Banalität des Bösen

14.08.2009
Wenn das Letzte, was einem bleibt, die eigene Haut ist, und einer zwanghaft daran herumreißt, bis sie sich in Fetzen, Streifen oder Stücken vom Körper löst, dann ist damit in der nüchternen Sprache der Medizin ein Krankheitsbild beschrieben. In der Literatur geht es weniger um medizinische Diagnosen, viel eher um Symbolgehalte. Und man erkennt schnell, dass die Hauptfigur dieses Romans, ein 72-jähriger Rentner namens Kurt Schmelz, der sich in einer Wohnung in Frankfurt am Main seine "letzte Haut" vom Leibe reißt und zugleich am Verfaulen ist, von schwierigen, inneren Prozessen zerrissen wird.
Kurt Schmelz, eine fiktive, jedoch an einer historischen Gestalt - dem Juristen Konrad Morgen - orientierte Figur, war Jahrzehnte zuvor Ermittlungsrichter bei der SS. Mit weitgehenden Vollmachten von Heinrich Himmler ausgestattet, beginnt er Ende 1943 im Konzentrationslager Buchenwald zu untersuchen, ob Kommandant Hans Koch und seine Frau Ilse ihre Positionen dazu benutzt haben, sich persönlich zu bereichern. Sehr bald stellen Schmelz und seine Mitarbeiter fest, dass dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Sehr bald auch erweist sich, dass dergleichen in anderen Konzentrationslagern ebenso gängige Praxis war und ist. Der überaus ehrgeizige Ermittlungsrichter stößt bei seinen Untersuchungen auf ein kompliziertes Geflecht gegenseitiger Loyalitäten und Abhängigkeiten, auf Macht sichernde Strukturen und hierarchische Fallstricke, mafiöse Praktiken und mörderische Komplotte. Mehrfach droht er daher mit seiner Aufgabe zu scheitern.

Dass es schließlich doch zum Prozess und zu Verurteilungen kommt, liest man als atemberaubende Illustration zum Wort von der "Banalität des Bösen" - in einer Zeit der Vernichtung und des Völkermordes war ein penibler Justizapparat in der Lage, sich um korrekte Abrechnungen zu kümmern.

Im sorgfältig recherchierten Material, das Motivationen und Funktionsweise eines autoritär-kriminellen Machtapparats bis in die höchsten Spitzen freilegt, liegt die hauptsächliche Attraktivität dieses Romans.

Die literarische Umsetzung dieses anziehenden Stoffes gelingt jedoch nicht in Gänze. Hauptfigur Kurt Schmelz bleibt ganz und gar papieren und wenig greifbar, Karrierist und justizgläubiger Idealist zugleich, kommt er als völlig unpolitische Gestalt daher. Er träumt von seinem Aufstieg in ein Ministerium (unter Hitler!), sieht das Grauen der Konzentrationslager mit eigenen Augen, aber keinerlei politische Reflexion drängt sich diesem Mann auf. Dass ein großer Teil des Geschehens doppelt erzählt wird – einmal auf der Ebene der Ermittlungen, ein zweites Mal als Prozessbericht – bläht den Roman unnötig auf. Konjunktivkonstruktionen, die wohl Distanzierungen markieren sollen, machen den Text sperrig und zuweilen schwer lesbar. Die schöne Sitte des Korrekturlesens vor der Publikation ist in diesem Fall wohl schlicht vergessen worden.

Besprochen von Gregor Ziolkowski


Volker Harry Altwasser: Letzte Haut. Roman,
480 Seiten, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2009. 22,80 Euro.