Balanceakt zwischen Selbstsorge und Sorge für andere

Rezensiert von Kim Kindermann · 07.03.2006
Elternschaft hat sich verändert, das liegt vor allem an den neuen Möglichkeiten in der Fortpflanzungsmedizin. Zugleich stellen sich neue Fragen: Was etwa soll mit den nicht eingepflanzten, aber bereits befruchteten Eizellen geschehen? Muss ich das Kind bereits im Vorfeld vor Krankheit schützen? Die Medizinethikerin Claudia Wiesemann gibt in ihrem Buch "Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen" überzeugende Antworten.
Kinder können heute in einer Petrischale gezeugt werden. Befruchtete Eizellen ebenso wie Spermien können tief gefroren über Jahrzehnte aufbewahrt werden. Und wer schließlich schwanger ist, sieht sich seit der Einführung der Pränataldiagnostik zu Beginn der 70er Jahre einer ganzen Reihe möglicher genetischer Frühuntersuchungen ausgesetzt.

Ging es dabei anfangs um die Identifizierung von Föten mit einer Trisomie 21 (Down-Syndrom), ist es heute möglich - auch wenn es in Deutschland in vielen Detailbereichen noch verboten ist - gezielt Auskunft über die genetische "Ausstattung" eines Embryos zu machen. So kann man nicht nur erfahren, welches Geschlecht oder welche Augenfarbe das zukünftige Kind haben wird, sondern auch genaueste Angaben über seine genetischen Anlagen in Bezug auf seltene Erbkrankheiten machen. Und das wiederum ermöglicht - wie im letzten Jahr in England geschehen - ein Kind mit besonderen Eigenschaften bewusst zu zeugen, um ein bereits behindert geborenes Geschwisterkind zu retten. In diesem Fall benötigte die Familie für ihr zweijähriges Kind eine Knochenmarksspende, die ihm mangels eines lebenden Spenders jetzt von seinem extra für diesen Zweck gezeugten Geschwisterchen zur Verfügung gestellt wird.

Es sind Fälle wie diese, die die Medizinethikerin Christine Wiesemann in ihrem wissenschaftlich hoch anspruchsvollen Buch diskutiert. In ihrer "Ethik der Elternschaft", wie das Buch im Untertitel heißt, macht sie dabei deutlich: Elternschaft hat sich angesichts der medizinischen Möglichkeiten verändert. Schon vor der Geburt, so die These der Autorin, wird Elternschaft begründet und die Beziehung zum Kind etabliert.

Das fängt bereits bei der freien Entscheidung einer Frau an, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden und reicht bis hin zu der Frage, was kann und darf ich meinem zukünftigen Kind zumuten? Muss ich es nicht, wenn ich es kann, bereits im Vorfeld vor Krankheit schützen? Sprich: Wenn ich durch eine genetische Frühuntersuchung weiß, dass meine Tochter später einmal Brustkrebs erkranken könnte, darf ich sie überhaupt zur Welt bringen? Und wenn doch, verstoße ich damit nicht gegen die Fürsorgepflicht, die doch die oberste Elternpflicht ist?

Die Antwort auf solche Fragen macht sich die Autorin nicht leicht. Ausführlich beleuchtet sie zunächst die ethische Diskussion der vergangen Jahrzehnte, erklärt die verschiedenen Positionen um die Frage, ob ein Embryo einen abgestuften oder unbeschränkten Lebensschutzes bedarf, um dann allerdings zu ihrem eigenen Schluss zu kommen: "Gezeigt werden soll, wie sich der Blick auf die Probleme verändert, erst wenn nicht mehr nur länger mehr (vermeintliche) Individuen, sondern Menschen in Beziehung im Mittelpunkt der ethischen Betrachtung stehen."

Anders als bisher üblich plädiert Christine Wiesemann damit für die Betrachtung von Embryo und Mutter als Einheit, deren wesentliche Charakteristika seelische, körperliche und biographische Verbundenheit seien. Die bislang stetig diskutierte Betrachtung des Embryos als isoliertes Individuum sei ein Zerrbild, so Wiesemann, das dem realen Leben nicht gerecht wird.

Erst wenn das werdende Kind in der Verbundenheit zur Mutter betrachtet wird, können ethische Fragestellungen in der Schwangerschaft und bei der künstlichen Befruchtung letztendlich beantwortet werden.

Anhand dieses sehr liberalen Standpunktes arbeitet sich Christine Wiesemann schließlich durch ihr 215-seitiges Buch, das wirklich jeden möglichen Aspekt von Elternschaft beleuchtet. Angefangen von der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs wird daher neben der natürlichen, die Zeugung im Reagenzglas genauso behandelt wie die Leihmutterschaft und die Adoption. Und genau diese Vielschichtigkeit macht Christine Wiesemanns Buch so lesenswert:

Denn jeder, wirklich jeder, findet hier Anregungen, Anleitung und Antworten auf dringende Fragen. Dabei erhebt Christine Wiesemann nie den moralischen Zeigefinger, vielmehr ist sie in ihrer Argumentation immer wirklichkeitsnah. Und so verwundert es auch wenig, dass sie am Ende ihres gelungenen Buches, zu dem überaus versöhnlichen und vor allem auch überzeugenden Schluss kommt, dass Elternschaft immer einen Balanceakt zwischen Selbstsorge und Sorge für andere bedeute. Und dazu gehört eben nicht nur Verantwortung zu übernehmen, sondern in manchen Fällen auch, Verantwortung ablehnen zu müssen.


"Wir sind Menschen, die von Menschen stammen. Wir haben unsere Identität in der Beziehung zu anderen erworben. Wir sind in den Kontext einer Verantwortung gestellt, die uns unser Leben lang begleitet."

Claudia Wiesemann, Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen.
Eine Ethik der Schwangerschaft. C.H.Beck Verlag, München 2006, 215 Seiten