmodell und eine eigene Kultur haben. Heute haben wir einen ersten Abgeordneten, der Roma ist. Natürlich gibt es immer noch Probleme, die es in unserer Zeit einfach nicht mehr geben sollte, aber jetzt wurden die Menschen zumindest darauf aufmerksam gemacht. Heute wird niemand mehr so ein Viertel als abartig beschreiben und abreißen können. Ich denke, unser Engagement hat zu diesem Umdenken beigetragen."
Die Stadterneuerungspolitik geht trotzdem weiter – unter dem Titel "urbane Transformation". Den hat die Politik bewusst wage gehalten, sagt Yaşar Adanalı – der Wissenschaftler mit dem Schwerpunkt Stadtentwicklung. In der Realität bedeutet das für ihn: Lukrative Gegenden werden transformiert, während sich in vielen anderen vernachlässigten Stadteilen einsturzgefährdete Häuser und freiliegende Stromkabel befinden. Das zeigt Yaşar Adanalı und anderen Kritikern, dass die gemeinsame Anstrengung von Politik und Bauwirtschaft nur ein Ziel verfolgt: Profite zu erwirtschaften.
"Ja, alles soll verbessert und transformiert werden. Die Stadt verändert sich ohnehin, aber die Politik und Regulierungen, die wir unter dem Namen urbane Transformation in der Praxis sehen, sind vor allem destruktiv."
Der Widerstand gegen die Umwälzungen wächst
Ein Beispiel aus der Praxis: Um das unterhalb des Taksim-Platzes liegende Gebiet Tarlabaşı zu einem Sanierungsgebiet zu machen, wurde eigens ein Gesetz erlassen, das dem Staat die Möglichkeit gibt, Eigentümer zu enteignen. Hauptakteur dabei ist die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI, die unmittelbar dem Amt des Ministerpräsidenten unterstellt ist. Das Resultat war eine Spekulationswelle. Die Häuserpreise schossen in die Höhe. Auch ohne Enteignung mussten nun viele wegziehen, weil es zu teuer geworden war. Für die Journalistin Miyase İlknur zeigt sich am Beispiel Tarlabaşı deutlich, dass es bei dem Bau- und Sanierungsboom darum geht, dass sich eine bestimmte Schicht persönlich bereichert.
"Das war bei der Auftragsvergabe für den Flughafen so, für den Hafen, für die staatlichen Sozialwohnungen. Immer steht von vornherein fest, wer den Auftrag bekommt. Tarlabaşı hat die Firma Çalık bekommen, deren Vorstandsvorsitzender der Schwiegersohn von Präsident Erdogan ist. In dessen Zeit als Bürgermeister begann der Profittransfer an islamische Unternehmen. Firmen, die davor keine internationalen Aufträge hatten, erledigen heute die Megaprojekte der Türkei."
Urbane Transformation, sagt die Journalistin, dient offiziell dazu, die Makel einer Stadt auszumerzen. Etwa die illegal gebauten Häuser in einen Bebauungsplan einzugliedern und alte, bei Erdbebeben einsturzgefährdete Häuser sicherer zu machen. Das betont auch immer wieder die AKP. Doch die Art, in der sie die Transformation vollzieht, lässt Miyase İlknur zweifeln, ob es der AKP wirklich darum geht.
"Bei einer echten urbanen Transformation müssen die Menschen an ihren Wohnorten bleiben können. Nehmen wir einmal die sogenannten 'über Nacht gebauten' illegalen Siedlungen. Ein vernünftiger Transformationsplan für diese Gegend müsste angefertigt werden und die Anwohner müssten dort wohnen bleiben können. Aber diese Art von urbaner Transformation wie sie betrieben wird, hat nichts mit Städtebau oder Planung zu tun oder damit, die ärmeren Bevölkerungsschichten vor dem Einsturz ihrer schlechtgebauten Häuser bei Erdbeben zu schützen."
Zurück im Roma-Café in Kasımpaşa: Hier gibt Künstler Balık Ayhan eine Hörprobe des für die Romamusik berühmten 8/9-Takts zum Besten. Danach spricht er wieder über Sulukule. Der Abriss dieser ältesten Roma-Siedlung sei eine Tragödie gewesen. Probleme hat es zwar gegeben, räumt er ein. Es sei dort immer unmoralischer geworden, aber das hätte man direkt vor Ort verbessern sollen.
Wie lange er und die anderen Roma hier in Kasımpaşa noch leben können, bevor auch sie umgesiedelt oder durch steigende Preise vertrieben werden, kann er nicht sagen. Doch der Widerstand gegen die Umwälzungen wächst in Istanbul: Zurzeit prüft das türkische Verwaltungsgericht einen Antrag der Architektenkammer. Die hält die geplanten Umbauten der unter Denkmalschutz stehenden Häuser in Tarlabaşı für illegal. Und die Stadtaktivistin Funda Oral ist optimistisch: Ein an gewinnorientiertes Stadtentwicklungsmodel sei nicht nachhaltig.
"Ich denke, dass Modelle, die sich auf die Vorstellungen des Kapitals und auf die Errichtung von Hotels und Cafés stützen, der Stadt keinen Gewinn bringen und daher auch nicht von Dauer sind. Denn es gibt keine Produktion. Das ist ein Modell, das vollkommen auf Verbrauch basiert. Als Betriebswirtin denke ich, dass diese Entwicklung früher oder später gegen eine Wand fahren wird."
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