Das philosophische Bestiarium

Die Spinne – Wiedergänger des Teufels?

Eine Spinne in ihrem Netz
Die Spinne gilt als raffinierte Täuscherin, die ihre Opfer in ihr Netz lockt. © Nora Haakh
Von Florian Werner  · 29.07.2018
Die Eigenschaften, die Spinnentiere so bedrohlich machen, sind stets ähnlich: Sie bewegen sich nachts und auf lautlosen Beinen. Sie sind raffinierte Täuscher. Florian Werner empfiehlt eine spinnwebfeine philosophische Diskussion mit ihnen.
Die Ordnung der Webspinnen hat im westlichen Kulturkreis einen bemerkenswert schlechten Ruf. Im Song "Lullaby" der Gruppe The Cure etwa kommt ein Spinnenmännchen angekrabbelt, um den Sänger im Schlaf auszusaugen. Und im populären englischen Kinderreim "The Spider and the Fly" aus dem neunzehnten Jahrhundert bemüht sich eine Spinne, eine arglose Fliege mit verführerischen Worten in ihr Netz zu locken.
Die Eigenschaften, die die Spinnentiere so bedrohlich machen, sind dabei stets ähnlich: Sie bewegen sich nachts und auf lautlosen Beinen. Sie sind raffinierte Täuscher. Und: Sie versuchen, ihre Opfer erst mit klebrigen Diskursfäden einzuwickeln, um sie dann innerlich zu töten. Anders gesagt: Es handelt sich bei den Spinnen um achtbeinige Wiedergänger des Teufels.

Theologische Erweckungspredigt

Bisweilen stehen die Gliederfüßer aber auch für den verworfenen, vom Teufel seelisch angezapften Menschen. In der berühmten Erweckungspredigt "Sünder in den Händen eines zornigen Gottes" des amerikanischen Theologen Jonathan Edwards zum Beispiel werden die Zuhörer mit einer Spinne verglichen, die von göttlicher Hand über ein offenes Feuer gehalten wird.
"Jene Welt des Jammers, der See aus brennendem Schwefel ist auch unter dir ausgebreitet. Sieh den schrecklichen Abgrund mit den glühenden Flammen des göttlichen Zorns! Du hast nichts Sicheres unter deinen Füssen, nichts, das dich halten könnte; zwischen dir und der Hölle ist nichts als Luft; nur die Kraft Gottes und sein Wille können dich schützen."
Das Gefühl der Geworfenheit, das Edwards hier beschreibt, dürfte auch säkularen Menschen vertraut sein. Schließlich zeichnet sich das moderne Subjekt gerade dadurch aus, dass es keinen festen Boden mehr unter den Füßen hat; keine letztgültige Gewissheit. Ganz gleich, ob es von einer überirdischen Macht gestoßen wurde oder aus freien Stücken gesprungen ist.

Zielloses Spinnen-Dasein

"Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß nicht. Wenn eine Spinne sich von einem festen Punkte aus in ihre Konsequenzen hinabstürzt, da sieht sie vor sich beständig einen leeren Raum, in welchem sie nirgends Fuß findet, wie sehr sie auch zappeln mag. Geradeso geht es mir", so der dänische Philosoph Sören Kierkegaard in seiner Schrift "Entweder-Oder". Auch hier erscheint das Spinnen-Dasein ziellos, kontingent. Ausgerechnet die größte Stärke der Webspinnen blendet Kierkegaard - wie Edwards hundert Jahre vor ihm - konsequent aus: die Fähigkeit, einen Faden zu spinnen. Die Spinne mag nämlich den Abgrund unter sich haben - aber sie weiß sich dabei stets gehalten vom Sekret, das aus ihrem Hinterleib quillt; von einem Sprungtuch, das sie selbst geknüpft hat.
Vielleicht ist es also Zeit für eine Neubewertung der Spinne. Vielleicht ist sie weder eine Inkarnation des Widersachers noch ein verzweifelt in sein Dasein geworfener Mensch - sondern ein wahrhaft autonomes Subjekt, das sich immer wieder furchtlos ins Neue stürzt. Die Webspinne ist das einzig lebende Wesen, das aus seinem Hinterleib eine sinnstiftende Substanz ausscheidet; das einzige mit körpereigener Rettungsleine. Mag eine Gottheit oder das Schicksal auch wüten, wie es will - die Spinne zieht sich mit eigener Kraft aus dem Feuer.
Wenn uns demnächst also wieder einmal nachts der Spinnenmann erscheint, sollten wir nicht schreiend erwachen. Sondern ihn lieber in eine spinnwebfeine philosophische Diskussion verwickeln.
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