Balsam für die geschundene grüne Seele

Von Christan Gampert · 19.11.2005
So entspannt hat man Grünen-Politiker selten gesehen wie beim "Gerechtigkeitskongress" der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung. Ganz gelöst kann man seinen Träumen von der gesellschaftlichen Umverteilung und der bestmöglichen Bildung für alle nachhängen, obwohl man in der Regierung soeben noch das Gegenteil beförderte.
Rezzo Schlauch redete suggestiv davon, dass man mit Gerechtigkeit Wahlen gewinne, und Renate Künast forderte den Fachhochschulabschluß für Kindergärtnerinnen. Aber ob die dann noch in den Kindergarten wollen?

Die familiäre Stimmung zum 25. Gründungs-Jubiläum der Böll-Stiftung wirkte allerdings ein wenig schal, denn der vorgesehene konservative Antagonist, der Bremer Historiker Paul Nolte, war zum Kongreß gar nicht erschienen. Nolte, Autor der Artikel-Sammlung "Generation Reform", hatte immer wieder die "fürsorgliche Vernachlässigung" der unteren Schichten durch den Sozialstaat beklagt und für mehr Eigenverantwortung plädiert. Das ist den parteinahen grünen Intellektuellen natürlich zu neoliberal – aber da der Gegner fehlte, tummelten sich die meisten auf der Wiese der Weltverbesserung und suchte die Differenzen im Detail.

Einzig der Hauptredner des Kongresses, der Frankfurter Philosoph und Habermas-Schüler Rainer Forst, bot eine systematische Reflexion des Gerechtigkeits-Problems. Im Anschluss an John Rawls verstand er gesellschaftliche Gerechtigkeit als umfassenden Rechtfertigungszusammenhang, in dem nicht nur alle chancengleichen Zugang zu Bildung, Arbeit und politischen Ämtern haben, sondern, wenn schon Differenzen bestünden, man sich an den Bedürfnissen der Schwächsten orientiere. Nicht die Unterschichten müssten sich für ihre Defizite entschuldigen, sondern die Gesamtgesellschaft stehe unter Rechtfertigungsdruck für die Lage der Benachteiligten.

Das Prinzip der "Durchlässigkeit" der Gesellschaft sei in der Bundesrepublik nicht erfüllt. Forst stellte vielmehr – nach Lektüre des letzten "Armutsberichts" der Bundesregierung – eine "Re-Feudalisierung" fest: die Bessergestellten und Reichen werden noch reicher, die Armen bleiben arm. Dass dies unter grüner Regierungsbeteiligung geschah, sagte er nicht.

Forst warnte allerdings vor dem paternalistischen Staat, der kompensatorisch-barmherzig den Schwachen helfe. Philosophisch gerecht seien ökonomische Strukturen, die Ungleichheit systematisch ausschlössen. Naturgemäß blieb unklar, wie die zu schaffen seien. Forst plädierte für "Produktionsmittel in den Händen aller", meinte damit aber nicht ein marxistisches, sondern ein marktwirtschaftliches Modell.

Er warnte auch vor einer Aufsplitterung des Gerechtigkeits-Begriffs in zu viele "Teilgerechtigkeiten" – etwa in Arbeits-, Kultur-, Geschlechter- und Generationengerechtigkeit. Wer letztere fordere, verkenne, dass es weniger eine Kluft zwischen Jung und Alt als vielmehr Ungerechtigkeit innerhalb einer Generation gebe: die Kinder der Reichen erben den Reichtum, die Armen die Armut.

Das führte in der Diskussion dann zu der sehr grünen, aber auch sehr absurden Forderung einer Erbschaftssteuer von hundert Prozent. Forst und der Giessener Philosoph Stefan Gosepath formulierten das gut kantianisch etwas allgemeiner – die Grundfrage sei, was Menschen innerhalb einer Gemeinschaft einander schulden. Aber ist diese Gemeinschaft nun nationalstaatlich oder global? In grüner Perspektive ist der gute Mensch natürlich für die ganze Welt verantwortlich und muss tugendhafte supranationale Institutionen schaffen.

Ralf Fücks vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung sang sodann das Hohelied des Investivlohns, also möglichst viele Arbeitnehmer als Besitzer von Aktien – was, wenn man das weiterdenkt, wahrscheinlich dazu führt, dass der Arbeiter als globalisierter Kapitaleigner sich irgendwann selbst entlässt. Fücks fand auch kein Wort der Kritik am aktuellen Vandalismus französisch-arabischer Jugendlicher, sondern sprach vom "Drama der Vorstädte", an dem der Arbeitsmarkt schuld sei. Wenn es denn so einfach wäre...

In diesem grünen Illusionsraum diskutierte man munter vor sich hin, mit ziemlich unreflektierten rousseauschen anthropologischen Vorannahmen und sichtbar froh, nichts von all den hochtrabenden Ideen verwirklichen zu müssen im bösen weltweiten Konkurrenzkapitalismus, mit dem sich jetzt die große Koalition herumschlagen muss. Allein der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge störte die alternative Ruhe, indem er der gerade abgewählten rot-grünen Regierung eine neoliberale Sozialpolitik vorwarf.

Wenn dieser Kongress eine Botschaft hat, dann die von der umfassenden Impotenz der Politik, nicht nur der grünen Politik, vor der dominanten Wirtschaft. So ein bisschen Philosophie ist Balsam für die geschundene grüne Seele. Allerdings sei daran erinnert: Es ist eine Philosophie, die es sich gerade in der Opposition gemütlich macht.