Ballettunterricht im Armenviertel

Von Michaela Schlagenwerth · 19.07.2007
Mit furiosen Tanzspektakeln hat sich die brasilianische Choreografin Deborah Colker einen Namen gemacht. Sie mischt Ballett mit HipHop, modernen Tanz mit Artistik und schickt ihre Tänzer gern in gewaltige Bühnenbilder. Jetzt gastiert sie in Köln und Berlin.
Deborah Colker: "Ich erinnere mich, als ich 1995 in Brasilien "Velox" machte, war das ein gewaltiger Erfolg. Aber viele Leute sagten: Mal sehen, was danach noch kommt. Und ich habe Rota gemacht. Und Rota, das war wie Poesie."

Deborah Colker, 46 Jahre alt, zählt zu den bekanntesten Choreografinnen Brasiliens. Mit "Rota" gelingt ihr vor zehn Jahren der internationale Durchbruch. Erstmals findet sie in diesem Stück zu ihrer eigenen, äußerst speziellen Mixtur aus Kunst und Kommerz, aus U- und E-Kultur. Sie mischt Mozart mit den Chemical Brothers, Richard Strauss mit Tangerine Dream, klassisches Ballett mit modernem Tanz und wilder Artistik. Statt sich nach oben zur großen Kunst hin zu strecken, holt sie die Kunst einfach zu sich herunter. Oder vielmehr: Sie dreht sie durch ein hölzernes Riesenrad. Ein eben solches, ein recht gewaltiges Exemplar, zu dem Colker durch einen Rummelplatzbesuch inspiriert wurde, steht in "Rota" auf der Bühne.

Es dreht und dreht und dreht sich, und die Tänzer versuchen sich in, auf und unter diesem Rad zu behaupten. Das Stück, jetzt wieder aufgenommen, ist wie Deborah Colker selbst. Geballte, verrückte, sich in alle Richtungen verschießende Energie.

"Meine Inspiration ist so, sie rennt durch meinen Kopf."

Deborah Colker ist schmal, blond, blass und eher klein. Von weitem könnte man glauben, es mit einer unauffälligen Person zu tun zu haben. Tatsächlich ist aber an Deborah Colker gar nichts schlicht, außer ihrer dunklen Jeans und ihrem dunklen Pullover. Sie selbst verströmt eine quecksilbrige Lebendigkeit, die selbst dann wirkt, wenn sie still sitzt und nicht spricht. Deborah Colker kommt aus der brasilianischen Mittelschicht, ihr Vater ist Dirigent. Sie selbst hat als Jugendliche einige Klavierkonzerte gegeben, später Psychologie studiert und nebenbei professionell Volleyball gespielt. Das Studium hat sie abgeschlossen, aber dann ist sie doch lieber Tänzerin geworden, obwohl der Tanzunterricht lange nur ein kleines Hobby nebenbei war. Heute ist Deborah Colker nicht nur eine bekannte Choreografin, sie betreibt auch ein eigenes Tanzzentrum in Rio de Janeiro.

"Ich habe jetzt seit zwei Jahren eine Schule, zusammen mit meiner Compagnie, ein Tanzzentrum mit unterschiedlichsten Tanzaktivitäten – mit modernem Tanz, Ballett, HipHop, Jazz, Pilates, Yoga, all diese Dinge. Wir haben 400 Studenten und ein soziales Projekt auf das ich sehr stolz bin, es ist mein Geschenk an die Stadt. Die Schule ist in Glória, das ist ein hartes Viertel, denn es ist kein sehr reiches Viertel."

Brasilien gilt als ein Land, in dem sich alles mit allem vermischt. Die Kulturen, die Herkunftsgeschichten, die Ethnien. Auch die Brasilianer selbst sehen das gerne so. Aber von den Armen setzt sich die brasilianische Gesellschaft - in der die Vermögen so ungerecht verteilt sind wie sonst fast nirgendwo auf der Welt - trennscharf ab. Eine Tanzschule in einem Armenviertel zu gründen, das ist automatisch ein Akt sozialen Engagements.

"Warum muss alles in der südlichen Zone sein, in Ipanema, in Copacabana. Andere Menschen reden viel über die Probleme in Rio, darüber, was man gegen die Gewalt tun kann. Ich denke, eine Schule in einem armen Viertel von Rio zu gründen, ist ein Weg."

Der Grund, sich in Glória niederzulassen war für Deborah Colker zunächst ein ganz pragmatischer. Sie träumte von einer eigenen Tanzschule und einem Probenort für ihre Compagnie, in der sie in ihren gewaltigen Bühnenbildern arbeiten kann. Denn nicht nur in "Rota" gibt es dieses riesige Rad. In "Casa", einem der nachfolgenden Stücke, ist es gleich ein mehrstöckiges Haus, durch das die Tänzer turnen. Ein Gebäude, in dem derlei untergebracht werden kann, war in anderen Stadtteilen unbezahlbar.

"Rio ist sehr teuer und soviel Geld habe ich nicht. All mein Geld, all der große Erfolg den ich mit meinen Stücken hatte, hab ich in dieses Haus gesteckt."

Jetzt bringen die Mittelklasse-Eltern ihre Kinder zum Ballettunterricht ins Armenviertel. Das Label Deborah Colker wirkt in Brasilien stärker als die überkommenen Ressentiments. Auch Kinder aus Glória nehmen an den Klassen teil. Deborah Colker ist von der Wahl ihres Standortes längst restlos begeistert. Sie war schon immer gern in unterschiedlichen Welten unterwegs. Und auch in ihrem persönlichen Leben verbindet sie mittlerweile das scheinbar Unmögliche miteinander.

"Ich selbst habe Jahre lang versucht die Dinge in meiner Familie auseinander zu halten, die Söhne, meinen Exmann, meinen jetzigen Mann, den Direktor, die Company. Aber dann gab es einen Moment in dem ich gesagt habe, das ist unmöglich, okay, lasst uns einfach alle zusammen sein."

Diese Lust, alles mit allem zusammenzubringen und zu schauen, was sich daraus an Neuem entwickelt, pulsiert auch durch die Stücke von Deborah Colker. Acht große Tanzspektakel hat sie in den vergangenen dreizehn Jahren heraus gebracht, fulminante Shows, in denen sie sich jedes Mal in neuen, extremen Raumsituationen ausprobiert. Neue Räume sind ihr Faible, ihre Herausforderung und ihre Inspiration.