Ballett mit Bauer

Von Thomas Jaedicke · 16.11.2013
Manchmal spielt er wochenlang nicht, aber wenn er spielt, dann vergisst er alles um sich herum: Dirk Paulsen ist Schachspieler und nimmt gelegentlich an Blitzschachturnieren im Berliner Bezirk Schöneberg teil. Doch auch wenn er an diesem Abend gewinnt - den Preis nimmt ein anderer mit nach Hause.
Klack! Die Uhr tickt. Überlegen, ziehen. Klack! Schon ist der Gegner wieder am Zug.

Schachblitzturnier im Bingosaal eines Nachbarschaftsheims in Berlin-Schöneberg. Jeder gegen jeden, bei maximal fünf Minuten Bedenkzeit pro Spieler und Partie.

Gegen Ende, wenn die Zeit knapp wird, fliegen die Hände in einer seltsamen Choreographie übers Brett. Ein merkwürdiges Ballett, inszeniert von großer Zeitnot. Wie Scheren kreuzen sich die Arme der Spieler, wenn sie vom Brett zur Uhr und von der Uhr zurück zum Brett schwingen.

Trotz der Hektik fällt keine Figur. Nervös rucken Körper auf den Stühlen hin und her. Köpfe nicken in schnellem Takt, Füße scharren. Kiebitze, dicht an den Tischen lauernd, recken Hälse.

Nur Dirk Paulsen scheint die Ruhe selbst. Das Kinn auf den von einer Hand umfassten Hals der Bierflasche gestützt, taxiert er das Brett. Dann schnellt die freie Hand hoch, ergreift blitzartig den weißen Springer, wirft ihn auf das Feld e5. Matt! Zwei Sekunden vor Ablauf der Zeit! Wahnsinn!

"Siegerehrung des wunderschönen Spaßblitzturniers heute: Beeindruckende Leistung von Dirk Paulsen, erster Platz mit 14:0 Punkten!"
"Sehr stark gespielt...
Bauer… h5 und ich hab gedacht, Du schlägst auf f…."
"So kam das zustande, tut mir leid. Stark gespielt…."

Dirk Paulsen, 54, ist Stammgast beim Blitzturnier im Nachbarschaftsheim. Jeden Mittwochabend wird in dem grauen 70er-Jahre-Zweck-Betonbau Ecke Bülow-/Frobenstraße gezockt. Draußen warten Nutten vom Drogenstrich wie immer auf Freier. Drinnen, im schummrig beleuchteten Saal, wo sonst Senioren tanzen, steht Paulsen jetzt in seinem knallgelben Hemd. Er hält sich ein bisschen am Rand. Das dunkle, schon etwas schüttere Haar ein bisschen verschwitzt, die Bierflasche lässig in der Hand wiegend, nimmt Paulsen Glückwünsche zum Turniersieg entgegen.

"Darf ich Sie kurz was fragen? Sie haben heute gewonnen hier?"
"Ja, ja."
"Hat das so ein Suchtpotenzial auch?"
"Auf jeden Fall!"
"Kann man sich da auch total drin verlieren?"
"Ja, ja….doch….Verlieren?....Würde ich für mich bestätigen, dass man eben diese Chance hat, in ´ne vollkommen andere Welt sich zu begeben, weil das is ja ´nen abgeschlossenes… System irgendwo, wo alles so aufgeht im Prinzip, ja."

Organisiert wird der Abend, der für jedermann offen ist und kein Startgeld kostet, von den "Schachfreunden Berlin", einem von zwei Berliner Bundesligaklubs. Einige der weltbesten Spieler, wie Magnus Carlsen oder die Nummer zwei der Weltrangliste, der Armenier Lewon Aronjan, haben schon in der Bundesliga und auch hier in diesem kargen Schöneberger Mehrzwecksaal gespielt. Woche für Woche bringen viele Schachspieler in ganz Deutschland Topleistungen, aber kaum jemand außerhalb dieses eingeschworenen Zirkels nimmt das zur Kenntnis. Keine Chance gegen König Fußball. Auch heute Abend waren wieder einige Bundesliga-Spieler dabei, gespielt aber wurde aus Spaß und um eine Flasche Wein im Bocksbeutel.

"Schach ist halt ein schönes Hobby. Und so weiter… Und die ganz wenigen, die es vielleicht schaffen können…es ist halt Quatsch, darauf zu hoffen."

Dirk Paulsen hat früher auch Bundesliga gespielt. Das war in den 80er Jahren für Bochum und Lasker Steglitz. Er wollte Profi werden, hat den Traum aber damals schnell wieder begraben. Hat sich stattdessen irgendwann mit einer Softwarefirma selbstständig gemacht. Nur die absoluten Stars, wie der exzentrische Amerikaner Bobby Fischer, konnten schon vor Jahrzehnten vom Schach leben.

"Also, die absoluten Topspieler auf der Welt… im Moment ist ja eher der Trend, dass sie eigentlich so ein bisschen wieder zur Normalität…. also, eher so normale Leute. Also, so die wirklich sich auch toll ausdrücken können. Einfach wissen, was sie tun. Und halt nicht verrückt…Iwantschuk oder Schirow, die sind halt… denn auch ein bisschen… schrääääg, ja….."
"Spleenig?"
"Ja, genau! Aber das heißt nicht, dass sie unsympathisch sind oder von daher auch nicht unbeliebt oder so… Weiß man denn, die sind so ein bisschen… und mag man denn auch irgendwie. Aber wenn es jetzt alle wären, wäre es ein bisschen zu viel vielleicht."

Immer noch etwas abseits stehend und mit einem frischen Bier bewaffnet, schaut Dirk Paulsen jetzt in den Raum, scheu, den Blick irgendwie nach innen gerichtet, als würde er immer noch über einer komplizierten Stellung brüten. Er hat heute gewonnen, den Wein nimmt trotzdem ein Anderer mit nach Hause. Nach den Blitzturnier-Regeln der Schachfreunde können auch Verlierer gewinnen. Der Sieger nimmt zwar mit fünf Losen an der Verlosung der Wein-Trophäe teil, aber der Zweitplatzierte bleibt immerhin mit drei Losen im Rennen. Die anderen Teilnehmer erhalten auch jeweils noch ein Los. Beim Schach gehen die Uhren eben anders.

Um kurz nach zehn ist der Abend im Nachbarschaftsheim vorbei. Schachfiguren und Spielbretter werden eingesammelt, die kleinen Tische wieder auseinandergerückt. Die meisten anderen Spieler sind schon weg. Nur Dirk Paulsen hat noch nicht mal die Jacke an. Manchmal spielt er wochenlang gar kein Schach. Aber dann geht es plötzlich wieder los.

"Und wie ist das für Sie? Ist das wie so ein Tunnel, wo Sie dann reinkommen? Und nehmen Sie dann noch andere Sachen wahr?"
"Wenn ich dann spiele,… dann wirklich. Also ich sag´s zu meinen Kindern immer, wenn ich mal….dann sage ich Julia, meine Tochter, Du weißt, ich geb irgendwelche Antworten, ich weiß aber nicht, was ich sage, ja. Dann musst Du das nachher nochmal fragen. Sie weiß das dann schon."